Text aus neuem Netztelegramm: Gefährliche Fahrwasser! Das Bevölkerungswachstum als vermeintlich zentrales ökologisches Problem

Im Oktober wird das Netztelegramm erscheinen. Einen zweiten der ca. 10 Texte veröffentlichen wir vorab online. Der Text beinhaltet eine Kritik der Fokussierung auf das Bevölkerungswachstum im Zusammenhang mit ökologischen Zerstörungsprozessen.

Es sollte einen immer aufhorchen lassen, wenn eine Kritik an der kapitalistischen Produktions- und Lebensweise, die zu einem immer höheren Ressourcenverbrauch führt und die die Gleichgültigkeit gegen Mensch und Natur zur Grundlage hat, genau dadurch umgangen wird, dass die bloße Anzahl oder Vermehrungsrate von Menschen (natürlich meist die in den ‚Entwicklungsländern‘ – was zweifellos auch eine rassistische Komponente hat) zum eigentlichen Skandalon gemacht wird. Der Schrecken einer ‚Überbevölkerung‘ wurde bereits im späten 18. Jahrhundert durch Thomas R. Malthus mit dem von ihm formulierten Bevölkerungsgesetz ausgebreitet. Angeblich vermehren sich die Menschen in streng geometrischer Weise, wohingegen die Nahrungsmittelproduktion nur in arithmetischer Folge vergrößert werden kann. Eine Armenfürsorge wäre daher für Malthus unverantwortlich, da sie das Los der Armen nur verschlimmere. Die Armen würden sich noch weiter vermehren und alles würde schlimmer werden. Die Armen sind sozusagen die „Unglücklichen, die in der großen Lotterie des Lebens die Niete gezogen haben“ (Malthus 1977, 94; zu Malthus vgl. Kurz 1999a, 138ff.; vgl. auch Mielenz 2008). Nun blieben Malthus’ Bevölkerungsgesetz und seine perfide Rechtfertigung und Fehldeutung von Hungerkatastrophen keine bloße Theorie. Wenn aufgrund der kapitalistischen Wirtschaftsdynamik das Bedürfnis nach Nahrung sich nicht als zahlungskräftige Nachfrage auszudrücken vermochte und Hunger zur Folge hatte, waren bürgerliche Ideologen gern dabei, das Massensterben mit ‚Überbevölkerung‘ und dem ‚Kampf ums Dasein‘ zu rechtfertigten. Entsprechend unterließen sie es auch, den Hunger zu bekämpfen (etwa durch Export-Verbot von Nahrungsmitteln aus der Hungerregion und eine Verteilung abgekoppelt von der geleisteten ‚Arbeit‘).[1] In dieser grausamen kapitalistischen Logik argumentiert, würde durch humanitäre Hilfe eine Marktbereinigung des ‚Menschenmaterials‘ verhindert, d.h., es würde sich kein neues ‚Gleichgewicht‘ einstellen, wenn man die ‚Überflüssigen‘ am Leben ließe.

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert wurde von vielen als Haupthindernis für die nachholende Entwicklung von sog. Dritte-Welt-Ländern das Bevölkerungswachstum angesehen. So war man bestrebt, das Bevölkerungswachstum in der ‚Dritten Welt‘ zu reduzieren. Dazu wurde Entwicklungshilfe an entsprechende Maßnahmen gekoppelt. Diese Maßnahmen bestanden u.a. darin, an Frauen der ‚Dritten Welt‘ neue Verhütungsmethoden zu testen, die in den Industrieländern nicht zugelassen wurden (vgl. dazu z.B. die Aufsätze in: Beiträge zur feministischen Theorie und Praxis Nr.14).

In den 1970er Jahren, als die ökologische Zerstörung als Thema ins öffentliche Bewusstsein rückte, wurde das malthusianische Gedankengut mit der Ökologie verknüpft. Die „Bevölkerungsbombe“ gefährde den Planeten und die „Grenzen des Wachstums“ wären bald erreicht.

