11 So brachen wir von Troas auf und fuhren auf dem kürzesten Weg nach Samothrake und am folgenden Tag nach Neapolis. 12 Von dort gingen wir nach Philippi, eine führende Stadt des Bezirks von Mazedonien, eine Kolonie. In dieser Stadt hielten wir uns einige Tage auf. 13 Am Sabbat gingen wir durch das Stadttor hinaus an den Fluss, wo wir eine Gebetsstätte vermuteten. Wir setzten uns und sprachen zu den Frauen, die sich eingefunden hatten. 14 Eine Frau namens Lydia, eine Purpurhändlerin aus der Stadt Thyatira, hörte zu; sie war eine Gottesfürchtige und der Herr öffnete ihr das Herz, sodass sie den Worten des Paulus aufmerksam lauschte. 15 Als sie und alle, die zu ihrem Haus gehörten, getauft waren, bat sie: Wenn ihr wirklich meint, dass ich zum Glauben an den Herrn gefunden habe, kommt in mein Haus und bleibt da. Und sie drängte uns.
Der Weg führt Paulus und Timotheus nach Philippi, einer römischen Kolonie, die in dieser Zeit offiziell ‚Colonia Augusta Iulia Philippensis iussu Augusti‘ heißt. Auf Befehl des Augustus (iussu Augusti) war die Stadt neu gegründet worden. Ursprünglich war sie vom makedonischen König Philipp als Stützpunkt an der Grenze zu Thrakien angelegt worden. Darauf geht ihr Name Philippi zurück. Ihren Status als römische Kolonie und als Ort für die Ansiedlung römischer Veteranen hatte sie 41 v. Chr. nach dem Sieg von Antonius und Augustus über ihre republikanischen Gegner erhalten. Nachdem Augustus die Alleinherrschaft übernommen hatte, bestätigte er ihren Status, baute die Stadt aus und ließ ihm ergebene Veteranen in ihr ansiedeln. Sie prägen das Leben der Stadt.
Paulus und Timotheus hielten sich einige Tage in dieser Stadt auf. Am Sabbat gingen sie „durch das Stadttor hinaus an den Fluss“. An einer „Gebetsstätte“, die sie dort vermutet hatten, finden sie Frauen, „die sich eingefunden hatten“ (16,13). Eine solche Gebetsstätte kann auch eine Synagoge sein, zumal der Begriff ‚proseuchä‘ in anderen Zusammenhängen auch als Synagoge wiedergegeben wird. Dass die neue Einheitsübersetzung hier von einer „Gebetsstätte“ spricht, mag auch mit dem Vorurteil zu tun haben, dass, wo Frauen im Zentrum stehen, es keine richtige Synagoge oder Gemeinde geben kann. Wie auch immer: Paulus und Timotheus begegnen hier einer Gruppe von Frauen. Hervorgehoben wird Lydia. Von ihr heißt es, sie sei „eine Purpurhändlerin aus der Stadt Thyatira“ und „eine Gottesfürchtige“ (16,14), also eine Frau, die sich zu Israels Gott bekannte.
In Thyatira hatten die Römer im Zusammenhang ihrer ‚Eroberungspolitik’ eine große jüdische Bevölkerungsgruppe angesiedelt, die vor allem aus SklavInnen und Kriegsgefangenen bestand. Zudem wurden in Thyatira Kleider hergestellt und mit Purpur gearbeitet. Der Begriff „Purpurhändlerin“ lässt viele an eine reiche Händlerin denken, die ein Haus besitzt, und sich mit ‚Arbeit’ nicht die Hände schmutzig machen muss. Diese Vorstellung setzt moderne Verhältnisse voraus, in denen Arbeit und Handel getrennt sind. Mit den historischen Verhältnissen eher in Einklang zu bringen ist jedoch die Vorstellung, dass Lydia zur Gruppe der KleinhandwerkerInnen und KleinhändlerInnen gehörte[1]. Textilien, die als Purpur gehandelt wurden, mussten gefärbt werden, so dass sich hinter einer Kleinhandwerkerin, die zugleich als Kleinhändlerin mit Purpur handelt, eine Färberin verbirgt.
„Purpur wurden alle Farben genannt, die der Farbe des Originalpurpurs aus der Seeschnecke nahekamen. In Lydias Heimat gab es Wasser, das besonders günstig für die Färbung der Wolle mit pflanzlichen Farben war, darum war die gefärbte Wolle aus dieser Gegend im ganzen römischen Reich berühmt. Zum Färben brauchte man außerdem noch andere Zutaten, häufig Urin. Jedenfalls waren die Färbereien wie die Gerbereien stinkende Orte. Man versuchte sie außerhalb der Städte unter Berücksichtigung der Hauptwindrichtung anzusiedeln. Wollfärberei und Wollhandel lagen in der Regel in einer Hand.“[2] Das hier beschriebene Handwerk wurde im römischen Reich vor allem von Frauen ausgeübt und zu den verachteten Berufen gezählt.
