Der Philipperhymnus zur Osterzeit 2023 + Abendgebet am 21.4.23 um 18h

Ablauf und Gebete 21.4.23 (bei Interesse Anmeldung bis 17.45h unter info [at] oekumenisches – netz . de)

Phil 2,1-11

1 Wenn es also eine Ermahnung in Christus gibt, einen Zuspruch aus Liebe, eine Gemeinschaft des Geistes, ein Erbarmen und Mitgefühl, 2 dann macht meine Freude vollkommen, dass ihr eines Sinnes seid, einander in Liebe verbunden, einmütig, einträchtig, 3 dass ihr nichts aus Streitsucht und nichts aus Prahlerei tut. Sondern in Demut schätze einer den andern höher ein als sich selbst. 4 Jeder achte nicht nur auf das eigene Wohl, sondern auch auf das der anderen.

5 Seid untereinander so gesinnt, wie es dem Leben in Christus Jesus entspricht: 6 Er war Gott gleich, / hielt aber nicht daran fest, Gott gleich zu sein,[2] 7 sondern er entäußerte sich / und wurde wie ein Sklave / und den Menschen gleich. / Sein Leben war das eines Menschen; 8 er erniedrigte sich / und war gehorsam bis zum Tod, / bis zum Tod am Kreuz. 9 Darum hat ihn Gott über alle erhöht / und ihm den Namen verliehen, / der größer ist als alle Namen, 10 damit alle im Himmel, auf der Erde und unter der Erde ihr Knie beugen / vor dem Namen Jesu 11 und jeder Mund bekennt: / Jesus Christus ist der Herr / zur Ehre Gottes, des Vaters.

„… eine Ermahnung in Christus“

Der sog. Chistushymnus (Phil 2,6ff) muss im Zusammenhang der „Ermahnung in Christus“ (2,1ff) gelesen werden. Daran schließt die Formulierung in V. 1 an, in der „Ermahnung“ und „Zuspruch“, die ihr vorausgehen, zusammengefasst sind. Wozu und warum ermahnt und ermutigt Paulus die messianische Gemeinde in Philippi?

„Ermahnung“ und „Zuspruch“ laufen im Kern darauf hinaus, dass Paulus darauf drängt, dass „ihr eines Sinnes seid …, einträchtig“ (V. 2). Dies greift Paulus in V. 6 auf, wenn er den sog. Christushymnus einleitet mit: „Seid untereinander so gesinnt, wie …“ Dieser Übersetzung liegt ein griechisches Verb (phronein) zugrunde. Es zielt darauf, dass etwas ‚bedacht‘ werden soll. Was soll also die messianische Gemeinde in Philippi ‚bedenken‘, worauf bedacht sein, damit sie „eines Sinnes“ sein kann? Zunächst einmal wären die Begriffe in den Blick zu nehmen, mit denen Paulus die messianische Gemeinde ermahnt, „eines Sinnes“ zu sein. Da spricht Paulus von „Gemeinschaft des Geistes“, „Erbarmen und Mitgefühl“, davon, „in Liebe verbunden“ zu sein (V. 2). Als Gegensätze dazu nennt er: „Streiterei“ und „Prahlerei“. Dagegen stellt er die „Demut“, in der „einer den anderen höher schätzt als sich selbst“ (V. 3), und jeder „nicht nur auf das eigene Wohl, sondern auch auf das der anderen“ achte (V. 4).

Das mag wie ein ‚zeitloser‘ ethischer Katechismus klingen, hat aber einen Zeitkern im Zusammenhang des Lebens der messianischen Gemeinde in Philippi. Für das Verständnis dieser Mahnungen ist zunächst einmal wichtig, dass in dieser Gemeinde keine oder nur wenige Menschen lebten, die als Juden zur Gemeinde gekommen waren. Philippi war eine römische Kolonie, gegründet auf Anordnung des Augustus, wörtlich den Erhabenen1. Der Name Philippi verweist auf den ursprünglichen Gründer der Stadt, den makedonischen König Philipp II. Er hatte Philippi als Stützpunkt an der Grenze zu Thrakien anlegen lassen.