Solche Argumentationsweisen haben sich bis heute gehalten und erfahren vor dem Hintergrund der Krise und der allgemeinen Tendenz, einen Krieg gegen die Armen und ‚Überflüssigen‘ zu führen, eine bedrohliche Aktualität. Nicht der Kapitalismus steht im Fokus der Kritik, sondern die Menschen selbst seien das Problem. Der Kapitalismus ist in einem Ausmaß verinnerlicht und selbstverständlich, dass er und seine Eigentümlichkeit genauso wenig wahrgenommen wird wie der Luftdruck (zumal der Kapitalismus meist nur angesehen wird als eine finstere Machenschaft der ‚oberen 1%‘ o.ä.).

In eine solche Richtung argumentierte beispielsweise Verena Brunschweiger in ihrem Buch „Kinderfrei statt Kinderlos“, das 2019 Furore gemacht hat.[2] Brunschweiger versteht sich als Feministin und kritisiert zu Recht die Ideologie der Mutterschaft, nach der eine Frau nur dann ein erfülltes Leben hätte, wenn sie Kinder in die Welt setze, was angeblich ihrer Natur entspräche. Sie kritisiert damit die Diskriminierung von kinderlosen bzw. ‚kinderfreien‘ Frauen. Brunschweiger konstatiert, dass in den westlichen Gesellschaften ein antifeministischer backlash stattfinde, nicht zuletzt vor dem Hintergrund einer pronatalistischen Offensive durch Autokraten und des ihnen entsprechenden Pöbels.[3]

Das Perfide an Brunschweigers Buch ist die Verknüpfung eines kinderfreien Lebensstils mit dem Klimaschutz: „Es ist eine Zumutung, von kinderfreien Frauen ständig Erklärungen für ihre Entscheidung zu fordern. Es bedarf einer neuen sozialen Norm, die umgekehrt von Eltern eine Erklärung dafür erwartet, warum sie glauben würden, gerade sie hätten das Recht, unser aller Leben auf diesem Planeten noch weiter zu gefährden“ (Brunschweiger 2019, 50). So solle zwecks CO2-Einsparung auf Kinder verzichtet werden. Sie beruft sich dabei auf diverse Studien (vgl. Schrader 2019). Sie unterstellt, dass die bloße Anzahl der Menschen das Problem sei und schließlich zum Ruin dieses Planeten führe. Je mehr Menschen, umso mehr Flüge und Müllberge sozusagen. Reduziere man also die Geburtenrate, so dass die Anzahl der Menschen insgesamt schrumpfe, könne sich der Planet wieder erholen. Auf Kinder zu verzichten sei auch deswegen eine richtige Entscheidung, „[d]enn die allerwenigsten Kinder lösen später als Erwachsene das Plastikproblem im Ozean oder beenden die ungerechten Verteilungsverhältnisse auf unserem Planeten“ (Brunschweiger 2019, 130). Dass das moderne Konsumspektakel kritisiert und überwunden werden könnte, schließt sie anscheinend aus (ebd., vgl. dagegen Greß 2022). Kinder werden notwendigerweise so borniert wie ihre Eltern. Besser wäre es also, sie wären erst gar nicht geboren worden. Der Antinatalismus diene also nicht nur dazu, eine Frau vor dem patriarchalen Familienknast zu bewahren, sondern auch dazu, den Planeten zu retten. Je mehr Menschen es gibt, umso mehr Elend, umso mehr Ressourcen werden verbraucht, umso schlechter geht es der Erde. Folgerichtig beruft sie sich auch auf den antinatalistischen Philosophen David Benatar, der argumentierte, moralisch sei es geboten „so wenig Leid wie möglich zu verursachen“. Daher gibt es nach Benatar „eine moralische Verpflichtung […], sich nicht zu reproduzieren“ (ebd., 37 und 36). Weniger Menschen, weniger Leid. Ein Mensch, der nicht geboren wird, leidet nicht. So einfach ist das. Aber es kommt noch besser: Brunschweiger beruft sich auch auf solche menschenfeindlichen Vereinigungen wie das VHMT, das „Voluntary Human Extinction Movement“, deren Anhänger der Überzeugung sind, dass die Biosphäre erst dann eine Chance auf Erholung bekäme, wenn der Mensch aus ihr verschwunden wäre (ebd., 117). In einem Interview mit dem „Westfalen-Blatt“ (13.3.2019) sagte Brunschweiger, dass ihr zwar eine solche Position „zu krass“ sei. Aber, so Brunschweiger weiter, sie „verstehe, dass es Menschen gibt, die das gut fänden. Es wäre für die restliche Biosphäre natürlich nicht schlecht, wenn die sich mal ein bisschen erholen könnte vom Menschen und die Tiere und Pflanzen ein bisschen in Harmonie leben könnten. Aber wenn wir in Deutschland 38 Millionen statt 80 Millionen wären, dann würde es passen, dass eine Erde reicht. Aber momentan bräuchten wir drei Erden.“ Andererseits deutet sie an, dass die Zerstörung der Umwelt doch nicht nur von der bloßen Anzahl der Menschen abhängt; so erwähnt sie, dass ein britisches „Kind 30 Mal mehr die Umwelt verschmutzt und die Ressourcen vergeudet als ein Kind aus der Sub-Sahara“ (Brunschweiger 2019, 112). Diesen Gedanken verfolgt sie nicht weiter, zumal sie wohl implizit voraussetzt, dass mehr Wohlstand auch mehr Angleichung an die westlichen kapitalistischen Staaten bedeutet, mit der entsprechenden Ressourcenverschleuderung und der Produktion von Unsinn und Plunder.

