Das Gleichnis vom „Verlorenen Sohn“ erscheint auf Anhieb verständlich. Aktuelle Familienkonstellationen und Geschwisterdynamiken lassen sich von heutigen Leser/innen direkt auf dieses Gleichnis übertragen. Eine Rückfrage an den historischen Kontext scheint daher nicht notwendig zu sein, das Gleichnis ‚spricht ja für sich’. Gerade das sollte ein Grund sein, nach der historischen Einordnung zu fragen, um dem Text gerecht zu werden.
- Ein Konflikt als Rahmen
Das Gleichnis vom verlorenen Sohn ist verbunden mit den vorangestellten Gleichnissen vom verlorenen Schaf und von der verlorenen Drachme. In allen Fällen steht die Freude über das Finden des Verlorenen im Mittelpunkt. Lukas stellt diese Gleichnisse nicht kontext- und zeitlos in den Raum. Vielmehr leitet er die Gleichnisse durch eine Kontextualisierung ein: „Alle Zöllner und Sünder kamen zu ihm, um ihn zu hören. Die Pharisäer und die Schriftgelehrten empörten sich darüber und sagten: Er gibt sich mit Sündern ab und isst sogar mit ihnen“ (Lukas 15,1.2a). Der Rahmen für dieses Gleichnis ist also die Empörung der Pharisäer und Schriftgelehrten über das Verhalten Jesu gegenüber Zöllnern und Sündern. Auch in den Evangelien von Markus und Matthäus werfen Schriftgelehrte Jesus vor, mit Zöllnern und Sündern Tischgemeinschaft zu haben (Markus 2,15-17). Aber nur Lukas setzt in diesen Zusammenhang ‚sein’ Gleichnis vom verlorenen Sohn (lukanisches Sondergut).
- Zöllner und Sünder
Mit den Zöllnern kommt das römische Herrschaftssystem ins Spiel. Denn Zöllner spielten in diesem System eine wichtige Rolle. Sie waren es, die die Steuern eintrieben, die Rom der Bevölkerung ‚Palästinas’ abpresste. Zu unterscheiden sind Oberzöllner, die die Einnahmen des Zolls von Rom gepachtet hatten und wie ‚Zollunternehmer‘ agierten. Sie waren relativ reich, aber verachtet, weil sie als Kollaborateure angesehen wurden (siehe der Oberzöllner Zachäus in Lukas 19,1-10). Die einfachen Zöllner dagegen mussten die Drecksarbeit des Eintreibens der Steuern machen. Sie standen erheblich unter Druck, weil sie von einer verarmten Bevölkerung Steuern eintreiben mussten und zusätzlich auch noch etwas für das eigene Überleben herausschlagen mussten.
An Jesu Tischgemeinschaft mit ihnen nahmen Teile der Pharisäer und Schriftgelehrten Anstoß, weil Zöllner die Gebote der Tora angesichts der römischen Herrschaft nicht in das alltägliche Leben integrieren konnten. Mit diesem moralischen Rigorismus kompensierten jüdische Eliten ihre eigene Anpassung an die römische Herrschaft. Indem Jesus mit Zöllnern Tischgemeinschaft hielt, durchbrach er diese Exklusion. Mit seinem Verhalten machte er deutlich, dass die Tatsache, dass das römische Gewaltsystem die gesamte Gesellschaft im Griff hat, nicht dazu führen darf, Menschen auszugrenzen. Vielmehr gilt es, trotz der allgegenwärtigen Verstrickung in das römische Gewaltsystem Perspektiven zu entwickeln, sich von dieser Herrschaftslogik zu distanzieren.
Vielleicht war sich die Gruppe der einfachen Zöllner über ihre verhängnisvolle Rolle innerhalb der römischen Gewaltherrschaft mehr bewusst als maßgebliche Teile der Schriftgelehrten und Pharisäer. Von einer sehr unterschiedlichen Selbsteinschätzung der eigenen Rolle unter der Römerherrschaft handelt zum Beispiel das (nur bei Lukas stehende) Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner im Tempel (Lukas 18,9-14). Eine realistische Selbsteinschätzung ist der erste Schritt aus der Verlorenheit. Die Zöllner sind (wie andere auch) Verlorene innerhalb der römischen Gewaltherrschaft. Jesus ist gekommen, die Verlorenen in Israel zu retten. Das könnte ein Grund dafür sein, dass Jesus sich den Zöllnern wesentlich mehr verbunden fühlte als Pharisäern und Schriftgelehrten, die an der Suche nach den Verlorenen Anstoß nahmen.
