Text aus neuem Netztelegramm: Krisenverwaltung im Wandel der Zeiten

Im Oktober wird das Netztelegramm als kleine Zeitschrift erscheinen. Drei der ca. ein Dutzend Texte werden vorab online gestellt. Der erste Text – von Tomasz Konicz – skizziert den Wandel der Krisenverwaltung während der letzten gut 45 Jahre.

Krisenverwaltung im Wandel der Zeiten

Das Ende der neoliberalen Globalisierung verschafft neo-faschistischer Krisenverwaltung Auftrieb – gerade beim ehemaligen „Exportweltmeister“

Es wäre falsch, in schlechter altmarxistischer Tradition eine einseitige kausale Zwangsläufigkeit zwischen der Entwicklung der ökonomischen Basis und des politisch-ideologischen Überbaus zu postulieren. Die ökonomische Entwicklung, die Entfaltung der inneren Widersprüche des Kapitals, determiniert nicht einseitig das politische System. Es gibt hierbei eindeutig Wechselwirkungen, sowie verschiedene Optionen, die den kapitalistischen Funktionseliten beim Reagieren auf die Krisenfolgen offen stehen. Hierbei – und dies ist entscheidend – kann der weitere Krisenverlauf von der Politik tatsächlich beeinflusst werden, auch wenn sie selbstverständlich nicht in der Lage ist, die Systemkrise binnenkapitalistisch zu überwinden. Vieles von dem, was die Politik in Reaktion auf Krisenschübe an Notmaßnahmen diskutiert, kann von Regierungen oder Regimes unterschiedlichster politischer Ausrichtung implementiert werden. Dies wird gerade anhand der schweren Krisenphase der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts evident, wo Protektionismus, Arbeitsprogramme und Etatismus von solch unterschiedlichen Staaten wie den USA Roosevelts und Nazi-Deutschland verfolgt worden sind.

Dennoch macht die Krise in ihrer neuen Phase, die spätestens mit der Pandemie und dem Inflationsschub einsetzte, eine faschistische Option zumindest gangbar, gerade in Ländern mit entsprechenden „Traditionen“. Der grundlegende Umbruch im Krisenprozess und dessen Widerspruchsbearbeitung wurde durch den pandemiebedingten Krisenschub initiiert. Schon der Ukraine-Krieg stellt faktisch eine Reaktion auf diese neue Krisenphase dar, die der neoliberalen Globalisierung ein Ende bereitet – und die durch Stagflation, Deglobalisierung, Protektionismus, aktive Industriepolitik, Nearshoring und vertikale Integration geprägt ist.

Schon die vier Jahrzehnte des Neoliberalismus – von den 1980ern bis rund 2020 – stellten faktisch eine Krisenreaktion dar, mit der der innere Widerspruch des Kapitals prolongiert wurde. Dieser Grundwiderspruch der kapitalistischen Produktionsweise entfaltet sich folgendermaßen: Die produktive Lohnarbeit bildet die Substanz des Kapitals, doch zugleich ist der Prozess der Kapitalverwertung bemüht, durch konkurrenzbedingte Rationalisierungsmaßnahmen die Lohnarbeit aus dem Produktionsprozess zu verdrängen.

Marx hat für diesen autodestruktiven Prozess die geniale Bezeichnung des „prozessierenden Widerspruchs“ eingeführt. Dieser Widerspruch kapitalistischer Warenproduktion, bei dem das Kapital mit der Lohnarbeit seine eigene Substanz durch konkurrenzvermittelte Rationalisierungsschübe minimiert, ist nur im „Prozessieren“, in fortlaufender Expansion und Weiterentwicklung neuer Verwertungsfelder der Warenproduktion aufrechtzuerhalten. Derselbe wissenschaftlich-technische Fortschritt, der zum Abschmelzen der Masse verausgabter Lohnarbeit in etablierten Industriezweigen führt, ließ auch neue Industriezweige oder Fertigungsmethoden entstehen.