Als römische Kolonie war Philippi eine durch und durch römische Stadt. In ihr wurden römische Kriegsveteranen angesiedelt. Sie erhalten Land, betreiben Handel und setzen Sklav*innen dazu ein, das Land zu bestellen, Transporte zu erledigen etc. Die ursprünglichen Bewohner*innen werden in einen minderen Status abgedrängt. Es versteht sich von selbst, dass die Veteranen dem Imperium treu ergeben sind. Zu ihren Aufgaben gehörte es, die Kolonie und ihr Umfeld zu sichern. Dies war umso notwendiger, da die Kolonie an der Via Egnatia, einer für Handel und militärischen Nachschub wichtigen Straße lag, die eine Verbindung zum Schwarzen Meer, also in den Osten des Imperiums darstellte.

So ist es kein Zufall, dass – im Unterschied zu anderen Städten im Umfeld – in Philippi keine Spuren jüdischen Lebens gefunden wurden. Dem entspricht auch die Darstellung des Lukas vom Auftreten des Paulus in Philippi (Apg 16)2. Er sucht erst gar nicht eine Synagoge, in der er an so vielen anderen Orten als erstes mit einer Auslegung der Tora aufgetreten ist. Nicht einmal eine Gebetsstätte, an der sich Juden zur Lesung der Tora und zum Gebet treffen, scheint in der Stadt bekannt zu sein. In der messianischen Gemeinde scheint es also keine oder kaum Juden gegeben zu haben. Paulus hatte wohl Philippi aufgesucht, weil es nach dem Streit mit Petrus um den Zugang von Nicht-Juden zu den messianischen Gemeinden zu dem Kompromiss gekommen war, dass Petrus das Evangelium für die Beschnittenen und Paulus das Evangelium für die Unbeschnittenen anvertraut wurde (Gal 2). Danach – so Lukas in der Apostelgeschichte – führte der Weg des Paulus zunächst einmal nach Philippi, in eine Stadt der ‚Unbeschnittenen‘.

Dass es gelungen war, ‚Unbeschnittene‘ zu einer messianischen Gemeinde zusammen zu führen, war aber zugleich ein Problem. Zwar ohne Beschneidung, aber nicht ohne inhaltliche Bindung an Juden und die Traditionen Israels kann es eine Gemeinde des jüdischen Messias Jesus geben. Gerade Paulus als dem Apostel für die ‚Unbeschnittenen‘ war klar, dass ohne lebendige Verbindung zu den Juden das Projekt der messianischen Gemeinden ins Leere laufen muss. Wenn es in der messianischen Gemeinde schon keine leibhaftigen Juden und Jüdinnen gibt, von denen sich lernen lässt, was die jüdische Tradition mit Messias, mit Befreiung, mit Gott und Tora meint, muss es ein intensives Bemühen darum geben, diese Tradition kennen zu lernen und präsent zu halten. Genau darauf zielen „Ermahnung“ und „Zuspruch“ des Paulus. Die messianische Gemeinde soll darauf bedacht sein (‚bedenken‘), dass sie die Einheit mit Israel nicht aus dem Blick verliert und gerade darin „eines Sinnes“ (V. 2) und solidarisch ist.

Auf die Solidarität mit Israel zielen die von Paulus erwähnten Begriffe wie „Gemeinschaft des Geistes“, „Erbarmen und Mitgefühl“ und Formulierungen wie „einander in Liebe verbunden“, „einmütig“. Was mit diesen abstrakt klingenden Begriffen und Formulierungen gemeint ist, erschließt sich aus der Tora, der Erzählung der Befreiung und den damit verbundenen Weisungen für die Wege der Befreiung mit Israels Gott uns seinem Messias. Da gibt es für nicht-jüdische Menschen, die zur messianischen Gemeinde gehören, keinen Grund gegenüber Juden und Jüdinnen überheblich zu sein. Da gibt es nichts zu ‚prahlen‘ und zu ‚streiten‘. Stattdessen verweist Paulus alle auf „Demut“ (V. 3), wörtlich steht im griechischen Text „Niedrigkeit“. Was das bedeutet, zeigt sich in Israels Gott, der an der Seite der Erniedrigten steht, und im Weg seines Messias, der an der Seite der Erniedrigten in die Erniedrigung des Todes am Kreuz der Römer führt. Genau dieser Zusammenhang wird im sog. Christushymnus deutlich. In der Einheit mit dem Messias wird die Einheit mit Israel gewahrt. Ohne diese Einheit kann es keine messianische Gemeinde geben. Das müssen gerade die lernen und buchstabieren, die keine Juden und Jüdinnen sind und auch keinem oder kaum Juden und Jüdinnen in ihrem Umfeld begegnen, an deren Leben sie gleichsam ablesen könnten, was es heißt, in Israels Gott und seinen Wegen der Befreiung verwurzelt zu sein.