Ginge es also um eine progressive Bevölkerungspolitik, die nicht menschenfeindlich ist, die nicht Menschen ihre bloße Existenz vorenthält, müssten die sozialen Umstände mit in den Blick kommen, da eine hohe Kinderanzahl wohl kaum durch eine patriarchale Gebär-Ideologie allein bedingt ist, sondern vor allem durch sozio-ökonomische Lebensumstände (neben Bildung, Urbanisierungsgrad u.a., vgl. Bricker/Ibbitson 2019). Heide Mertens schreibt dazu: „Nicht die geeignete Verhütungsmedizin, sondern die sozialen Umstände, unter denen Frauen Kinder bekommen, sind entscheidend für die Anzahl ihrer Kinder. Nicht die Zahl der Menschen bestimmt den Umweltzustand, auch nicht allein das technologische Niveau der Naturbearbeitung, sondern die Art und Weise, wie Menschen produzieren“ (Mertens 1994, 182).

Üblicherweise in unseren Tagen steht jedoch nicht das gesellschaftliche System im Fokus der Kritik, sondern die vom Kapitalismus überflüssig gemachten und vor Umweltzerstörungen und Kriegen fliehenden Menschen werden als das eigentliche Problem angesehen. Im Hinblick auf die Gegenwart bleibt ein ‚Überbevölkerungsdiskurs‘ daher äußerst brisant, „denn gerade in der aktuellen Ökobewegung wird wieder leichtfertig davon ausgegangen, dass es erstens ‚zu viele‘ Menschen gebe, die zweitens mit ihrem ungezügelten Konsum die Erde kaputt machen“ (Wildcat Nr. 104, 21).