Lydia, deren Name lediglich Lydierin heißt und auf eine unbedeutende Herkunft deutet, war aus Thyatira in Lydien nach Philippi gekommen. Dort hält sie sich außerhalb der Stadtmauern auf. Darin drückt sich ihr Status aus: „Lydia und ‚ihr Haus‘ lebten am Rande“ der „Gesellschaft aus drei Gründen: wegen ihrer ‚dreckigen Arbeit‘, ihrer Herkunft – sie sind Fremde und aus dem Osten – und wegen ihrer Zugehörigkeit (siehe Apg 16,19f).“[3] Die Apostelgeschichte erzählt, dass Lydia „und alle, die zu ihrem Haus gehörten“ (16,15), getauft wurden. Die Rede vom ‚Haus der Lydia‘ lässt viele sich Lydia als reiche Sponsorin der messianischen Gemeinde vorstellen. Dem steht aber die soziale Wirklichkeit entgegen. Die Rede von ‚ihrem Haus‘ deutet eher darauf hin, dass es sich um einen sozialen Zusammenhang handelt, der sich um die „Gebetsstätte“ bzw. im Umfeld der Synagoge gruppiert. „Es gibt auch außerbiblische Quellen, die die Existenz von Frauengruppen belegen, die die jüdische Religion freiwillig annehmen und ohne männliche Leitung oder sonstige Legitimation als Frauengruppe praktizierten.“[4]
Lydia und ihr Haus werden getauft. Mit der Taufe ist ein Wechsel der Loyalität verbunden. Im griechischen Original ist von Treue gegenüber dem ‚Herrn‘ die Rede. Diese Formulierung verschwindet in der neuen Einheitsübersetzung, wenn sie vom „Glauben an den Herrn“ spricht. Die Treue der Lydia gilt dem ‚Herrn‘, Israels Gott, wie er sich im Messias Jesus, den die messianische Gemeinde in einem Atemzug mit Israels Gott als ihren ‚Herrn‘ bekennt, offenbart hat. Das ist die Zusage der Treue an einen von Rom Hingerichteten und die Aufkündigung der Treue gegenüber dem Kaiser als dem ‚Herrn und Gott‘ des römischen Imperiums. Vor diesem Hintergrund fragt Lydia noch einmal nach, ob Paulus und Timotheus ihr schon soweit über den Weg ‚trauen‘, dass sie in ‚ihrem Haus‘ zu Gast sein wollen.
Ob Paulus und Timotheus Lydias Einladung gefolgt sind, wird nicht erzählt. Zunächst einmal wandern die Apostel wegen des Aufruhrs, der um eine Wahrsagerin entstanden war, ins Gefängnis (16,16ff). Nach ihrer Entlassung finden sie in Lydias Haus Unterschlupf (16,40). Sie zögert nicht, verfolgten und im Gefängnis misshandelten Messianern ‚Asyl‘ zu gewähren.
Lydia hat – so Luise Schottroff – „in der Kraft, die sie in der Beziehung zum Gott Israels fand, Solidaritäten aufgebaut: die Gemeinschaft einer jüdisch lebenden Frauengruppe und in Fortführung dieser Gemeinschaft eine christliche Hausgemeinde … Für mich ist an dieser Geschichte besonders wichtig, den innigen Zusammenhang von Kraft, die aus der Beziehung zum Gott Israels kommt, und Gemeinschaft zu erkennen. Lydia hat Menschen zusammen gebracht und ihr gemeinsames Leben neu zu gestalten mitgeholfen. Die Suche nach der Frauengeschichte, nach der Geschichte von leitenden Frauen kann aus unterschiedlichen Perspektiven erfolgen. Wir können nach der Leitung von Frauen fragen und dabei unter ‚Leitung‘ das verstehen, was wir in vorhandenen gesellschaftlichen Institutionen – vor allem der Kirche – an Leitung vor Augen haben. Es ist eine mehr oder weniger verhüllte Männer-Gewalthierarchie, die selbst die Männer nicht glücklich macht. Eine andere Perspektive auf die Frauengeschichte und die Geschichte leitender Frauen ermöglicht Lydias Geschichte. Ihre Leitung entstand daraus, dass sie Menschen in einer Gemeinschaft zusammen brachte, die sich am Gott Israels und später dann auch an Jesus orientierte. Diese Gemeinschaft verstand sich als Senfkorn des kommenden Gottesreiches. Die Macht, die in dieser Gemeinschaft wuchs, war nicht Macht, die andere klein macht, sondern Macht, die geteilt wird und andere groß machen will, wenn sie klein und elend sind.“[5]
[1] Vgl. Ivoni Richter-Reimer, Die Geschichte der Frauen rekonstruieren. Betrachtungen über die Arbeit und den Status von Lydia in Apg 16, in: Texte & Kontexte. Exegetische Zeitschrift 14. Jahrgang, Nr. 51, Berlin 1991, 16-29, 23.
[2] Luise Schottroff. LYDIA. Eine neue Qualität der Macht, in: diess., Befreiungserfahrungen. Studien zur Sozialgeschichte des Neuen Testaments, München 1990, 305-309, 305.
[3] Ivoni Richter-Reimer (Anm. 1), 23.
[4] Luise Schottroff, (Anm. 2), 306.
[5] Ebd., 308.