Seid untereinander so gesinnt, wie es dem Leben in Jesus Christus entspricht“ (V. 511)

Der auf diese Einleitung folgende Hymnus beinhaltet zwei Strophen. Sie sind parallel aufeinander bezogen:

  • Er war Gott gleich… (V. 6) – auf: und den Menschen gleich (V. 7);

  • … hielt aber nicht daran fest, Gott gleich zu sein (V. 6) – auf: Sein Leben war das seines Menschen (V. 7);

  • er entäußerte sich (V.7) – auf: er erniedrigte sich (V. 8);

  • und wurde wie ein Sklave (V. 7) – auf: und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuze (V. 8).

Er war Gott gleich… (V. 6) – „und den Menschen gleich“ (V. 7)

Diese Zeilen, die sich in ihrer parallelen Gestaltung gegenseitig interpretieren, rufen die Schöpfungsgeschichte in Erinnerung. Nach Gen 1,26f ist der Mensch „als Bild Gottes“ geschaffen und hat den Auftrag bekommen, als ‚Eben-Bild‘ Gottes zu ‚herrschen‘, d.h. die Erde als Ort des Lebens zu gestalten und zu behüten. Dagegen verspricht die Schlange: „Ihr werdet wie Gott (bzw. wie die Septuaginta übersetzt: „wie Götter“) sein und erkennt Gut und Böse“ (Gen 3,5). Menschen verkehren den Auftrag „als Bild Gottes“ zu ‚herrschen‘, wenn sie werden wollen „wie Götter“ und aus der Perspektive fetischisierter Herrschaft „Gut und Böse“ erkennen und entsprechend handeln. Dabei kann nur das herauskommen, was Paulus im Brief an die Römer als das „Niederhalten der Wahrheit durch Ungerechtigkeit“ (Röm 1,18) beschreibt3.

„… hielt aber nicht daran fest, Gott gleich zu sein“ (V. 6) – „Sein Leben war das seines Menschen“ (V. 7)

Für Paulus ist der Messias Jesus „Gottes Bild“ (2 Kor 4,4). Er ist nicht der Versuchung erlegen, „wie Gott“ bzw. „wie Götter“ (Gen 3,5) sein zu wollen. Dass er „Gott gleich“ ist, hat er nicht – wie es wörtlich heißt – als „Raub“ fest gehalten, sondern das Leben eines Menschen geführt, wörtlich: er wurde in der Gestalt eines Menschen gefunden. Er ist Adam, aus Erde geformter Mensch, aber nicht der Macht der Sünde und der mit ihr verbundenen Fetischisierung erlegen. Er steht gegen die Herren auf, die sich „wie Götter“ aufführen, und gegen Herrschaften, die sich als ‚göttlich‘ inszenieren. In Philippi, einer römischen Stadt, in der auch der Kaiserkult blühte, wurden solche Aussagen als gefährlich gewertet – auch wenn die ausdrückliche Verehrung des Kaisers als ‚Herr und Gott‘ (‚dominus et deus‘) erst einige Zeit später einsetzte.

„… er entäußerte sich“ (V. 7) – „er erniedrigte sich“ (V. 8)

Der Bezug auf Schöpfung wird nicht mit dem Auftrag, als „Bild Gottes“ zu ‚herrschen‘ weitergeführt. Nicht von ‚herrschen‘, sondern von Entäußerung und Erniedrigung ist die Rede. Zum einen könnte von Bedeutung sein, dass nach dem Rückgriff auf den Sündenfall (als sein bzw. herrschen wollen „wie Götter“) sich nicht mehr unmittelbar an den sog. Herrschaftsauftrag anknüpfen ließ. Vor allem aber kommt mit diesen Formulierungen die römische Herrschaft in den Blick. Sie war mit Unterdrückung der Völker und deren Erniedrigung verbunden und zeigte sich in der Unterdrückung und Erniedrigung von Sklav*innen, die für die Herren und zur Aufrechterhaltung der Strukturen der Herrschaft zu ‚malochen‘ hatten. Der Messias lebt an der Seite der durch die römische Herrschaft Unterdrückten und Erniedrigten. Darauf zielen die Wortfelder von „sich entäußern“, „sich erniedrigen“, „wurde wie ein Sklave“, „gehorsam bis zum Tod“ – und zwar „bis zum Tod“ am Kreuz der Römer.

