Innerhalb weniger Wochen kam es in Deutschland zu einer Wende von der Schuldenbremse zu einer gigantischen Verschuldung. Damit soll der marode Standort Deutschland konkurrenzfähig und kriegstüchtig gemacht werden. Die Notwendigkeit der Militarisierung erscheint so plausibel, dass es nicht einmal zu einer Debatte über halbwegs realistische Bedrohungsszenarien kommt. Als ‚Begründung‘ reicht: „Der Russe steht vor der Tür“ (Jens Spahn). Wer Zweifler sucht, muss gar bei Habermas Zuflucht nehmen. „Statt des fahnenschwenkenden Kriegsgeschreis … wäre … ein realistisches Nachdenken über die Risiken eines längeren Krieges am Platz gewesen“[1], schreibt er im Rückblick auf den Beginn von Russlands Angriff auf die Ukraine. Die Kirchen verhalten sich mal wieder eher konformistisch. Sie sollen – so mahnt ein Moraltheologe – die Politik unterstützen[2]. Als ob es dazu noch Ermahnungen bedürfe. Aus der Linken sind Warnungen vor imperialistischen Orientierungen zu vernehmen: „Ein eigener europäischer Weltmachtanspruch wäre ein fataler Irrweg“[3].
Ausgeblendet bleibt die Frage nach Krieg und Kapitalismus. Gegen die Sehnsucht nach einer ‚heilen Welt‘ kapitalistischer Normalität kommt Kapitalismuskritik scheinbar nicht an. Sie wäre aber nötiger denn je – allerdings nicht als Regression im Rahmen einer ‚ewigen Wiederkehr‘ von Beschwörungen des Klassenkampfes oder von Personalisierungen, die Halt darin suchen, dass sich entgegen der Analysen abstrakter Herrschaft doch Herrschende als zentrale Akteure ausmachen lassen[4]. „Ein realistisches Nachdenken“ hätte zur Kenntnis zu nehmen, dass die Krisen nicht auf Herrschende – weder auf ihre Profitgier noch auf ihr Versagen – zurückzuführen sind. Auch geht es nicht um imperiale Ausweitung nationaler oder in Blöcken zusammengeschlossener Macht, sondern um Ausgrenzungs- und Sicherheitsimperialismus. Die „Weltordnungskriege“ (Robert Kurz[5]) der vergangen Jahrzehnte waren eine sicherheitsimperialistische Reaktion auf in der Krise des Kapitalismus zerfallende Staaten und deren Übergang in eine Verwilderung, in der Banden, Terrorgruppen und Restbestände staatlicher Akteure um Zerfallsmassen, nicht zuletzt um Zugang zu Rohstoffen, noch funktionierenden Produktionsstätten und Rest-Märkten kämpfen. Die ‚Weltordnungskriege‘ sollten Ordnung schaffen und so die Funktionsfähigkeit des globalen Kapitalismus sichern. Das ist krachend gescheitert, wofür der chaotische Abzug aus Afghanistan ein beredtes Zeugnis ist. Der Ausgrenzungsimperialismus zielt auf Migrant*innen, die als Bedrohung der Wohlstandswelten angesehen werden. Angesichts des Zwangs, Wert- und Mehrwert–schaffende Arbeit durch Technologie zu ersetzen, stößt auch die kapitalistische Wohlstands-Normalität auf Grenzen der Finanzierbarkeit. Nach innen Sozialabbau und nach außen repressive Sicherung der Grenzen vor Fliehenden ist die Antwort der Krisenverwaltung. Sie entspricht der kapitalistischen Logik, Menschen in verwertbares und überflüssiges Menschenmaterial zu selektieren.