Keineswegs handelt es sich hierbei um sog. Einzel- oder Extremfälle. „Die Liste des durch den Klimawandel hervorgerufenen reaktionären Schwachsinns ist lang“, wie der Ökosozialist Daniel Tanuro feststellt (Tanuro 2015, 128). So wurden von Ökonomen ernsthaft Vorschläge unterbreitet, „ob man nicht den Markt für Emissionsrechte von Klimagas durch einen Markt ‚des Rechts auf Fortpflanzung‘(!) ergänzen sollte, um die Auswirkungen der Demografie in den Entwicklungsländern auf das Klima zu kontrollieren“ (ebd.). Ökonomen der „London School of Economics“ rechnen nicht geborene Menschenleben und ihren mutmaßlichen CO2-Ausstoß mit dem eingesparten CO2 grüner Technologien auf. So haben diese ideologischen Schergen ausgerechnet, dass „eine Ausgabe von sieben Dollar für die Familienplanung bis 2050 pro Jahr mehr als eine Tonne CO2 einzusparen [ermöglichte]. Um dasselbe Resultat mittels grüner Technologien zu erreichen, müsste man 32 Dollar einsetzen“ (ebd. 130). Zwei sog. ‚Experten‘, die 2003 eine Studie für das Pentagon verfasst haben, warnen vor einer „Flut von Klimaflüchtlingen“(!) und schlussfolgern, Länder wie die USA und Australien würden „wahrscheinlich Festungen errichten“. Sie schreiben „kaltblütig“, wie Tanuro aufführt, „dass, ‚um diese Festungen [herum] die durch den Krieg, aber auch Hunger und Krankheiten verursachten Toten den Umfang der Bevölkerung reduzieren würden, die sich dann mit der Zeit der Tragfähigkeit [des Ökosystems] anpassen würde‘“ (ebd., 127f.). Ein menschenfeindlicher Diskurs, eine ‚Überbevölkerung‘ in der ‚Dritten Welt‘ für den Klimawandel verantwortlich zu machen, läuft auf nichts anderes hinaus als auf „die massive Ausrottung der Armen, als würde es sich um überzählige Lemminge handeln“ (ebd., 128). Solche reaktionären bevölkerungspolitischen Diskurse kommen auch von der UNO, von der man vielleicht naiverweise denken könnte, „sie sei über jeden Verdacht erhaben“ (ebd., 128, vgl. ausführlich dazu mit Schwerpunkt Äthiopien: Abeselom 1995). Im Übrigen ist die Behauptung, die Bevölkerung werde stets weiter wachsen, empirisch keineswegs haltbar (das kann hier nicht weiter diskutiert werden: vgl. dazu Bricker/Ibbitson 2019, Trumann 2024 und Wildcat Nr. 104, 20ff.).

Längst hat ein ‚malthusianischer Diskurs‘ auch in den Reihen der Ökosozialisten und Postwachstumsökonomen Eingang gefunden. Zum Teil werden dort extrem reaktionäre Positionen vertreten. Im deutschsprachigen Raum wird eine ‚Überbevölkerungsthese‘ etwa von den Ökosozialisten Bruno Kern und Saral Sarkar vertreten. Sarkar führt in seinem Buch (von Bruno Kern übersetzt und herausgegeben) zahlreiche kriegerische oder gewalttätige Konflikte an und führt sie, mehr oder weniger biologistisch argumentierend, auf eine Überbevölkerung zurück (neben Nationalismus und Identitäten). Selbst der Nahostkonflikt (!) soll Überbevölkerung als wesentlichen Grund haben: „Doch die meisten Beobachter und Kommentatoren lassen die tiefere Ursache der Unlösbarkeit des Konflikts unerwähnt, dass es sich nämlich um einen Krieg um Geburtenraten handelt“ (Sarkar 2025, 45, vgl. dagegen: Wistrich 1987 und Tarach 2010)!

Ausdrücklich distanziert sich Kern von einem Malthusianismus „im Sinne einer ‚Selektion von Überflüssigen‘“ (Kern 2019, 37). Überbevölkerung ist nach Kern auf den „jeweiligen ökologischen Fußabdruck zu beziehen, und an diesem Maßstab gemessen, sind gerade die reichen Industrienationen ‚überbevölkert‘“ (ebd.). Damit ist eigentlich bereits gesagt, dass ‚Überbevölkerung‘ hier nicht wirklich etwas mit der bloßen ‚Menschenanzahl‘ zu tun haben kann, sondern viel mehr mit einer destruktiven Lebens- und Produktionsweise.