Hieraus resultiert gerade der industrielle Strukturwandel – die Fähigkeit des Kapitals, sich immer wieder „neu zu erfinden“ -, auf den die bürgerliche Kapitalismusapologetik so stolz ist. Seit dem Beginn der Industrialisierung im 18. Jahrhundert ist die kapitalistische Wirtschaftsweise von einem Strukturwandel gekennzeichnet, bei dem die Textilbranche, die Schwerindustrie, die Chemiebranche, die Elektroindustrie und zuletzt der fordistische Fahrzeugbau als Leitsektoren dienten, die massenhaft Lohnarbeit verwerteten. Mit dem Aufkommen der Automatisierung und der IT-Revolution scheiterte der industrielle Strukturwandel ab den 1970er und 1980er Jahren. Diese neuen Technologien schufen weitaus weniger Arbeitsplätze, als durch deren gesamtwirtschaftliche Anwendung wegrationalisiert wurden. Die Produktivkräfte sprengen somit „die Fesseln der Produktionsverhältnisse“ (Marx) und das Kapital stößt an eine „innere Schranke“ (Robert Kurz) seiner Entwicklungsfähigkeit.

Die „Rettung“ des Kapitalismus durch den Neoliberalismus

Das Erreichen seiner inneren Schranke durch das Kapital als prozessierendem Widerspruch manifestierte sich ganz konkret in der Krisenperiode der Stagfaltion, die dem Nachkriegsboom folgte, da kein neuer industrieller Leitsektor mit massenhafter Verwertung von Lohnarbeit mehr erschlossen werden konnte. Die späten 1970er und frühen 80er waren durch ein anämisches Wirtschaftswachstum, häufige Rezessionen, die rasch anschwellende Massenarbeitslosigkeit und eine mitunter zweistellige Teuerungsrate geprägt. Diese Stagflation der 70er – ein aus den Wörtern Stagnation und Inflation geformtes Schachtelwort – bildete historisch betrachtet gerade die Krisenperiode, die gewissermaßen dem Neoliberalismus den Weg ebnete, da Keynesianische Krisenstrategien versagten.

Neben der Zerschlagung oder Entmachtung der Arbeiterbewegung (Großbritannien, USA), was zu einem langfristig stagnierenden Lohnniveau in den USA führte, reagierte der Neoliberalismus auf die Krise mit einer „Entsicherung“ des Kapitalismus, mit einer Flucht nach vorn, bei der die Märkte – insbesondere der Finanzsektor – dereguliert wurden. Um nicht an seinen inneren Widersprüchen zu kollabieren, verließ faktisch der Kapitalismus während der neoliberalen Wende der achtziger Jahre den Boden der Arbeitskraftverwertung, um sich in die luftigen Höhen einer finanzmarktdominierten Wirtschaftsstruktur zu begeben. Auf das Scheitern des industriellen Strukturwandels reagierte das System mit der Etablierung des Finanzsystems als „Leitsektor“.

Kapitalverwertung wurde somit im Neoliberalismus in zunehmendem Ausmaß auf den Finanzmärkten simuliert. Da innerhalb der Finanzsphäre dauerhaft keine reelle Kapitalverwertung betrieben werden kann, wurde das Wachstum in den vier neoliberalen Jahrzehnten im Endeffekt durch einen historisch einmaligen Boom der wichtigsten Ware befeuert, die der Finanzsektor anzubieten hat: des Kredits. Das kapitalistische Weltsystem läuft somit auf Pump, auf dem durch Kreditvergabe immer weiter in die Zukunft verlegten Vorgriffs künftiger Verwertung. Der Kredit generiert die Nachfrage, die eine an ihrer Produktivität erstickende kapitalistische Warenproduktion überhaupt noch aufrechterhält. Dies lässt sich ganz konkret anhand der globalen Verschuldung nachvollziehen, die im neoliberalen Zeitalter sehr viel schneller anstieg als die Weltwirtschaftsleistung: von rund 120 Prozent in den 1970ern auf 238 Prozent 2022.[1]

