Das Stadtbild
„Im Stadtbild“ gebe es da „noch dieses Problem“ raunte der Bundeskanzler. „Dieses Problem“ waren Migrant*innen, die nicht ins Bild passen. Sie sind sogar gefährlich, wie „Töchter“ scheinbar belegen können. Die Lösung ist einfach: Abschiebung und Vertreibung. Menschen, die nicht ins Bild passen, verdienen nicht gesehen zu werden und schon gar kein Ansehen. Wer dem deutschen Normalo nicht passt, wird aussortiert. ‚Draußen bleiben‘ sollen alle, „die nicht arbeiten“, dazu gehören diejenigen, deren Arbeit nicht verwertbar ist – sogar Fremde, die willig sind, oft für wenig Lohn in prekärer Beschäftigung Lücken auf dem Arbeitsmarkt zu stopfen.
In den Menschen, die aus dem „Stadtbild“ verschwinden sollen, werden globale und gesellschaftliche Probleme sichtbar: Menschen, die geflohen sind, weil ihre Lebensgrundlagen zerstört sind, Menschen ohne Obdach, deren Zahl steigt, weil immer mehr Menschen arm werden, Wohnungslose, die Wohnung und Lebensunterhalt nicht mehr bezahlen können, in Armut Getriebene, Alkohol- und Drogenkranke… Sichtbar wird, was diese Gesellschaft und ihre Bundesregierung ‚sich leisten‘ und vor allem, dass ‚wir‘ uns den Kapitalismus nicht mehr leisten können, der Menschen, deren Humankapital nicht verwertbar ist, abstürzen lässt und die Grundlagen des Lebens zerstört.
Das ‚Stadtbild‘ und die mit ihm verbundenen Ängste, haben viele Gründe: finanzielle Überforderung der Kommunen, zerfallende Infrastruktur, der Rückzug des Einzelhandels, die Vereinzelung in einer Gesellschaft, steigende Kosten für den Lebensunterhalt, Vernichtung bezahlbaren Wohnraums durch den Bau von Luxuswohnungen. „Wohnen auf der Sonnenwiese“ hieß ein Wohnviertel in Niederberg. Bisherige Mieter wurden diskriminiert und unter Druck gesetzt, eine andere Wohnung zu suchen. Die Mieten wurden erhöht, zahlungswillige und -fähige Mieter zogen ein.
Wir haben schon vor Jahren über die ausgrenzenden Maßnahmen in unserer Stadt geschrieben und dagegen protestiert. Rhein-Zeitungs-Artikel berichteten von Obdachlosen, die vor dem Hauptbahnhof Leute anpöbelten und in die Ecken urinierten. Es wurde beschrieben, dass Menschen die Straßenseite wechselten, um den stinkenden und krakeelenden Obdachlosen auszuweichen. Die Ursachen dieser Zustände wurden nicht beleuchtet. Auf der Löhrstraße war es manchen Einkäufer*innen unangenehm, an Bettlern vorbei zu müssen, das Wohlgefühl des Konsums wurde gestört. Die Armut sollte unsichtbar sein.
Indessen wurde die Wohnungsnot immer größer. Aber nicht Armut und Wohnungsnot wurden bekämpft, sondern Obdachlosen verboten, auf Bänken zu schlafen.
Konkurrenz gibt es auch unter den Städten. Deshalb versucht jede durch ein „Alleinstellungsmerkmal“ die anderen auszustechen, um möglichst viele Kund*innen und Tourist*innen anzulocken. Leitbild ist der zahlungsfähige Kunde. Menschen, die nicht in dieses Bild passen, wirken abstoßend und werden ausgestoßen: Arme, Bettler, Obdachlose oder auch Menschen, die einfach nur fremd aussehen.