Er entäußerte sich“: Damit wird ein griechisches Verb (kenoun) übersetzt, das auch die Bedeutung ‚leer‘ werden im Sinne von veröden haben kann. In dieser Bedeutung greift es die Septuaginta, die griechische Übersetzung der hebräischen Texte der Bibel, auf, so z.B. bei Jer 14,1. Da heißt es: „Juda ist ausgedörrt“. In Jer 15,9 heißt es: „Die Mutter, die sieben Söhne gebar, welkte dahin…“ Mit diesen Formulierungen kritisiert Jeremia die Herrschaft der Könige. Sie macht Juda zu einem ‚ausgedörrten‘, öden und leeren Land. Wenn Frauen ‚dahin welken‘ hat das Volk keine Zukunft mehr. Es ist der unfruchtbaren Ödnis ausgeliefert. Unterdrückung und Versklavung geht mit Verelendung und Erniedrigung einher.

Genau dies kennzeichnet die Situation des jüdischen Volkes in Judäa, aber auch des Volkes, das in Philippi unter der Herrschaft Roms zu leiden hatte. In dieser Situation nimmt der Messias seinen Auftrag nicht als ‚Herrschaftsauftrag‘ wahr, sondern seine Sendung ist es, sich der Herrschaft zu ‚entleeren‘, sich der Herrschaft zu ‚entäußern‘, mit ihr zu brechen. So kann er sich an die Seite der durch Herrschaft Unterdrückten und Erniedrigten stellen und der Gewaltherrschaft widerstehen.

„… und wurde wie ein Sklave“ (V. 7) – „und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuze“ (V. 8)

In seiner eigenen Erniedrigung ist er solidarisch mit den Erniedrigten. Darin ist er „gehorsam“ (V 8). Sein Gehorsam ist nicht ‚Hörigkeit‘ gegenüber den Herren, sondern Hören auf Gottes Wort und seine Weisungen für Wege der Befreiung. Das macht ‚ungehorsam‘ gegenüber den Herren und führt an die Seite der Erniedrigten und ihrer Suche nach Befreiung. Das ist der „Gehorsam“ eines Juden gegenüber dem, was der Name Gottes an Weisung und Verheißung der Befreiung für diejenigen enthält, die aus Unterdrückung und Erniedrigung nach Befreiung schreien. Dieser Gehorsam führt an das Kreuz der Römer. In seinem Kreuz steht der Messias in der Tradition all der Juden, die gekreuzigt wurden, weil sie gegenüber ihrem Gott gehorsam und der Herrschaft Roms gegenüber illoyal waren und deshalb hingerichtet wurden.

Wenn Paulus das so entschieden und in dieser Entschiedenheit verwurzelt in der jüdischen Überlieferung und adressiert an die messianische Gemeinde in Philippi, in der es keine/kaum Juden und Jüdinnen gibt, schreibt, ist darin „die Ermahnung in Christus“ (V. 1) zu sehen, sich nicht von den jüdischen Wurzeln und den Juden und Jüdinnen zu trennen, sondern mit ihnen solidarisch zu sein wie der Messias „bis zum Tod am Kreuz“ (V. 8). Wenn die Gemeinde sich von den Juden und Jüdinnen trennt, wird sie zu einem ‚Religionsverein‘, zu einem mit dem römischen Imperium kompatiblen ‚Kultverein‘. Das müsste sich die Kirche in Erinnerung rufen, die im Bündnis mit hellenistischer Philosophie und sich dabei von den jüdischen Wurzeln entfernend zur ‚Religion‘, zur ‚Reichsreligion‘ wurde, und heute im Bündnis mit geschichtsloser Esoterik ihre Rettung als ‚unternehmerische Kirche‘ sucht4.