Andererseits schreibt Kern: „Mehr Menschen bedeutet mehr in Beton gegossene Infrastruktur und Flächenversiegelung, Wohnungen, Krankenhäuser, Straßen, Fabriken, großskalige Energieversorgungssysteme etc.“ (Kern 2024, 111). Und: „Es ist trivial: Die Ressourcen sind umso knapper, je mehr Menschen sie für sich in Anspruch nehmen“ (ebd, 106). Es ist für Kern in Konsequenz „unabdingbar, sämtliche Möglichkeiten zu prüfen, wie auf nichtrepressive[4] Weise das Bevölkerungswachstum eingedämmt werden kann“ (Kern 2019, 38).

Kern verweist noch auf einen anderen Aspekt und zwar auf den der Endlichkeit landwirtschaftlicher Produktion überhaupt und dass die Erde daher nicht beliebig viele Menschen ernähren könne (auch nicht in einer vom Kapitalismus befreiten Gesellschaft), zumal der Umfang landwirtschaftlich nutzbarer Fläche aufgrund von Bodenerosion und Wüstenbildung zurückgehe (Peak Soil). Der Klimawandel werde dies noch enorm weiter verschärfen. Hochrechnungen, die zeigen, dass problemlos zehn oder mehr Milliarden Menschen ernährt werden könnten, „gehen von falschen Voraussetzungen aus, etwa von der derzeitigen intensiven landwirtschaftlichen Nutzung des Bodens, die selbstverständlich nicht nachhaltig ist“. Eine nachhaltige Landwirtschaft würde – so Kern – „flächenextensiver und weniger ertragreich sein“ (Kern 2015, 335).

Dieser ‚Argumentation‘ wäre entgegenzuhalten: Wenn zum einen mehr und mehr Weltregionen aufgrund des Klimawandels unbewohnbar werden sollten, also ökologisch ruiniert werden, muss man sich auf nie dagewesene Flüchtlingsbewegungen und Hungersnöte gefasst machen. Zentral dabei ist, dass demografische Änderungen eine andere Zeitskala haben und es daher unsinnig ist, durch Bevölkerungspolitik den Klimawandel aufhalten zu wollen: „Die Demografie ist ein Faktor, den man berücksichtigen muss, aber kein Grund für den Klimawandel und noch weniger eine Lösung hinsichtlich der Herausforderung einer drastischen Reduzierung der Emissionen, die in äußerst kurzen Zeiträumen erfolgen muss“ (Tanuro 2015, 129, Hervorh. TM).

Zum anderen wäre den Mathusianern stattdessen die Frage entgegenzuhalten: Wie kann man die Ernährung sicherstellen, ohne einen Teil der Menschheit für überflüssig oder die Welt für überbevölkert zu erklären? Dass ökologischer Landbau mitunter weniger ertragreich wäre, muss nicht unbedingt bedeuten, dass insgesamt weniger Nahrung vorhanden wäre, wenn zugleich die Essgewohnheiten geändert würden (weniger tierische Produkte etwa) und die teils enorme Lebensmittelverschwendung aufhörte. Das verdiente Aufmerksamkeit und nicht das Reden von Überbevölkerung (was wiederum keineswegs eine sinnvolle Familien-, Bildungs- und Sexualpolitik ausschließt). Was wenn der Planetirgendwann wirklich so ruiniert ist, dass in der Tat die Ernährung von vielen Millionen oder Milliarden nicht mehr sichergestellt werden kann (da weite Teile der landwirtschaftlichen Flächen verwüsten oder weggespült werden), die Menschheit den Kapitalismus nicht oder zu spät überwinden wird? Es ist zweifelhaft, ob das Ergebnis anders aussähe, wenn die Weltbevölkerung niedriger gewesen wäre: hier würde das malthusianische Argument nicht mehr greifen, denn in einer verwüsteten Welt wäre ja tatsächlich zu wenig da, denn zu viel Boden ist ruiniert, zu wenig geerntet worden usw. Auch dann wäre es ein Trugschluss zu sagen, es waren zu viele Menschen.