Steigende Lebenshaltungskosten und unbezahlbarer Wohnraum gehen einher mit prekärer Beschäftigung und zu geringem Lohn. Betroffene sollen sich in ihr Schicksal fügen, den Weg in die Armut antreten und sich auch noch schämen. Dass dem so sein muss, beschreibt der Wirtschaftswissenschaftler Hans-Werner Sinn in leichter Sprache und mit einem Beispiel das allen unmittelbar einsehbar ist – jedenfalls für diejenigen, die sich den Kapitalismus leisten können: „So wie der Apfelpreis umso niedriger sein muss je größer die Apfelernte ist, damit alle Äpfel ihre Abnehmer finden, muss auch der Lohn der Arbeitnehmer … umso niedriger sein, je mehr es von ihnen gibt, damit keine Arbeitslosigkeit entsteht. … Das ist eine bloße Beschreibung der Funktionsweise der Marktwirtschaft, die man akzeptieren muss, wenn man die Wirtschaftsform überhaupt will.“
„So sollt ihr beten: … dein Reich komme, dein Wille geschehe…“ (Mt 6,9-12)
Dein Reich komme. Dein Wille geschehe. Diese beiden Bitten aus dem „Vater unser“ sind vielen Menschen vertraut. Manchen ist jedoch nicht bewusst, wie brisant diese Bitten sind.
Dein Reich komme!
Wenn Jesus lehrt zu beten: Dein Reich komme, hatte er nicht zuerst ein Reich jenseits der Welt im Blick, sondern die Welt seiner Zeit. Sie war durch die Herrschaft des römischen Reiches geprägt. Menschen leiden unter Hunger und militärischer Unterdrückung. Kleinbauern wird Land genommen, um darauf Nahrungsmittel zu produzieren, die nach Rom exportiert werden. Menschen, die sich dagegen wehren, bekommen es mit dem römischen Gewaltapparat zu tun.
Für Jesus steht das Reich Gottes im Gegensatz zum römischen Reich. Das ist kein Zufall; denn Jesus betet als Jude zu dem Gott, der sein Volk aus der Knechtschaft Ägyptens befreit hat. Das war der Anfang der Herrschaft Gottes. So singt die Prophetin Mirjam, nachdem Israel auf der Flucht vor den Ägyptern durch das rote Meer gekommen war: „Der Herr ist König für immer und ewig“ (Ex 15,18). Wenn Israel also darum betet, dass Gottes Reich komme, geht es immer darum, dass Gott seinem Volk da entgegenkomme, wo es der Herrschaft von Reichen unterworfen ist, die andere Volker und Menschen ausbeuten und knechten. Diese Herrschaft soll durch das Reich Gottes beendet werden. Sie ist das Gegenteil von Herrschaft, nämliche Befreiung derer, die unter Herrschaft zu leiden haben, derer, die arm gemacht wurden und in ihrem Alltag den Terror der Imperien zu erleiden haben und davon gelähmt und stumm gemacht wurden. Die Bitte um Gottes Reich gibt ihnen eine Sprache, lässt sie aufleben und spüren, dass die Gewalt der Verhältnisse nicht das letzte Wort ist. Niedergedrückte können aufsehen, aufstehen und auf Gottes Reich und seine Gerechtigkeit ihr Vertrauen setzen. Entsprechend heißt es von Israels Gott in einem Psalm: „Der HERR befreit die Gefangenen.“ Er „öffnet die Augen der Blinden“ und „richtet auf die Gebeugten“ (Ps 146,7f).
Dein Wille geschehe!
Auch die Bitte ‚Dein Wille geschehe‘ ist Jesus aus der jüdischen Tradition vertraut: Gottes Wille ist, dass Befreiung von Herrschaft geschieht und Versklavte leben können. Genau das hat er mit seinem Namen versprochen. Gott hat Mose zum Pharao in Ägypten gesandt, damit er die in Ägypten versklavten Hebräer aus Ägypten herausführen könne. Mose ist irritiert und fragt zurück, was das denn für ein Gott sei, der ihm einen solchen Auftrag gebe. Auf die Frage des Mose nennt Gott seinen Namen. Diese Name lässt sich nicht übersetzen, aber in etwa so umschreiben: Ich werde als Befreier geschehen und den Befreiten die Treue halten. Der Name Gottes ist also mit einem Geschehen verbunden, dem Geschehen der Befreiung, der Rettung aus Armut und Unterdrückung, aus der Gewalt versklavender und erniedrigender Verhältnisse.
