Lesung: Apg 2,1-11, Evangelium: Joh 20,19-23
Wir sind es gewohnt, Pfingsten am 50. Tag nach Ostern zu feiern. Das Kirchenjahr folgt dabei der Darstellung des Lukas: Auf die Auferweckung folgt nach 40 Tagen die Himmelfahrt und schließlich am 50. Tag Pfingsten. Die Dramaturgie, die Lukas auf 50 Tage verteilt, konzentriert sich bei Johannes auf einen Tag. Und der Tag hat es in sich. Entsprechend heißt es bei Johannes, wenn wir wörtlich übersetzten: „Tag eins“. Mit einem „Tag eins“ beginnt die Bibel, dem „Tag eins“ der Schöpfung. Der Tag der Auferweckung ist für Johannes der „Tag eins“ einer neuen Schöpfung. Gottes Geist, der zu Beginn der Schöpfung über dem Chaos der Urflut schwebte, erweist seine schöpferische Macht in der Auferweckung des Gekreuzigten und darin mit dem Beginn einer neuen Schöpfung, eines neuen Himmels und einer neuen Erde.
Welche Brisanz das hat, wird uns deutlich, wenn wir uns die Situation der Gemeinde des Johannes vergegenwärtigen. Sie hat, wie es von den Jüngern gesagt wird, „aus Furcht vor den Juden die Türen verschlossen“ (20,19). Gemeint sind Pharisäer, die zur Zeit des Johannes die Synagoge leiten. Sie wollen nach der Zerstörung des Tempels und der Vertreibung von Juden über das ganze Reich keine neuen Konflikte mit Rom provozieren. Dem stehen die Juden im Weg, die als Messianer und Messianerinnen in Treue zu Israels Gott Wege der Befreiung von Herrschaft neu gehen wollen. Sie laufen Gefahr, aus der Gemeinschaft der Synagoge ausgeschlossen zu werden und damit deren Schutz zu verlieren. Deshalb haben sie Angst, die Wege der Befreiung weiterzugehen.
Mit der Gefahr, aus der Gemeinschaft der Synagoge ausgeschlossen zu werden, wächst die Gefahr der Verfolgung durch Rom, zumal der Grund des Ausschlusses ihr Bekenntnis zu dem von Rom hingerichteten Messias ist, der als der Auferweckte seine Gemeinde gegen die Macht Roms neu sammeln will auf Wegen der Befreiung. Wie aber soll das gehen, solche Wege ohne die leibhaftige Gegenwart des Messias zu gehen? „Halte mich nicht fest“, hatte er zu Maria Magdalena gesagt (20,17).
Wir brauchen nicht viel Phantasie, um diese Erfahrungen mit unserem Leben in Verbindung zu bringen. Viele, die einen Menschen verloren haben, machen die Erfahrung, wie schwer es ist, sich von einem geliebten Menschen zu lösen. Er lässt sich nicht festhalten. Das macht traurig und niedergeschlagen. Das Leben geht nicht einfach weiter. Es kommt vielmehr die Frage auf, wie soll das weitergehen, wie kann ich ohne den geliebten Menschen weiterleben. In unserem gesellschaftlichen Leben sind wir all den Krisen ausgesetzt, die Menschen verhungern und verdursten lassen, die Grundlagen des Lebens zerstören und Fliehende im Mittelmeer dem Ertrinken preisgeben. Abschottung gegen die Opfer der Krisen ist die politische Devise: „Rohe Bürgerlichkeit“ statt Mitgefühl. Die Normalität der kapitalistischen Herrschaft soll – koste es, was es wolle – aufrechterhalten werden, auch wenn sie Leben vernichtet und auf Zerstörung und Selbstzerstörung zutreibt. Es ist zum Verzweifeln. Niedergeschlagenheit – Depression genannt – macht sich breit samt der sie begleitenden Furcht vor der Zukunft.
Johannes schreibt analog über solche Erfahrungen zur Zeit des römischen Reiches nicht hinweg. Er setzt sich in seinem ganzen Evangelium damit auseinander, vor allem in den Abschiedsreden, die Johannes Jesus in der Nacht vor seinem Tod in den Mund legt. Ihr Thema ist die Erfahrung, vom Messias verlassen zu sein. Die Wege der Befreiung, die Wahrheit, also das Versprechen der Treue von Israels Gott der Befreiung und das Leben als Leben in Gerechtigkeit und Frieden sind in kaum erreichbare Ferne gerückt. So fragt sich die Gemeinde, wo sie eine „Bleibe“ hat, eine „Wohnung“, einen Ort, an dem sie als messianische Gemeinde leben kann. Thomas bringt die Verwirrung und Orientierungslosigkeit der Gemeinde auf den Punkt, wenn er zu Jesus sagt: „Wir wissen nicht, wohin du gehst. Wie sollen wir dann den Weg kennen?“ (14,4)
Dennoch sagt Jesus in seinen Abschiedsreden: „Euer Herz beunruhige sich nicht und verzage nicht“ (14,27). Er geht fort zum Vater, aber er lässt die Gemeinde nicht allein. Er kündigt ihr „einen…Beistand“ an, den der Vater senden wird und „der für immer bei euch bleiben soll“ (14,16). Johannes nennt ihn „den Geist der Wahrheit, den die Welt nicht empfangen kann“ (14,17). Mit Wahrheit ist die Treue von Israels Gott gemeint. Er macht die Befreiung wahr, die er mit seinem Namen versprochen hat. Diesen Geist der Wahrheit kann die Welt, gemeint ist die Weltordnung Roms, „nicht empfangen“. Denn sie will keine Befreiung, sondern die Sicherung ihrer Herrschaft. Wenn sie gesichert ist, herrscht in der Logik Roms Frieden. Deshalb kann der Frieden, den Jesus hinterlässt, kein Friede sein wie „die Welt“ – d.h. die römische Weltordnung – „ihn gibt“ (14,27).