Vor allem unter Beibehaltung der Landwirtschaft als Substrat der Verwertungsbewegung des Kapitals dürfte eine Schrumpfung der Bevölkerung den Planeten keineswegs entlasten (das zeigen etwa aktuelle und künftige Rationalisierungsschübe in der Nahrungsmittelproduktion: vgl. Becker 2025). Im sog. Überbevölkerungsdiskurs kommt nie zu Sprache was genau die Gründe für Hunger sind, insbesondere, wie Hunger inmitten des Überflusses erklärt werden kann. Robert Kurz schrieb dazu: „Die gesellschaftliche Schranke der Produktion und Distribution von Nahrungsmitteln ist nicht durch mangelnde landwirtschaftliche Erträge im Verhältnis zur Zahl der Bevölkerung bestimmt, sondern durch die ökonomische Form des modernen warenproduzierenden Systems. Die Logik der betriebswirtschaftlichen Rentabilität erzwingt eine irrationale Restriktion der Ressourcen, die besonders kraß auf der elementaren Ebene der Ernährung in Erscheinung tritt. So erhalten die Menschen im Prinzip einen Zugang zu Lebensmitteln nur unter dem Vorbehalt, daß ihre Arbeitskraft rentabel vernutzt werden kann. Ist dieses Kriterium nicht erfüllbar, weil die ‚zu hohe‘ Produktivität ihre Arbeitskraft überflüssig gemacht hat, werden sie auf Hungerrationen gesetzt, obwohl die Kapazität der Erzeugung von Nahrungsmitteln gestiegen ist. Während für alle vormodernen Gesellschaften eine Rekordernte wenigstens zeitweiligen Überfluß für alle versprach, muß sie der betriebswirtschaftlichen Kalkulation des Agro-Business als Verhängnis erscheinen, weil durch das ‚Überangebot‘ die Preise gedrückt werden. Deshalb gehört es zum normalen marktwirtschaftlichen Geschäft, bei außergewöhnlich hohen naturalen Erträgen massenhaft landwirtschaftliche Produkte zu vernichten oder durch Denaturierung zu entsorgen. Der Hunger wird zum Produkt des Überflusses selbst“ (Kurz 1999b, Hervorh. TM).

Das Bevölkerungswachstum bzw. die Anzahl der Menschen zum zentralen Problem zu machen, vernachlässigt daher den wirklichen Grund für die Zerstörung der Welt: eine irrationale Produktionsweise, die alle Natur nur als Rohstoff ansieht, die alle Natur der Metamorphose des Kapitals G-W-G’ einverleiben will und dabei vollkommen von der Natur und ihren notwendigen Eigenheiten absieht und damit mehr und mehr bestrebt ist, die Natur in ein kapitalistisches Produkt zu verwandeln (was tendenziell mit ihrer Zerstörung gleichbedeutend sein dürfte). Die monströse Verwertungsbewegung des Kapitals verhindert ein Mensch-Natur-Verhältnis und Gesellschaft-Natur-Verhältnis, welche ein langfristiges Engagement oder langfristige Reproduzierbarkeit ermöglichen könnten, und nicht eine zu große Menschenanzahl – man sollte hier aber auch nicht ins Gegenteil umschlagen: Jedwede sog. ‚Instrumentalisierung‘ oder ‚Naturbeherrschung‘ per se für negativ zu befinden und sich in Abkehr von Technik und Industrie überhaupt ein harmonisches, romantisches und verkitschtes Verhältnis zur Natur einzubilden.