Die Gemeinde in Philippi soll – so Paulus – nicht prahlerisch und überheblich werden. Im griechischen gebraucht Paulus ein Wort (doxa), das für die Herrlichkeit und Verherrlichung Gottes steht, aber mit der Vorsilbe leer (kenos) negiert wird (also so wie im griechischen Text zu kenodoxia wird). Die Gemeinde soll also nicht in leere Verherrlichung verfallen. Stattdessen wird sie auf ‚Demut‘ verwiesen. Mit ‚Demut‘ wird ein griechisches Wort (tapeinophrosynee) übersetzt, das die Gesinnung der Erniedrigung meint. Die Gemeinde wird ermahnt, statt sich in leerer Prahlerei zu ergehen, in der Gesinnung der Erniedrigung solidarisch zu sein mit den von Rom erniedrigten Juden und Jüdinnen und darin mit dem am Kreuz Roms erniedrigten Messias. Ähnlich mahnt Paulus im Brief an die Römer vor Überheblichkeit, wenn er schreibt: „Seid untereinander eines Sinnes; strebt nicht hoch hinaus, sondern bleibt demütig. Haltet euch nicht selbst für klug!“ (12,16). Auch hier verwendet er wieder die Gegensatzpaare von hoch (sich erhöhen) und niedrig (sich an die Seite der Erniedrigten stellen; dieser Sinn wird in der Übersetzung mit ‚demütig‘ wieder verdeckt).

Der erniedrigte Messias war auch kein heroischer militärischer Kämpfer. Er wollte kein neues Reich Israel und erst recht keinen heldenhaften bewaffneten Kampf dafür. Das machte ihn weder passiv noch angepasst. Wie Paulus stimmt er mit den Zielen der Befreiung überein, wollte aber weder ein Reich Israel anstelle des römischen Reiches noch messianischen Abenteuer, die, wie der Krieg Roms gegen jüdische Aufstände zeigte, Israel in die Katastrophe der Zerstörung Jerusalems und die Zerstreuung führte. ‚Jenseits‘ des bewaffneten Kampfes sollten die messianischen Gemeinden ein Ort sein, an dem Juden und Nicht-Juden, weiblich und männlich, in Gerechtigkeit und Frieden und gemeinsam widerständig gegen die Herrschaft des Imperiums zusammenleben konnten. In diesem Zusammenloben sollte das überwunden sein, was Völker und deren Herrschaftsverhältnisse voneinander trennt.

Daran wäre heute im Zusammenhang der Debatte um den Krieg in der Ukraine zu erinnern. Wer nicht für den Einsatz militärischer Gewalt und deren Eskalation ist, zieht sich den Verdacht zu die Herrschaft Russlands zu akzeptieren statt sich für die Befreiung der Ukraine einzusetzen. Der Kampf um Befreiung kann – so könnte die Distanz der messianischen Gemeinden gegenüber zelotischen Abenteuern zeigen – auch anders geführt werden. Vor allem aber geht es im Krieg in der Ukraine weder um Befreiung noch um Menschenrechte, sondern um die Durchsetzung westlicher Herrschaft. Das ‚Abenteuerliche‘ daran ist, dass es in der Krise des Kapitalismus keine ökonomische Grundlage mehr für die Herrschaft eines neuen Hegemons gibt.

Darum hat ihn Gott über alle erhöht…“ (VV. 9-11)

Der Schlussteil des Hymnus besingt die Erhöhung des am Kreuz erniedrigten Messias. Das Motiv der Erhöhung der Erniedrigten zieht sich durch die gesamte Bibel. Die in der patriarchalen Welt wegen ihrer Kinderlosigkeit erniedrigte Hanna empfängt Samuel. In ihrem Danklied preist sie Gott als ihren Befreier; denn „… er erniedrigt und erhöht. Den Schwachen hebt er empor aus dem Staub und erhebt den Armen, der im Schmutz liegt…“ (1 Sam 2,6f). Ähnlich heißt es in Psalm 113,7: „Den Geringen richtet er auf aus dem Staub, aus dem Schmutz erhebt er den Armen.“ Dass die Erhöhung der Erniedrigten umstürzlerischen Charakter hat, wird beim Propheten Ezechiel deutlich. Dort wird zum Fürsten von Israel gesagt: „Weg mit dem Turban, herunter mit der Krone! Nichts soll bleiben, wie es ist. Hoch das Niedrige, nieder das Hohe. Umsturz, Umsturz. Umsturz ist es, was ich wirke.“ Dies wird geschehen, „wenn der kommt, dem Richtspruch zusteht und dem ich ihn geben werde“ (Ez 21,30ff). Umstürzlerisch ist die Hoffnung, die Maria – als erniedrigte Sklavin (Lk 1,46ff) – besingt: „… er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen“ (Lk 1,52).