Der zentrale Mechanismus, der die zunehmende finanzmarktgenerierte Verschuldung in reales Wirtschaftswachstum transformierte, war die Spekulationsblase. Das System prozessierte somit seit den 1980er Jahren im zunehmenden Ausmaß auf der „heißen“ Luft immer wieder aufsteigender und sich abwechselnder Spekulationsblasen: von der Dot-Com-Blase zur Jahrtausendwende, als das aufkommende Internet zur einer wilden, 2000 platzenden Spekulation mit Hightechaktien führte, über die Immobilienblase in Europa und den USA, bis zu der großen, durch Notenbanken aufrechterhaltenen Liquiditätsblase, der erst die Inflation 2020 ein Ende bereitete. Sobald eine Blase platzt, drohte der Absturz, der durch das Aufkommen einer neuen Spekulationsbonanza verhindert wurde. Mensch könnte hier von einem regelrechten Blasentransfer sprechen, bei dem all die finanz- und geldpolitischen Maßnahmen, die zur Bekämpfung der Folgen einer geplatzten Spekulationsdynamik aufgewendet werden, dazu beitragen, die Grundlagen einer neuen Blasenbildung zu schaffen. Letztendlich kann die kapitalistische Finanzpolitik das Spekulationsfeuer nur mit Benzin löschen.

Das Ende des Neoliberalismus

Dies war aber kein linearer, sondern ein dynamischer Prozess. Die Kosten und Aufwendungen zur Stabilisierung des Weltfinanzsystems stiegen mit dem Platzen einer jeden Blase immer stärker an, bis sie in der Inflationsphase der Geldpolitik jenseits der USA mit ihrer Weltleitwährung keine andere Wahl ließ, als die expansive Geldpolitik einzustellen, die Grundlage des Finanzmarktbooms war. Die kapitalistische Krisenpolitik hat ihren finanzmarktgetriebenen, neoliberalen Gaul tot geritten, auf dem sie über vier Jahrzehnte vor der inneren Schranke des Kapitals zu fliehen versuchte. Der neoliberale Aufschub scheint sich seinem Ende zuzuneigen, und die über Jahrzehnte vergessene Stagflation kehrt auf einer weitaus höheren Stufenleiter zurück. Denn der wichtigste Unterschied zwischen der heutigen Teuerungswelle und der historischen Phase der Stagflation besteht vor allem darin, dass eine Hochzinsphase, wie sie der Fed-Chef Volcker ab 1979 einleitete, angesichts der instabilen Finanzsphäre keinen Ausweg mehr bietet.

Mit dem Ende der globalen Defizitkonjunktur wurden auch die globalen Defizitkreisläufe geschädigt, die faktisch die Grundlage der neoliberalen Globalisierung bildeten. Nicht alle Volkswirtschaften verschuldeten sich im neoliberalen Zeitalter gleichermaßen, exportorientierte Standorte konnten ihre Produktionsüberschüsse in Defizitländer im Rahmen besagter Kreisläufe exportieren. Der größte, nämlich der pazifische Defizitkreislauf zwischen den Vereinigten Staaten und China war dadurch gekennzeichnet, dass die zur Werkstatt der Welt aufsteigende Volksrepublik gigantische Warenmengen über den Pazifik in die sich deindustrialisierenden USA exportierte und somit enorme Handelsüberschüsse ausbildete, während in die Gegenrichtung ein Finanzmarktstrom von Schuldverschreibungen der Vereinigten Staaten floss, sodass China eine Zeit lang zum größten Auslandsgläubiger Washingtons aufstieg. Ein ähnlicher, kleinerer Defizitkreislauf bildete sich in der Periode von der Euroeinführung bis zur Eurokrise zwischen der BRD und der südlichen Peripherie der Eurozone aus.