Es bleibt festzuhalten, dass der üblicherweise menschenfeindliche Rekurs auf eine sog. Überbevölkerung immer wieder als Ausrede gedient hat, sich nicht mit der Kritik der politischen Ökonomie und des Patriarchats auseinanderzusetzen, sondern den Armen (bes. denen der ‚Dritten Welt‘) ihre bloße Existenz vorzuwerfen und abzusprechen (vgl. Abeselom 1995; vgl. auch Kayser 1985). Stößt der Kapitalismus bestimmte Menschengruppen oder Menschenmassen ab, in dem Sinne, dass der Arbeitsmarkt (oder der Weltmarkt) sie nicht absorbieren kann, sie sich also als ‚Arbeitskraft‘ nicht verkaufen können (und daher sich ihre Bedürfnisse nicht als zahlungskräftige Nachfrage äußern können), dann wird das Problem nicht in der Unterwerfung der Menschen unter die abstrakte Arbeit gesehen oder in der Zerstörung ihrer Subsistenz bzw. Vertreibung von dieser, – nein – es sind die Menschen selbst, ihre bloße Existenz, die zum Problem gemacht werden. Entscheidend bleibt, mit der kapitalistischen Weltveränderung und -zerstörung Schluss zu machen. Die Menschenanzahl als solche zum zentralen Problem zu machen, führt letztendlich ins reaktionäre Fahrwasser.

Thomas Meyer

[1] Der indische Publizist Shashi Tharoor zeichnete während der britischen Kolonialherrschaft zahlreiche Hungerkatastrophen nach, deren Opferzahlen sich in ähnlicher Höhe befanden wie die Hungeropfer Stalins oder Maos (vgl. Tharoor 2024, 265ff.). Natürlich hatten diese Hungerkatastrophen nichts mit einer angeblichen Überbevölkerung zu tun.

[2]  Zu erwähnen ist, dass ein antinatalistischer Diskurs im englischsprachigen Raum viel weiter verbreitet ist als in Deutschland, insofern handelt es sich bei Brunschweigers Position keineswegs um eine ‚Exotenmeinung‘; vgl. auch Guastella 2025.

[3] Wo religiöse oder völkische Extremisten Einfluss bekommen, konnte man stets eine Zunahme patriarchalen Terrors beobachten und der richtet sich immer wieder gegen Reproduktionsrechte (vgl. Balance 2012), wie auch in jüngerer Zeit etwa der autoritäre Umbau der USA durch Trump zeigt. Daher wurde der religiöse Fundamentalismus zu Recht als „patriarchale Protestbewegung“ (Riesebrodt 1990) bezeichnet. Der patriarchale Kern des religiösen Fundamentalismus wurde allerdings oft von seinen meist männlichen Kritikern heruntergespielt (vgl. Sauer-Burghard 1992).

[4] Ich nehme an, Kern hat hier eugenische Maßnahmen oder Chinas frühere Ein-Kind-Politik im Blick.

Literatur

Abeselom, Kiros: Der Mythos der Überbevölkerung als Mittel zur Wahrung der bestehenden gesellschaftlichen Strukturen – Die theoretischen Grundlagen der UNO-Bevölkerungskontrollpolitik: malthusianische und neo-malthusianische Wurzeln, Bonn 1995.

Autorenkollektiv: Wildcat Nr. 104, Köln Winter 2019/20.

Becker, Matthias Martin: Bodenlos – Wer wird die Welt ernähren? – Umbrüche in Agrobusiness und Tierindustrie, Klön 2025.

Bricker, Darrell; Ibbitson, John: Empty Planet – The shock of global population decline, London/New York 2019.

Brunschweiger, Verena: Kinderfrei statt kinderlos – Ein Manifest, Marburg 2019.

Familienplanungszentrum – Balance (Hg.): Die neue Radikalität der Abtreibungsgegner_innen im (inter)nationalen Raum – Ist die sexuelle Selbstbestimmung von Frauen heute in Gefahr?, Neu-Ulm 2012.