Im Hymnus des Philipperbriefs heißt es sogar: Gott hat ihn hoch hinaus erhöht – wie es wörtlich heißt – und verdeutlichend übersetzt wird mit „über alle“. Die messianischen Gemeinden, die diesen Hymnus sangen, wussten, wer und was gemeint war. Es ging um die Erniedrigten, die durch Ungerechtigkeit von der imperialen Macht niedergehalten und im Fall des Widerstands gekreuzigt wurden. Sie sollten aufgerichtet und ermutigt werden, die Verhältnisse nicht hinzunehmen.

„ … und ihm den Namen verliehen, der größer ist als alle Namen (V. 9)

Mit dem Namen, der dem Messias verliehen (wörtlich: geschenkt) wird, ist der Gottesname gemeint. Dieser Name ist weder zu definieren noch kann über ihn verfügt werden. Dennoch ist er mit Inhalten verbunden, die sich aus den Zusammenhängen ergeben, in denen die Rede ist von Gottes Namen oder einfach auch von ‚dem Namen‘. Bereits die Offenbarung des Namens ist damit verbunden, dass Gott die Schreie der in Ägypten versklavten Hebräer hört, Mose gesandt wird, die in Ägypten versklavten Hebräer zu befreien, und der Verheißung, dass Gott sich für Israel als Retter und Befreier erweisen werde (Ex 2,7ff). Nachdem er den Sklav*innen auf der Flucht vor ihren Verfolgern den Weg durch das rote Meer gebahnt hatte, sang „Mose mit den Israeliten dem HERRN“ (Ex 15,1ff) ein Loblied der Befreiung. Darin heißt es: „Mein Stärke und mein Lied ist der HERR, er ist mir zur Rettung (zur Befreiung) geworden“ (Ex 15,2). Die Israel gegebenen Weisungen – so auch die sog. Zehn Gebote (Ex 20,1; Dtn 5,1) – sind Weisungen, die Israel durch seine Geschichte hindurch die Wege der Befreiung ebnen sollen. Befreiung, Wege der Befreiung gehen, Umkehr auf die Wege der Befreiung, Kritik von Herrschaftsverhältnissen und der Bruch mit ihnen sind zentrale Inhalte des Gottesnamens. Dem mit diesen Inhalten verbundenen Namen soll Israel die Treue halten (Ex 13). Er allein ist „einzig“ (Dtn 6,4). Deshalb darf er weder durch einen anderen Namen ersetzt (Ex 20, 3ff; Dtn 56ff; 13,2-6) noch darf er zur Legitimation von Herrschaft missbraucht werden (Ex 20,7; Dtn 5,11).

So ist es nicht verwunderlich, dass Juden daran Anstoß nahmen, wenn in den messianischen Gemeinden der Messias Jesus in die Nähe des Gottesnamens gerückt wurde. Nach der Apostelgeschichte entzündet sich ein Streit mit Juden daran, dass Petrus und Johannes einen Gelähmten „im Namen Jesu Christi, des Nazoräers“ (Apg 3,6) geheilt haben. Sie weisen beschwichtigend darauf hin, dass dieser Name kein anderer sei als der in Israel bekannte Gottesname; denn „in keinem anderen Namen ist das Heil zu finden. Denn es ist uns Menschen kein anderer Name unter dem Himmel gegeben, durch den wir gerettet werden“ (Apg 4,12). Unser Hymnus betont, dass Gott selbst seinem Messias Jesus diesen „Namen verliehen (geschenkt)“ (V. 9) hat.

damit alle … ihr Knie beugen…“ (V. 9f)

In dieser Formulierung ist Jes 45,23 aufgenommen: „Vor mir wird jedes Knie sich beugen und jede Zunge wird schwören: Nur beim HERRN … sind Heilstaten und Stärke.“ Das Lied aus Jesaja zielt darauf, dass sich alle aus Unterdrückung und Gewalt Entronnenen aus den Völkern von Israels Gott befreit werden und sich zu ihm bekennen (Jes 45,18-25). Sie wenden sich ab von den „hölzernen Götzen“, die niemanden retten (Jes 45,20b), und hin zu der Befreiung, die der Name von Israels Gott beinhaltet5.