Wenn wir also beten „Dein Wille geschehe“, bitten wir darum, dass Gott endlich jene Befreiung geschehen lasse, die er mit seinem Namen versprochen hat. Und zugleich bitten wir darum, dass er uns die Kraft gebe seinen Willen auch durch uns, durch unsere Gedanken, durch unsere Worte und durch unser Handeln geschehen zu lassen.
Ein neues Stadtbild und eine neue Stadt
Wenn Gottes Wille geschieht, entsteht ein neues Stadtbild. Eine andere Stadt in einer Welt, die anders ist, beginnt Wirklichkeit zu werden. Die Bibel beschreibt dies im Bild von der neuen Stadt Jerusalem. In der Offenbarung des Johannes heißt es: „Dann sah ich einen neuen Himmel und eine neue Erde… Ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott her aus dem Himmel herabkommen. Da hörte ich eine laute Stimme vom Thron her rufen: Seht, die Wohnung Gottes unter den Menschen. Er wird in ihrer Mitte wohnen und sie werden sein Volk sein… Er wird die Tränen in ihren Augen von ihnen abwischen. Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal. Denn was früher war, ist vergangen. Er, der auf dem Thron saß, sprach: Siehe ich mache alles neu“ (Offb 21,1-6a).
Diese Stadt kommt nicht erst nach dem Tod, sondern will bereits jetzt schon zum Durchbruch kommen. Sie hat eine Chance, wenn die Mächtigen vom Thron gestürzt und die Letzten die Ersten werden, für heute formuliert: wenn der Götze Kapital von seinem Thron gestürzt wird und mit ihm sein Geist und seine Logik, in der Menschen entweder verwertbares Humankapital oder überflüssige Kostenfaktoren sind. Wenn dieser Götze vom Thron gestürzt wird, können Menschen sich den Geist und die Logik zu eigen machen, die im Namen Gottes steckt: Wenn die Schreie der Versklavten gehört werden, die Gedanken erreichen und zu Wegen der Befreiung inspirieren und ermutigen, kann eine andere Welt, eine neue Stadt entstehen. Sie ist geprägt von dem, was der Name Gottes beinhaltet: Empfindsamkeit für das, was Menschen erleiden, Mit-Leidenschaft im Einsatz gegen Verhältnisse, die Menschen erniedrigen und beleidigen, der Sehnsucht nach einer Stadt, in der Menschen nicht übergangen und nicht über ihre Leichen hinweg gegangen wird, nach einem neuen Himmel und einer neuen Erde, die auch den Toten Gerechtigkeit widerfahren lässt.
In der Sehnsucht nach einer solchen Stadt sind Lebende und Tote miteinander verbunden, mit denjenigen, deren Namen wir kennen und um die wir trauern, aber auch mit all den Toten, die wir nicht kennen, die zur Zeit Jesu in den Städten Roms und heute in den vom Kapital geprägten Städten keine Heimat, sondern nur den Tod gefunden haben. Weil wir die Sehnsucht spüren, dass Unrecht und Gewalt, Leid und Tod nicht das ‚letzte Wort‘ sind, weil wir niemanden zurücklassen wollen, weil wir auch die Hoffnung für die Toten nicht aufgeben, erinnern wir an sie und nennen stellvertretend für alle, die Namen, die uns gegenwärtig sind.
Herbert Böttcher/Peter Weinowski
Ökumenisches Netz Rhein-Mosel-Saar e.V. Gerechtigkeit · Frieden · Bewahrung der Schöpfung