Die Globalisierung war somit nicht nur durch den Aufbau globaler Lieferketten geprägt, sie bestand auch aus einer korrespondierenden, durch Defizitkreisläufe realisierten Globalisierung der Verschuldungsdynamik, die, wie erwähnt, in den vergangenen Dekaden schneller anstieg als die Weltwirtschaftsleistung – und folglich als ein wichtiger Konjunkturmotor durch Generierung kreditfinanzierter Nachfrage fungierte. Die Globalisierung, die diese gigantischen globalen Ungleichgewichte hervorbrachte, war eine Systemreaktion, eine Flucht nach vorn vor den zunehmenden inneren Widersprüchen der kapitalistischen Produktionsweise, die an ihrer eigenen Produktivitätsentfaltung erstickt.

Rückkehr des Protektionismus

Was sich nun global entfaltet, konnte anhand der Eurokrise in Ansätzen studiert werden: Solange die Schuldenberge wachsen und die Finanzmarktblasen im Aufstieg begriffen sind, scheinen alle beteiligten Staaten von diesem Wachstum auf Pump zu profitieren. Doch sobald die Blasen platzen, setzt der Kampf darum ein, wer die Krisenkosten zu tragen hat. In Europa hat bekanntlich Berlin die Krise genutzt, um die Krisenkosten in Gestalt der berüchtigten Schäuble’schen Spardiktate auf Südeuropa abzuwälzen. Nun steht auf globaler Ebene der Zusammenbruch der viel größeren schuldenfinanzierten Defizitkonjunktur an, die zuletzt vor allem durch die expansive Geldpolitik der Notenbanken am Leben erhalten wurde. Der zunehmende Nationalismus und Neo-Faschismus, die akute Weltkriegsgefahr: sie sind Ausdruck eben dieses Krisenprozesses. Somit kann durchaus eine Analogie zum Vorfaschismus der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts gesehen werden, als der Fallout der 1929 ausgebrochenen Weltwirtschaftskrise durch rasch anziehenden Protektionismus verschlimmert wurde.

Womit wir beim deutschen Elend angelangt wären. Mit der Erosion der Globalisierung scheitert somit auch die langfristige, von der Bundesrepublik seit der Euroeinführung verfolgte Wirtschaftsstrategie der strikten Exportausrichtung, deren volkswirtschaftliches „Geschäftsmodell“ auf der Erzielung möglichst hoher Handelsüberschüsse im Rahmen der besagten Defizitkreisläufe beruhte. Mit dieser sogenannten Beggar-thy-Neighbor-Politik („Bring deinen Nachbarn an den Bettelstab“) werden Schulden, Deindustrialisierung und Arbeitslosigkeit in die Zielländer der Ausfuhrüberschüsse exportiert. Nachdem Berlin die europäischen Krisenstaaten mittels drakonischer Austeritätspolitik ruiniert hatte, richtete sich diese Exportstrategie auf das außereuropäische Ausland – etwa die USA.[2]

Doch gerät diese exportfixierte Strategie zunehmend in Konflikt mit den protektionistischen Tendenzen in Washington, wo die Biden-Administration den auf Reindustrialisierung abzielenden Wirtschaftsnationalismus Trumps faktisch fortführt. Washington ist – gerade aufgrund der zunehmenden innenpolitischen Instabilität – nicht mehr bereit, weiterhin die hohen Handelsdefizite hinzunehmen, die das hyperproduktive Weltsystem während der neoliberalen Globalisierung stabilisierten – und die durch den Dollar als Weltleitwährung ermöglicht wurden. Die „Financial Times“ beschrieb schon Mitte 2023 diesen wirtschaftspolitischen Strategiewechsel Washingtons, der von der Trump-Administration eingeleitet und von Biden weiter forciert wurde. Im Kern handelt es sich um eine protektionistische Abkehr von der Globalisierung. Mittels einer „Außenpolitik für die Mittelklasse“ wollte das Weiße Haus der „Aushöhlung der Industriebasis“, dem Aufkommen „geopolitischer Rivalen“ und der zunehmenden, demokratiegefährdenden „Ungleichheit“ entgegenwirken.[3]