„… und jeder Mund bekennt Jesus Christus ist der Herr zur Ehre Gottes des Vaters“ (V. 11)

Der Bekenntnis Jesus Christus ist der Herr greift zwei Zusammenhänge auf. Zum einen wird in der Septuaginta mit ‚Herr‘ der Gottesname übersetzt. Wenn Jesus „Herr“ genannt wird, wird sein Reden und Handeln, sein Tod und seine Auferweckung als Auslegung des Gottesnamens verstanden, dessen Inhalte darin wirksam sind und ‚geschehen‘. Zum zweiten erinnert er an die römischen Herrscher, die sich als ‚Herr‘ akklamieren und wenige Jahre später als ‚Herr und Gott‘ verehren ließen. Auch der Name Jesus hat einen Inhalt. Übersetzt heißt dieser Name: Er rettet, er befreit. Christus ist die griechische Übersetzung des hebräischen Messias, der Gesalbte.

In Jesus, dem Herrn und Christus, ist – so die Überzeugung der messianischen Gemeinden – all das lebendig und gegenwärtig, was Israels Gottesname beinhaltet. Israels Gott „ist der Gott über den Göttern und der Herr über den Herren“ (Dtn 10,17). Er erweist sich als „ein barmherziger und gnädiger Gott, reich an Huld und Treue“ (Ex 34,6). Dies geschieht nach dem Glauben der messianischen Gemeinden in dem Messias Jesus. Auf seinem Weg zeigt sich, dass Israels Gott seinem Volk angesichts der Herrschaft Roms, in deren Rahmen es keine Aussicht auf Befreiung und ein befreites Leben nach den Weisungen der Tora gibt, die Treue hält, sein Volk neu sammelt und aufrichtet und Gottes Verheißungen der Befreiung für alle aus den Völkern öffnet, die den herrschenden Gewaltverhältnissen entrinnen wollen.

„… zur Ehre Gottes des Vaters“ (V. 11)

Der Schluss des Hymnus macht noch einmal deutlich, dass Jesus nicht einfach mit Israels Gott identifiziert wird, sondern zu ihm in eine so enge Beziehung gesetzt wird, dass die Inhalte des Gottesnamens im Messias Jesus zur Geltung kommen. Genau dies geschieht „zur Ehre Gottes des Vaters“. Dessen Ehre kommt zur Geltung in der aufrichtenden Solidarität des versklavten und am Kreuz der Römer hingerichteten Messias mit seinem von Rom versklavten Volk und darin mit allen versklavten Völkern. Mit ihnen kann die messianische Gemeinde nur solidarisch sein, wenn sie mit dem versklavten Israel solidarisch ist.

Herbert Böttcher

1 Der offizielle Name der Stadt ist „Colonia Augusta Iulia Philippensis iussu Augusti“, also: eine Kolonie des Augustus, der aus dem Geschlecht der Julier abstammt und auf seinen Befehl, d.h. auf Befehl des ‚Erhabenen‘, gegründet worden war.

2 Vgl. Böttcher, H. (2020): Das Haus der Lydia (Apg 16,11-15), https://www.oekumenisches-netz.de/2020/10/das-haus-der-lydia-apg-1611-15/.

3 Vgl. Böttcher, H. (2023): Verhältnisse, in denen die Wahrheit durch Ungerechtigkeit niedergehalten wird – Zum Römerbrief, https://www.oekumenisches-netz.de/2023/03/verhaeltnisse-in-denen-die-wahrheit-durch-ungerechtigkeit-niedergehalten-wird-zum-roemerbrief/.

4 Vgl. Böttcher, H (2022): Auf dem Weg zur unternehmerischen Kirche, Würzburg.

5 Vgl. Böttcher, H. (2023): „Nur beim HERRN … sind Heilstaten und Stärke“ (Jes 45,24) – Treue zur Wahrheit in der Geschichte als Treue zu Israels Gott (Jes 45,18-25), https://www.oekumenisches-netz.de/2023/03/nur-beim-herrn-sind-heilstaten-und-staerke-jes-4524-treue-zur-wahrheit-in-der-geschichte-als-treue-zu-israels-gott/.

Literatur: Gerhard Jankowski, Das messianische Experiment. Paulus an die Philipper. Eine Auslegung, Texte & Kontexte. Exegetische Zeitschrift Nr. 62/63, 2-3/94.