Mit der Auferweckung des Gekreuzigten ist die Wahrheit Gottes offenbar geworden. Gott steht zu seinen Verheißungen der Rettung und Befreiung. Was er für seinen Messias wahr gemacht hat, soll für alle Menschengeschwister wahr werden, zuerst für all diejenigen, die wie er „aufs Kreuz gelegt werden“. Über seine Wunden bleibt er mit ihnen auch als Auferweckter verbunden. Deshalb ist dieser Tag ein neuer „Tag eins“, der Tag, mit dem ein neuer Himmel und eine neue Erde ihren Ausgang nehmen. Wenn die Opfer von Unrecht und Gewalt aufgerichtet werden und Befreiung erfahren, dann geschieht Friede. Es ist ein Friede, der aus Wegen der Solidarität erwächst. Es sind die Wege, auf denen wir – wie es im ersten Brief des Johannes heißt – „schon aus dem Tod ins Leben hinübergegangen sind“ (1 Joh 3,14). Diesen Frieden empfängt die messianische Gemeinde von ihrem auferweckten Messias, dessen Wegen der Solidarität Gott Recht gegeben hat. Diesen Frieden inmitten aller Katastrophen zu bezeugen und Wirklichkeit werden zu lassen, sendet sie nun der Auferweckte wie der Vater ihn gesandt hat. Für diese Sendung empfängt sie den Heiligen Geist. Der Hauch des Auferweckten soll zum Lebensatem der messianischen Gemeinde werden. Er richtet sie auf, lässt sie aufstehen und Jesu Weg gehen, auch wenn er leibhaftig nicht in ihrer Mitte ist.
In der messianischen Gemeinde ist der Geist lebendig, von dem Jesus in seinen Abschiedsreden gesagt hatte: „Er wird euch alles lehren und euch an alles erinnern, was ich euch gesagt habe“ (14,26). Lehren wird er Jesu Weg der Solidarität mit allen Menschengeschwistern, der zugleich ein Weg des Widerstands gegen tötende Herrschafts- und Gewaltverhältnisse ist. Erinnern wird er daran, dass dieser Weg der Weg von Israels Gott ist, der darauf aus ist, die Welt von den Sklavenhäusern zu befreien. Mit dieser Erinnerung ist Gottes Einspruch gegen Verhältnisse, die töten, lebendig und zugleich gegen den Tod, dem kein Mensch ausweichen kann. Vergebung können alle erfahren, die wie die Jüngerinnen und Jünger in die Irre gegangen sind: sich angesichts der tödlichen Gefahren, wie der Messias gekreuzigt zu werden, Jesus allein gelassen haben, weil sie sich haben versprengen lassen, jeder in sein eigenes Schneckenhaus oder aus Trauer und Furcht sich zusammen hinter verschlossenen Türen verbarrikadiert haben. Sie werden aufgerichtet und können sich neu um den nun auferweckten Messias sammeln, um solidarisch mit ihm und untereinander seine Wege der Befreiung zu gehen. Wer jedoch auf der Seite der tödlichen Weltordnung Roms bleibt, verharrt in der Sünde. Der Geist, der die Verängstigten und Trauernden aufrichtet, der die Kraft gibt, Wege der Solidarität zu gehen, er wird „die Weltordnung der Sünde überführen und der Gerechtigkeit und des Gerichts“ (Joh 16,8).
An den Wegen der Solidarität mit denen, die die Weltordnung dem Tod preisgibt, scheiden sich die Geister zwischen denen, die auf Abschottung, Ausgrenzung und Militarisierung setzen, und denen, die solidarisch sein wollen mit den Opfern kapitalistischer Herrschaft und diese Herrschaft überwinden wollen.
Ein gutes Beispiel hierfür ist das Migrationsabkommen der EU mit dem Libanon. Der Libanon erhält eine Milliarde Euro zum Wiederaufbau und hindert dafür Flüchtlinge daran, nach Europa weiterzuziehen. Und dieses Abkommen wird dann „solidarisch“ genannt. Das ist aber gewissermaßen eine Solidarität in der Logik der Pax Romana. Die EU schließt ‚solidarisch’ die Fronten gegen diejenigen, die ihre Sicherheit bedrohen, also Solidarität gegen die Opfer, deren Lebensgrundlagen zerstört wurden. Dagegen steht die Pax Christi als Solidarität mit denen, die aufs Kreuz gelegt werden, mit den Opfern. Es ist der Weg Jesu, die Niedergeschlagenen aufzurichten, denn nur so entsteht eine Welt, wo auch der Letzte zu seinem Recht kommt, eine Welt in Gerechtigkeit und Frieden.
Paul Freyaldenhoven