Sichtbarer Ausdruck der voll einsetzenden Deglobalisierung ist das sogenannte Nearshoring, bei dem die USA bestrebt sind, ihre ökonomische Abhängigkeit von der chinesischen Exportindustrie durch den Aufbau industrieller Kapazitäten in Mexiko zu ersetzen. Zudem droht deutschen Autozulieferbetrieben weiterhin der Ausschluss aus den US-Produktionsketten aufgrund von Bestimmungen des US-Subventionsprogramms „Inflation Reduction Act“. Ein substanzielles Entgegenkommen Washingtons ist auch unwahrscheinlich, da der Protektionismus zu funktionieren scheint. Gerade deutsche Unternehmen investieren verstärkt in den USA, um von den Subventionen Washingtons zu profitieren. Es findet faktisch eine ökonomische Entkopplung zwischen den USA und der EU statt, bei der Washington ökonomisch davonzieht, während vor allem die Europäer die Krisenfolgen zu tragen haben.

Gefahr der „autoritären Revolte“

Berlin verbrachte somit das 21. Jahrhundert damit, die Bundesrepublik – und ab 2010 im Gefolge der Eurokrise die Eurozone – auf ein exportfixiertes Wirtschaftsmodell auszurichten, das auf die Erzielung von Handelsüberschüssen in der globalisierten Weltwirtschaft des neoliberalen Zeitalters abzielte. Mit der einsetzenden Deglobalisierung findet sich der ehemalige Exportüberschussweltmeister in einer wirtschaftspolitischen Sackgasse wieder, die mittelfristig nicht nur die politische Stabilität der Bundesrepublik, sondern den politischen Fortbestand der Eurozone infrage stellt. Und es ist eben diese Rückkehr des Protektionismus, die der Neuen Rechten zusätzlichen Auftrieb verschafft. Die gute Exportkonjunktur fungierte gewissermaßen als ein zivilisatorischer Sicherungsmechanismus in Deutschland mit seiner furchtbaren autoritär-faschistischen Tradition, da sie ein handfestes ökonomisches Argument gegen Nationalismus lieferte. Deutschland war ja „Globalisierungsgewinner“.

Doch es ist eben die deutsche Exportindustrie, die sich aktuell in einem Abschwung befindet, der eigentlich nur den Anfang vom Ende des exportfixierten deutschen Wirtschaftsmodells bildet. Der starke Rückgang der Exporte 2023 hat wesentlich zur schlechten Konjunkturentwicklung in der Bundesrepublik beigetragen, wobei auch in den kommenden Jahren kaum Besserung zu erwarten ist. Das bedeutet aber auch, dass die fetten, durch Exportüberschüsse ermöglichten Jahre für die Bundesrepublik unweigerlich zu Ende gehen. Das machtpolitische Gewicht der deutschen Exportindustrie wird somit zu einer Zeit abnehmen, in der erstmals seit langem auch Deutschland in eine lang anhaltende Krisenphase eintreten wird, von der abermals die Neue Rechte zu profitieren droht.

Dabei waren es gerade die Funktionäre der Groß- und Exportindustrie, die immer wieder gegen die Neue Rechte Stellung bezogen. Die AfD und die dumpfen Nazis wurden als ein Image-Problem verstanden, das die Marke „Made in Germany“ bei ihrem globalen Erfolgszug schädigte. Der BDI (Bundesverband der Deutschen Industrie) und Spitzenmanager wie Siemens-Chef Joe Kaeser konnten sich auf tatsächliche ökonomische Interessen berufen bei ihren Argumenten gegen Rechts. Diejenige Kapitalfraktion, die am entschiedensten gegen eine AfD-Regierungsbeteiligung opponiert, ist folglich die deutsche Groß- und Exportindustrie, die derzeit krisenbedingt an Einfluss verliert. Die reaktionäre Avantgarde innerhalb der Funktionseliten, die sehr früh mit der AfD wie auch der Querfront paktierte, bilden hingegen die Kleinunternehmer und Mittelständler, wie es etwa anhand der Verbindungen zwischen dem Verband der „Familienunternehmer“ und der AfD sichtbar wurde. Auf den Binnenmarkt fokussierte Kapitalisten („Müller Milch“) scheinen ebenfalls eher geneigt, rechtsextreme Optionen zu erwägen.