- Der jüngere Sohn
Um Verlorenheit geht es auch im Gleichnis vom so genannten verlorenen Sohn. Das Gleichnis zielt auf die Freude über das Wiederfinden des Verlorenen. Das zeigt sich im Gleichnis daran, dass der Vater den Grund seiner Freude gleich zweimal ausspricht: Sein Sohn war verloren und wurde wiedergefunden. Anders als zuweilen dargestellt geht es dabei nicht um ein moralisches Versagen des Sohnes. Dass der jüngere Sohn sich sein Erbe auszahlen lässt, ist in antiker Zeit üblich. Es hat einfach damit zu tun, dass in der Regel nur der älteste Sohn den Hof übernehmen konnte. Es stimmt zwar, dass der jüngere Sohn sein Erbteil verschwendet. Allerdings führt er kein ‚zügelloses Leben’ (auch von Dirnen ist nur in der Aussage des Bruders die Rede). Wo in den Übersetzungen (Einheitsübersetzung 1980/2016) vom zügellosen Leben die Rede ist, steht im griechischen „zων ασώτως“. Das bedeutet wörtlich „ohne Hoffnung auf Heil“[1]. Gerhard Jankowski übersetzt daher diese Stelle so: „Dort verschleuderte er seinen Besitz, rettungslos verloren lebend.“[2] Es geht also nicht um das moralische Verkommen-Sein des Sohnes, sondern um sein Verloren-Sein. Dazu passt, dass das Gleichnis nicht davon spricht, dass der „verlorene Sohn“ in der Fremde Reue zeigt. Nur im Gegenüber zu seinem Vater spricht er davon, dass er gesündigt hat. Wenn er vor sich selbst seine Situation schonungslos analysiert, steht der Hunger im Mittelpunkt. Der Sohn ist so sehr in eine Sackgasse geraten, dass ihm gar nichts anderes mehr übrig blieb, als zu seinem Vater zurückzukehren. Ausweglosigkeit, damit verbundene Hoffnungslosigkeit und Verlorenheit kennzeichnen seine Situation. Das entspricht auch der sozialen Realität vieler Menschen in den Außenprovinzen des römischen Reichs. Aus dieser Verlorenheit wird der jüngere Sohn gerettet. Er war tot und ist wieder lebendig geworden.
- Der ältere Sohn
Für Jesus ist entscheidend, dass Menschen aus dieser Verlorenheit herausfinden. Die Freude darüber, aus dieser Verlorenheit herauszufinden, haben zu seiner Zeit offensichtlich nicht alle geteilt, vor allem jene nicht, die sich im römischen Gewaltsystem eingerichtet hatten. Ihnen war weniger an einer Distanzierung oder Überwindung des römischen Herrschaftssystems gelegen als vielmehr an der Erhaltung des Status quo. Dieses Interesse hatten (aus ihrer Sicht durchaus nachvollziehbar, da sie jeden Konflikt mit Rom scheuten) maßgebliche Teile der Pharisäer und Schriftgelehrten. Je mehr sie um die Erhaltung ihres eigenen Status bemüht waren, desto stärker vertraten sie eine strenge Befolgung religiöser Vorschriften, um ihren Status zu rechtfertigen und zu legitimieren. In der Figur des älteren Bruders kommen sie zu Wort. Es ist jedoch sachlich falsch und in einer Zeit zunehmenden Antisemitismus auch gefährlich, den älteren Bruder zum Prototypen jüdischer ‚Leistungsfrömmigkeit’ zu erklären. Das Thema Werkgerechtigkeit bzw. alleinige Rettung durch Gnade passt nicht zur jüdischen Tradition und ist auch in Bezug auf das Gleichnis fragwürdig.
- Der barmherzige Vater
In Auslegungen des Gleichnisses vom verlorenen Sohn wird häufig auf die Barmherzigkeit des Vaters als dem eigentlichen Mittelpunkt der Geschichte hingewiesen. Dies findet seinen Ausdruck auch darin, dass das Gleichnis vom verlorenen Sohn als Gleichnis vom barmherzigen oder gütigen Vater bezeichnet wird. Sehr schnell wird in diesen Auslegungen dann der Vater mit Gott selbst identifiziert. Damit verbunden ist der Gedanke, dass Gott bedingungslose Liebe ist. Menschen können, egal was sie getan haben, zu Gott kommen und Gott nimmt jeden und jede auf wie ein gütiger Vater. Statt der Suche nach den sozial Verlorenen kommt die Vergebung für die Sünder in den Mittelpunkt des Gleichnis. Gerade im Lukasevangelium steht jedoch die Rettung dieser Verlorenen im Mittelpunkt, wenn Jesus den Beginn seines Wirkens mit der Verkündigung des Gnadenjahrs verbindet: „Der Geist des Herrn ruht auf mir, weil er mich gesalbt hat; er hat mich gesandt, den Armen frohe Botschaft zu bringen“ (Lukas 4,16-21).
Guido Groß
[1] Vgl. dazu Francois Bovon: Das Evangelium nach Lukas. Evangelisch – katholischer Kommentar zum Neuen Testament.
[2] Texte und Kontexte, Nr. 145-147, 122-123.