Liebe Freundinnen und Freunde des Ökumenischen Netzes,
wenn ein solcher Brief kommt, dürfte vielen klar sein: Es handelt sich um einen ‚Bettelbrief‘. Aber auch der soll mit einer guten Nachricht beginnen. Wir sind in diesem Jahr – nicht zuletzt dank großzügiger Spenden und verschiedener Projektzuschüsse – gut über die finanziellen Runden gekommen. Das wird im kommenden Jahr anders sein. Bereits zu Beginn des Jahres werden die Rücklagen aufgebraucht sein, weshalb wir schon jetzt um Spenden bitten. Die institutionellen Förderungen brechen ein: Brot für die Welt, katholische Verbände und evangelische Kirchenkreise unterstützen uns insgesamt deutlich weniger als in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten. Mit jedem Jahr mussten wir mehr auf Spenden zurückgreifen, da Projektzuschüsse zwar weiter beantragt werden, aber bei dezidiert kapitalismuskritischen Tätigkeiten ebenfalls nicht immer einfach zu bekommen sind. Daher bitten wir für das kommende Jahr wieder darum, unsere Aktivitäten durch Spenden zu unterstützen. Wichtig bleibt die Mitgliedschaft (35 EUR für Einzelmitglieder, 125 EUR für Gruppen/Organisationen). Sie schafft ‚Planungssicherheit‘.
Das Ökumenische Netz ist kein institutioneller Selbstzweck. Wenn wir um Spenden bitten und um Mitglieder werben, geht es uns zentral um die Unterstützung der Inhalte, für die das Netz steht, und um eine Praxis, in der diese Inhalte gesellschaftlich zur Geltung gebracht werden können. Unser Nachdenken und unsere kritischen Interventionen haben sich an den gesellschaftlichen Krisen orientiert, unter denen Menschen zu leiden haben und die darauf hinauslaufen, global die Grundlagen des Lebens zu zerstören.
Aktuell brennt uns der sich nach dem Massaker der Hamas ausbreitende Antisemitismus unter den Nägeln. Er zielte auf die Vernichtung Israels und aller Juden. Insofern steht er in Kontinuität zum eliminatorischen Antisemitismus. Bei dem Massaker ging es nicht primär darum, möglichst viele Jüdinnen und Juden zu töten, sondern dies auf besonders grausame und sadistische Weise zu tun – und das als gefilmte und veröffentlichte Inszenierung. Seine zynische Botschaft ist: Nirgendwo sollen Jüdinnen und Juden mehr sicher sein können – auch nicht in Israel, jenem Staat, der als Rettungsprojekt gegen die Vernichtung der Juden gegründet wurde. Gleichsam als „Jude unter den Staaten“ wird Israel zum bevorzugten Ort antisemitischer Agitation. Dass nicht wenige ‚Linke‘ die Hamas und ihren eliminatorischen Antisemitismus als Teil eines Kampfes um Befreiung feiern können und sich nur mühsam und pflichtschuldig von dem Massaker distanzieren, um dann über das sattsam routinierte ‚Ja, aber‘ und eine Kontextualisierung, die den Kontext Israels als Rettungsprojekt konsequent ausblendet, zum ‚Eigentlichen‘, d.h. zur Kritik an Israel überzugehen, ist kaum zu ertragen und verlangt entschiedenen Widerspruch. Frieden im sog. Nahen Osten wird es nicht geben, solange Banden wie Hamas und Hisbollah die Palästinenser*innen beherrschen und die Vernichtung der Juden als Ziel haben.
In unseren Stellungnahmen, in Veröffentlichungen und Referaten haben wir deutlich zu machen versucht, dass Antisemitismus und Kapitalismus nicht zu trennen sind. Darin folgen wir Einsichten aus der Kritischen Theorie. So hat Max Horkheimer sich bereits 1939 gegen die Kritik am Faschismus wie sie von deutschen Auswanderern geäußert wurde, formuliert: „Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen.“ In der Dialektik der Aufklärung haben Adorno und Horkheimer den Antisemitismus als projektive Krisenverarbeitung inmitten einer vom kapitalistischen Wahn getriebenen Gesellschaft reflektiert. In der gegenwärtigen Eskalation des Antisemitismus und seiner Fokussierung auf Israel sind wir der Sichtweise von Robert Kurz gefolgt, der Israel von seinem Doppelcharakter als Rettungsprojekt von Verfolgung und Vernichtung bedrohter Juden und zugleich als kapitalistischen Staat verstanden hat, der wie andere kapitalistische Staaten auch all den Prozessen sozio-ökonomischen und staatlichen Zerfalls ausgesetzt ist. Im Unterschied zu anderen Staaten jedoch ist Israel von Feinden umgeben und kann nicht auf projektiven Antisemitismus als Krisenverarbeitung zurückgreifen. Vor diesem Hintergrund ist Israels rechte Regierung samt Siedlungspolitik, antiarabischem Rassismus und nationalistisch-ultraorthdoxer Orientierung zu kritisieren und zu fragen, inwieweit sich rationale Sicherheitsstrategien zur Verteidigung Israels als Rettungsprojekt gegen Verfolgung und Auslöschung aller Juden mit Irrationalismen ultra-orthodoxer Heilsversprechen mischen, die mit enormem Leid von Palästinenser*innen einhergeht – mit und ohne Krieg. Mit seinen identitären Ausrichtungen unterscheidet sich Israel nicht von rechts-identitären Orientierungen in anderen kapitalistischen Staaten, vor allem nicht von jenen im globalen Norden, die ihre rechts-identitären Ideologien gegenwärtig gegen Geflüchtete durchsetzen und von dem Wahn geleitet sind, dadurch ließe sich Kontrolle über den zerfallenden Kapitalismus herstellen.