Dabei ist die AfD schon zweitstärkste Kraft auf Bundesebene. Wie dünn das zivilisatorische Eis in der Bundesrepublik inzwischen ist, wird allein an dem Umstand deutlich, dass der Aufstieg der AfD in einer Phase relativer ökonomischer Prosperität erfolgte; er wurde von der deutschen Krisenangst angefeuert, nicht von einem tatsächlichen Krisenausbruch, wie ihn etwa Südeuropa während der Eurokrise durchstehen musste. Der gesamte bürgerlich-liberale Antifaschismus, der weitgehend konform mit der Argumentation der Exportwirtschaft ging, betonte seit der Flüchtlingskrise gerade die ökonomischen „Nützlichkeit“ von Globalisierung, für den Warenverkehr offener Grenzen und Zuwanderung: Flüchtlinge seien ökonomisch nützlich aufgrund der Überalterung der Bundesrepublik, das Exportland müsse attraktiv für Fachkräfte bleiben, so jedenfalls die gängigen Argumente. Doch diese im liberalen Mainstream gepflegten Narrative werden verschwinden, sobald Stagnation und Rezession sich in Deutschland verfestigen, während die Exporte weiter abnehmen werden, um der „deutschen Angst“, die so gerne in Hass auf sozial Schwache umschlägt, weiteren Aufwind zu verschaffen.

Der springende Punkt ist, dass diese autoritäre Revolte nie an die Macht gelangt, solange nicht ein substanzieller Teil der Funktionseliten sich für diese faschistische Option entscheidet. Und es deutet sich eine offene Spaltung hinsichtlich der Regierungsbeteiligung einer ins Rechtsextreme abdriftenden Partei innerhalb der deutschen Funktionseliten an. Das ist der entscheidende Dammbruch: Werden den bisherigen AfD-Sympathisanten wie Herrn Müller von der Müllermilch oder dem Mövenpick-Milliardär Baron August von Finck ganze Fraktionen folgen? Im Mittelstand? Bei den Familienunternehmern?

Faschistische Bewegungen kommen in Krisenzeiten erst dann an die Macht, wenn die Erschütterungen und Verwerfungen ein solches Ausmaß angenommen haben, dass Funktionseliten diese Bewegungen als das „kleinere Übel“ wahrnehmen. Um es mal plastisch auszudrücken: Erst wenn Kapitalmanager sich so tief im Krisensumpf verrannt haben, dass ihnen das Wasser bis zum Hals steht, halten sie sich die Nase zu, um der extremen Rechten die Hand zu reichen. Und dann gibt es kein Halten mehr, da die faschistische autoritäre Revolte, die immer nach der Billigung durch Autoritäten giert, hierdurch gerade zusätzlich angefacht wird (was, im übrigen, auch die linke Intention, durch Demaskierung der mächtigen faschistischen Hintermänner deren Anhängerschaft wachzurütteln, ins Leere laufen lässt. Autoritäre Charaktere werden durch die Kumpanei von AfD-Funktionären und Milliardären nicht abgeschreckt, sondern angezogen).

[1] https://www.imf.org/en/Blogs/Articles/2023/09/13/global-debt-is-returning-to-its-rising-trend

[2] https://www.census.gov/foreign-trade/balance/c0003.html

[3] https://www.ft.com/content/77faa249-0f88-4700-95d2-ecd7e9e745f9