Lk 1,39-45
39 In diesen Tagen machte sich Maria auf den Weg und eilte in eine Stadt im Bergland von Judäa. 40 Sie ging in das Haus des Zacharias und begrüßte Elisabet. 41 Und es geschah, als Elisabet den Gruß Marias hörte, hüpfte das Kind in ihrem Leib. Da wurde Elisabet vom Heiligen Geist erfüllt 42 und rief mit lauter Stimme: Gesegnet bist du unter den Frauen und gesegnet ist die Frucht deines Leibes. 43 Wer bin ich, dass die Mutter meines Herrn zu mir kommt? 44 Denn siehe, in dem Augenblick, als ich deinen Gruß hörte, hüpfte das Kind vor Freude in meinem Leib. 45 Und selig, die geglaubt hat, dass sich erfüllt, was der Herr ihr sagen ließ.
Unser Evangelium lenkt den Blick auf die Begegnung von Elisabeth, der Mutter Johannes des Täufers, mit Maria, der Mutter Jesu. In diesen beiden Frauen begegnen sich 1. und 2. Testament, die Hoffnungen und Sehnsüchte Israels und Gottes Antwort im Messias Jesus. An der Stellung der beiden Frauen in der damaligen patriarchalischen Gesellschaft lässt sich unser Gott erkennen, es sind die Kinderlosen, die an den Rand gedrängten, die uns Gott erahnen lassen, weil Gott an ihrer Seite steht.
Es geht bei der Empfängnis der Jungfrau nicht um eine biologische Frage, sondern um das Schicksal Israels zur Zeit Jesu, die Verarmung des Volkes und die Repression des römischen Imperiums. Die Jungfrau ist in dieser Zeit das Bild des von Rom versklavten Israel in all seinen sozialen, wirtschaftlichen, politischen und religiösen Dimensionen.
Die Jungfrau aber ist zugleich „in Hoffnung“. In ihr wächst neues Leben – ein Leben, das in den Traditionen Israels und seinen Verheißungen verwurzelt ist, aber nicht daraus abgeleitet werden kann. Nicht ein neuer König, sondern Gott selbst wird als Retter und Befreier erwartet.
Genau dafür steht das Bild der Jungfrau. Sie repräsentiert die Erniedrigung des Volkes Israel und das Ende der Erniedrigung. Denn Gott hat ihre Erniedrigung angesehen. Damit ist der Anfang vom Ende gemacht.
Gott selbst kommt, um die Erniedrigten zu retten. Das Mysterium Gottes verbindet sich weder mit den Kronen der Mächtigen noch mit der abstrakten Herrschaft unmenschlicher Systeme. Er wohnt nicht in den Palästen der Mächtigen, nicht in den Konzernzentralen und Banken und auch nicht in demokratischen Regierungen. Seine Wohnung findet er in der erniedrigten Jungfrau im versklavten Israel. Aus ihrem Schoß geboren kommt im Messias Jesus Gott selbst in die Geschichte.
Gott selbst wird kommen. Mit nicht weniger an Befreiung sollen wir uns zufriedengeben. Er kommt in die Geschichte und bleibt mit Israels Geschichte, mit der erniedrigten Jungfrau, verbunden. Und dennoch setzt er einen neuen Anfang, der nicht aus der alten Geschichte abgeleitet werden kann. Gott selbst – so das Bild der Jungfrau – setzt einen neuen Anfang, und zwar ohne die Zeugungsgewalt einer der großen Männer, die aus der Geschichte kommen und so die Geschichte als Patriarchen (oder auch als System eines warenproduzierenden Patriarchats) beherrschen.
Diesem neuen Anfang können Menschen sich öffnen, indem sie Wege der Befreiung gehen. Als jungfräuliches Mysterium des Gottes, der kommt, bleibt Gott der instrumentellen Verfügungsgewalt des heutigen Subjekts entzogen, einem Selbst, das sich in der Selbstbehauptung durch Konkurrenz sein eigenes Grab schaufelt und im „Krieg aller gegen alle“ sich selbst und den Globus in den Untergang treibt.
In der Sensibilität für die Unverfügbarkeit des Mysterium Gottes könnte eine rettende Kraft gegen eine instrumentelle Vernunft liegen, die sich alles unterwirft und keine ‚Vernunft’ mehr kennt, so dass dies für menschliches Leben gefährlich ist.
Maria sagt „Ja“ zum unverfügbaren Mysterium Gottes und „Nein“ zur Herrschaft von Menschen und Systemen, die über Leben und Tod verfügen und dabei über Leichen gehen.
Dieses „Ja“ wiegt schwer, weil es in ihm um Gott und zugleich um die Rettung der Menschen, um das Ganze der Schöpfung und der Geschichte geht, um Transzendenz, also um das Überschreiten von Grenzen, der Grenze des eigenen Ichs, der Grenzen der Verhältnisse und auch der Grenze, die der Tod markiert. Ein solches Wort ist nicht „leicht“ zu haben und schnell zu verstehen. Wer es verstehen will, muss darin eintauchen, es sich immer wieder neu sagen lassen, es im Zusammenhang der Geschichte Israels und seines Messias immer wieder buchstabieren.
Dieses Wort lässt sich nicht auf ein naheliegendes und brauchbares religiöses Angebot reduzieren. Wer das Schwergewicht des Wortes zu einem Leichtgewicht macht, landet in die Banalität einer kindlichen Religiosität, die über alles Leid der Welt nach der nächstliegenden Befriedigung privater spiritueller Bedürfnisse sucht. Solche Religiosität sucht nach Entlastung, sucht nach spiritueller Erweiterung des privaten Glücks. Sie vermag kurzfristig Probleme beschwichtigen oder auch Glückshormone ausschütten. Aber sie kann nicht trösten und nicht befreien, weil sie die Grenzen der Sklavenhäuser nicht antastet. Sie stößt nicht vor bis zu Israels Gott und seinem Wort, das alle Grenzen, die Leben zerstören, überwinden will, und damit das Glück aller an der Befreiung derer hängt, deren Lebensglück durch die Verhältnisse der Gewalt und des Unrechts zerstört wurden.
Den Weg des Gekreuzigten gehen, das eröffnet uns den Weg zur Krippe, zum Erlöser, der das Leben aller Menschen will, zum Heiland, der alle heil machen will.
Paul Freyaldenhoven, Kapelle des Heinrichhauses der Josefs-Gesellschaft in Neuwied-Engers, 21./22.12.24