Mit Russlands Angriff auf die Ukraine kommt Krieg auch wieder nach Europa[6]. Hier zeigt sich, dass auch die ehemaligen Großmächte in die ökonomischen und politischen Zerfallsprozesse einbezogen sind. Bereits der Zusammenbruch der Sowjetunion und ihres Imperiums war nicht der Zusammenbruch einer Systemalternative, sondern der Kollaps der etatistischen Variante der Warenproduktion[7]. Nach dem Scheitern von Russlands Versuch, die Krise neoliberal zu bewältigen, kommt es unter Putin zu einer national-autoritären Wende, mit der Kontrolle angesichts des Zerfalls zurückgewonnen werden soll. Bereits als Zweiter Bürgermeister und Vorsitzender des Komitees für Außenbeziehungen von Sankt Petersburg hatte Putin vor deutschen Wirtschaftsvertretern deutlich gemacht, dass er eine Militärdiktatur nach chilenischem Vorbild à la Pinochet für eine angemessene Antwort auf Russlands Probleme halte. Freundlicher Beifall war die Antwort von Vertretern deutscher Wirtschaft wie auch des anwesenden deutschen Generalkonsuls[8]. Im Westen wurde Putins Autoritarismus erst da zum Problem, wo Russlands national orientierte Wirtschaftspolitik in Konkurrenz zu westlichen Interessen geriet. Die USA konnten ihren ökonomischen Zerfall zunächst durch ihre militärische Stärke und den daran gebundenen Dollar als Weltgeld kompensieren. Die Konjunktur konnte über Defizitkreisläufe stabilisiert werden, die es möglich machten, die exorbitante Verschuldung im Rahmen einer Finanzblasenökonomie aufrecht zu erhalten. Immer wieder neue Finanzkrisen signalisieren das Ende der Defizitkreisläufe. Auch Chinas Wirtschaft steckt in der Krise wie nicht zuletzt das Entgleisen des Hegemonialprojekts Seidenstraße deutlich macht[9]. Die neoliberale Phase, die Akkumulationskrise des Kapitals durch globale Schuldentürme und entsprechende Spekulationsblasen zu kompensieren, kommt an ihr Ende.
Aus den Krisen kann sich jedoch keine neue hegemoniale Führungsmacht mehr herauskristallisieren, weil keine neue Phase der Akkumulation von Kapital in Sicht ist, die Grundlage dafür sein könnte. Die USA steigen ab, aber nicht einmal China ist in der Lage, die Rolle einer neuen Hegemonialmacht wie einst die USA zu übernehmen. Ökonomischer Abstieg geht einher mit dem Verlust politischer Handlungsfähigkeit nach innen wie nach außen. Dennoch wird um Dominanz gekämpft. Immer schneller wechseln Zweckbündnisse und taktisches Stillhalten. Auch die Großmächte befinden sich in einem irrationalen Konkurrenzkampf um Selbstbehauptung inmitten des Zerfalls.
Perspektivlosigkeit macht ihr Agieren autoritärer, unberechenbarer, irrationaler und gefährlicher. Damit geht gesellschaftlich der Ausfall der Reflexion auf die gesellschaftliche Totalität der kapitalistischen Verhältnisse und ihrer Krise einher. Falsche Unmittelbarkeit als deren Kehrseite spiegelt sich in Personalisierungen. Zum zentralen Problem wird dann Putins Machtbesessenheit. Seit Trump werden die ökonomischen und politischen Zerfallsprozesse der USA auf den Wahnsinn eines irre agierenden narzisstischen Präsidenten projiziert. Europa flüchtet sich in die heile Welt der Demokratie und halluziniert sich als Bastion zur Verteidigung von Freiheit und Menschenrechten. Nicht zur Kenntnis genommen wird, dass real die Freiheit der Zahlungsfähigen verteidigt werden soll und das nicht ‚freiheitlich‘, sondern umso autoritärer, repressiver, ressentimentsgeladener und irrationaler je mehr die Krisenprozesse außer Kontrolle geraten.
Militarisierung als irrational-unmittelbare Antwort wird sich nicht auf Rüstung beschränken. Auch die Heimatfront muss kriegstüchtig gemacht werden. Absehbar ist, dass Verschuldung die Krisen verschärfen wird. Die sich verschärfenden Krisenprozesse, von denen vor allem Ökologie und soziale Sicherheit sowie die Politik als regulierende Ebene betroffen sind, könnten Wege zu so etwas wie einer Kriegswirtschaft bahnen. Inmitten der in den Krisen wachsenden Unsicherheiten wird auch der Druck größer, den Zugang zu Ressourcen zu sichern und dafür zu sorgen, dass wenigstens eine sozialdarwinistische Reproduktion möglich ist. Was bleibt, könnte eine Gemengelage von autoritärem Regime und Anomie sein – analog zu dem, was in den Zerfallsregionen des Globus vor sich geht. In all dem lauert das Potential irrationaler Selbstvernichtung – evtl. auch europäisch überhöht als höchstem Ausdruck der Verteidigung von Freiheit und Demokratie – in einer Situation, in der der irrationale kapitalistische Selbstzweck, Kapital um seiner selbst willen zu vermehren, auf absolute Grenzen stößt.