Wer vom Kapitalismus nicht reden will, hat schon verloren. So ließe sich Horkheimers Diktum aktualisieren. Freilich müsste – und das ist wesentlich – der Kapitalismus so verstanden werden, dass er das Ganze der gesellschaftlichen Verhältnisse formt, also Kapital und Arbeit, Wirtschaft und Politik, Subjekt und Gesellschaft, Wert und Abspaltung. Der mit ihm verbundene gesellschaftliche Wahn ist damit verbunden, dass er das Ganze der Vergesellschaftung auf den irrationalen Zweck ausrichtet, Geld/Kapital um seiner selbst willen zu vermehren, während die weiblich konnotierte Reproduktion des Lebens minderbewertet und abgespalten wird. Diese Fetischisierung bzw. Vergötzung ist als Ganzes zu kritisieren und kann nicht auf einzelne Akteure reduziert werden – seien es Kapitalisten und Arbeiter, Herrschende und Beherrschte oder strukturell verkürzt auf raffendes und schaffendes Kapital. Solche Konkretisierungen sind nicht zufällig Einfallstore für manifesten und strukturellen Antisemitismus.
„Das Ganze“ in den Blick zu nehmen und soziale Ungleichheit und andere, vor allem ökologische Zerstörungsprozesse, im Blick auf „das Ganze“, d.h. die gesellschaftliche Totalität der kapitalistischen Fetischveranstaltung zu kritisieren, gehört seit Jahren zur Grundorientierung des Netzes. Wie wichtig dies ist, zeigt sich in den gegenwärtigen antisemitischen, identitären und rassistischen Zuspitzungen des Krisenverlaufs und zugleich in dem irrational menschenfeindlichen Handeln der politischen Akteure. Solch ‚falsche Unmittelbarkeit‘, d.h. ein allein auf Phänomene und Personalisierung ausgerichtetes Handeln zeigt sich auch im Aktionismus von sozialen Bewegungen und Nicht-Regierungsorganisationen – besonders in einer zumeist auf die Finanzsphäre verkürzten Kapitalismuskritik. Dies ist strukturell anfällig dafür, gesellschaftliche Probleme auf Einzelne und Gruppen zu ‚konkretisieren‘ und im um sich greifenden Antisemitismus ‚den Juden’ und den ‚jüdischen Staat‘ als Kern aller Probleme zu sehen.
Uns wäre es lieber, wir hätten mit unserem Insistieren auf einer Reflexion des Ganzen und der damit verbundenen theoretischen Anstrengung unrecht und es ginge einfacher. Der Krisenverlauf widerlegt solche Wünsche. Daher bleiben wir dabei, das, was Menschen in den Krisen zu erleiden haben, im Zusammenhang des Ganzen des Kapitalismus zu kritisieren, der auf Grenzen stößt, die er immanent vielleicht unter vielen Opfern noch einmal strecken, aber nicht überwinden kann. Wir tun dies bewusst als Menschen, die in der jüdisch-christlichen Tradition verwurzelt sind. Von ihr können wir lernen Gott und Götzen, Leben und Tod, Befreiung und Vernichtung zu unterscheiden. Zusammen mit der kritischen Analyse der heute herrschenden Verhältnisse können wir sie als Kritik und Einspruch gegen die tötende und tödliche Immanenz der kapitalistischen Fetischisierung zur Geltung bringen.
Wir wissen, dass wir dabei nicht auf ungeteilte Gegenliebe stoßen, auch und vielleicht vor allem nicht mit unserer Sicht des Antisemitismus. Dennoch bitten wir dringend und herzlich um Spenden für unsere Aktivitäten. Da es dabei nicht abstrakt um die Existenz des Netzes, sondern um das Netz in der angedeuteten inhaltlichen Ausrichtung geht, sagen wir offen, um was es uns geht: Wenn solche Inhalte nicht finanziert werden können, braucht es auch kein Ökumenisches Netz mehr.
Für den geschäftsführenden Vorstand: Barbara Bernhof-Bentley, Herbert Böttcher und Brigitte Weber