Greß, Johannes: Konsumideologie – Kapitalismus und Opposition in Zeiten der Klimakrise, Stuttgart 2022.

Guastella, Dustin: Eine Linke, die Angst vor der Zukunft hat, ist zum Scheitern verurteilt, jacobin.de vom 9.7.2025, online: https://jacobin.de/artikel/zukunft-antinatalismus-strategie.

Kayser, Gundula: Industrialisierung der Menschenproduktion – Zum faschistischen Charakter der Entwicklung neuer Technologien der Geburtenkontrolle, in: Beiträge zur feministischen Theorie und Praxis Nr. 14, Köln 1985, 55-67.

Kern, Bruno: Das Märchen vom grünen Wachstum – Plädoyer für eine solidarische und nachhaltige Gesellschaft, Zürich 2019.

Kern, Bruno: Industrielle Abrüstung jetzt! – Abschied von der Technik-Illusion, Marburg 2024.

Kern, Bruno: Karl Marx – Texte – Schriften – Ausgewählt, eingeleitet und kommentiert von Bruno Kern, Wiesbaden 2015.

Kurz, Robert: Schwarzbuch Kapitalismus – Ein Abgesang auf die Marktwirtschaft, Frankfurt 1999a. Online: https://exit-online.org/pdf/schwarzbuch.pdf.

Kurz, Robert: Natura denaturata: Die Ernährung der Menschheit durch den Kapitalismus, 1999b, Online: https://www.medico.de/natura-denaturata-13898.

Malthus, Robert: Das Bevölkerungsgesetz, München 1977, zuerst 1798.

Mertens, Heide: Frauen, Natur und Fruchtbarkeit – Die Bevölkerungsdebatte und die ökologische Tragfähigkeit der Erde, in: Wichterich, Christa (Hg.): Menschen nach Maß – Bevölkerungspolitik in Nord und Süd, Göttingen 1994, 181-200.

Mielenz, Christian: Wie die Karnickel – Biologisierung und Naturalisierung kapitalistischer Phänomene am Beispiel der These einer »Überbevölkerung“, in: exit! – Krise und Kritik der Warengesellschaft Nr.5, Bad Honnef 2008, 105-126.

Riesebrodt, Martin: Fundamentalismus als patriarchale Protestbewegung, Tübingen 1990.

Sarkar, Saral: Krieg, Gewalt und die Grenzen des Wachstums, Marburg 2025.

Sauer-Burghard, Brunhilde: Wie mann Frauen als Aggressionsobjekte unsichtbar macht – Fundamentalismen im Diskurs der patriarchalen „kritischen“ Wissenschaft, in: Beiträge zur feministischen Theorie und Praxis Nr. 32, Köln 1992, 59-65.

Schrader, Christopher: Die Kinder und der Klimaschutz, spektrum.de vom 13.3.2019, online: https://www.spektrum.de/news/die-kinder-und-der-klimaschutz/1629194.

Tarach, Tilman: Der ewige Sündenbock: Heliger Krieg, die ‚Protokolle der Weisen von Zion‘ und die Verlogenheit der sogenannten Linken im Nahostkonflikt, Freiburg/Zürich 2019, 3. überar. Aufl.

Tanuro, Daniel: Klimakrise und Kapitalismus, Köln 2015, zuerst Paris 2010.

Tharoor, Shashi: Zeit der Finsternis – Das Britische Empire in Indien, Berlin 2024, zuerst Neu Delhi 2016.

Trumann, Andrea: Kostenfaktor Kind Die Geburtenrate sinkt ungeachtet politischer Maßnahmen, jungle.world vom 16.5.2024, online: https://jungle.world/artikel/2024/20/geburtenrate-weltweit-sinkt-kostenfaktor-kind.

Wistrich, Robert: Der antisemitische Wahn: Von Hitler bis zum Heiligen Krieg gegen Israel, Ismaining bei München 1987.