Die zentrale Herausforderung der Linken besteht darin, sich von einer Realpolitik zu lösen, an der tendenziell nichts real und alles illusionär ist. Sie müsste das gesellschaftliche Ganze in den Blick nehmen, um von hier aus die sozialen Zumutungen ebenso wie Ressentiments gegen Migrant*innen und Schwache sowie Ignoranz vor allem gegenüber den ökologischen Krisen zu kritisieren. Aus dieser Perspektive wären Militarisierung und Propagierung der Kriegsfähigkeit offensiv entgegenzutreten und denjenigen entschieden zu widersprechen, die Loblieder auf soldatisches Heldentum anstimmen und die Bereitschaft zum Heldentod im Rahmen einer Verantwortungsethik zu höchster ‚Bürgerpflicht‘ werden lassen. Besonders zynisch agieren ehemalige Kriegsdienstverweigerer, die verkünden, sie würden unter heutigen Bedingungen keinen Kriegsdienst verweigern. Solche Vorbilder, die keinen Marschbefehl mehr zu befürchten haben, schicken umstandslos andere in den Heldentod. Nur im Ausgriff auf das Ganze kapitalistischer Vergesellschaftung als abstrakter Herrschaft lässt sich erkennen, welch gefährlich-irrationales Potential mit der Militarisierung verbunden ist und dass Emanzipation nur zu haben ist, wenn mit der kapitalistischen Form der Gesellschaft gebrochen wird und auf dieser Grundlage Prozesse der Transformation vorangetrieben werden. Dies beinhalte als erstes ein reflektierendes Innehalten statt andauerndem Kriegsgeschrei.
Herbert Böttcher
Der Text ist zuerst (etwas modifiziert) erschienen in: micha.links 1/2025.
Anmerkungen:
[1] Jürgen Habermas, Ein Appell für Europa. Gastbeitrag in der Süddeutschen Zeitung, 21.3.2025.
[2] So der Moraltheologe Jochen Sautermeister im Kölner Stadt-Anzeiger vom 10.3.2025.
[3] Jan von Aken, zitiert nach Kölner Stadt-Anzeiger vom 10.3.2025.
[4] Vgl. dazu platt: Yossi Bartal, Warum es richtig ist, Kapitalismuskritik zu personifizieren, in: neues deutschland vom 20.3.2025, und etwas elaborierter: Alex Demirović, Macht der Mächtigen oder anonyme Herrschaft? Zur Konstitution des Ökonomischen, in: Jochen Bung et al. (Hrsg.), Ökonomie als Gesellschaftstheorie, Baden-Baden 2024, 119-153.
[5] Vgl. Weltordnungskrieg. Das Ende der Souveränität und die Wandlungen des Imperialismus im Zeitalter der Globalisierung, Erweiterte Neuausgabe, Springe 2021.
[6] So jedenfalls die öffentliche Wahrnehmung. ‚Übersehen‘ werden dabei zumeist die – teils als Friedensmission der NATO deklarierten – Jugoslawien-Kriege der 1990er Jahre.
[7] Vgl. Robert Kurz, Der Kollaps der Modernisierung. Vom Zusammenbruch des Kasernensozialismus zur Krise der Weltökonomie, Leipzig 1991.
[8] Vgl. https://www.rf-news.de/2022/kw09/1993-putin-nahm-sich-pinochet-als-vorbild; auch unter spiegel.de zu finden: https://www.spiegel.de/geschichte/wladimir-putin-und-seine-fruehe-sympathie-fuer-diktatoren-und-monarchen-a-ab015f28-a87a-4a6d-ade5-447cf254afd3.
[9] Vgl. Tomasz Konicz, China: Mehrfachkrise statt Hegemonie. Wieso die staatskapitalistische Volksrepublik nicht in der Lage sein wird, die USA als Hegemonialmacht zu beerben, in: Netztelegramm. Informationen des Ökumenischen Netzes Rhein-Mosel-Saar, Oktober 2022, 1-7, 1; auch online: https://www.oekumenisches-netz.de/wp-content/uploads/2022/10/nt-2022-2-druckversion.pdf.