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Die Festnahme eines Ägypters zwecks Abschiebung im Kreis Neuwied macht den inhumanen und zynischen Charakter von Asylpolitik und Abschiebepraxis erneut deutlich. Ein Mann aus Ägypten wurde unter dem Vorwand zur Ausländerbehörde bestellt, sein Aufenthalt solle geregelt werden, damit er das Ausbildungsangebot eines Krankenhauses annehmen könne. Auf der Behörde warteten Polizisten, die den Mann festnahmen. Für das heimtückische Vorgehen wurde auch noch eine Beraterin der Caritas instrumentalisiert, die den Mann begleitet hatte. Mehrere Anfragen zu dem Fall ließ die Kreisverwaltung Neuwied unbeantwortet. In jedem Fall ist das Vorgehen der Kreisverwaltung ein Indikator dafür, dass es in der neuen Migrations- und Abschiebepolitik darum geht, so viele Menschen wie möglich und um jeden Preis abzuschieben.
Daran, dass alles rechtlich korrekt abgewickelt wurde, ist nicht zu zweifeln. Menschen rechtlich korrekt in Unglück und Tod zu treiben, ist dem bürgerlichen Rechtsstaat keineswegs fremd, sondern gehört zu ihm. „Es gibt viele Arten zu töten. Man kann einem ein Messer in den Bauch stechen, einem das Brot entziehen, einen von einer Krankheit nicht heilen, einen in eine schlechte Wohnung stecken, einen durch Arbeit zu Tode schinden, einen in den Krieg führen, und so weiter. Nur weniges davon ist in unserem Staat verboten“, heißt es bei Bertolt Brecht[1]. Der heimtückisch-zynische Umgang mit Fliehenden und Geflohenen ist durch die Verschärfung der Asyl- und Abschiebegesetzgebung seit den 1990er Jahren in parteiübergreifendem Konsens der Demokraten ständig vorangetrieben worden. Er ist zugleich Ausdruck von bereitwillig bedienten und verschärften Stimmungslagen in der Bevölkerung. Sie wiederum ist eine Reaktion auf die sich verschärfenden Krisen des Kapitalismus, der global auf seine Grenzen stößt, Kapital durch die Verausgabung von Arbeit zu akkumulieren. Damit geraten Staaten an die Grenzen ihrer Finanzierungs- und Handlungsmöglichkeiten. Die Konsequenzen sind Sozialabbau und Abschottung ebenso wie die viel beklagte marode Infrastruktur. Dass die Gesellschaft, dem Fetisch der Kapitalverwertung als Selbstzweck unterworfen ist, zeigt in den sog. Vielfachkrisen ihre tödlichen Auswirkungen. Dennoch ist die Kritik der fetischisierten kapitalistischen Verhältnisse tabu. Je weniger sie halten, was sie versprechen, desto mehr klammern sich Menschen an sie, wollen sie mit ‚Zähnen und Klauen‘ gegen diejenigen verteidigen, die als Bedrohung der Normalität wahrgenommen werden. Dies sind vor allem Fliehende, aber auch Staatsbürger, die unter den Verdacht gestellt werden, Arbeit zu verweigern und den Sozialstaat zu belasten.
Die ‚miese Stimmung‘ bleibt
Die regierenden Parteien haben diese Stimmungslagen konsequent bedient. Sie geben vor, die Demokratie vor der AfD dadurch zu retten, dass sie sich ihre Parolen und Politik ‚zu eigen‘ machen. Als Spitze des Eisbergs sei an Julia Klöckner erinnert, die im Bundestagswahlkampf verbreiten ließ, wer die Politik der AfD wolle, könne und solle die CDU wählen. Inzwischen können diejenigen, die in der Migration „die Mutter aller Probleme“ (Seehofer) sehen, signifikante Erfolge verbuchen. Grenzkontrollen sind eingeführt, die ‚Schlagzahl‘ der Abschiebungen erhöht, auch in zerfallende und repressiv regierte Staaten, der Familiennachzug eingeschränkt, die Zahl der Anträge auf Asyl spürbar gesenkt und Gelder für Seenotrettung aus dem Bundeshaushalt gestrichen. Dennoch konnte der versprochene Umschwung in der Stimmungslage nur mäßig und vorübergehend erreicht werden. Inzwischen herrscht wieder ‚miese Stimmung‘. Union und AfD liegen nahezu gleich auf. Offensichtlich funktioniert es nicht, die AfD dadurch zu bekämpfen, dass ihre Vorstellungen von Migration übernommen und ihr asylrechtlich ‚Recht‘ gegeben wird.
Offensichtlich ist Migration auch nicht die „Mutter aller Probleme“. Im Gegenteil, sie hat ihre Ursache in anderen Problemen treiben. Zur Migration treiben: Armut und zerfallende Staaten, Kriege zwischen Staaten und zwischen Banden in zerfallenden Staaten und nicht zuletzt die ökologischen Probleme, die sich in Klima- und Ressourcenkrise zeigen und die Grundlagen allen Lebens zerstören. Dass die blinde Förderung des Wachstums wie die Militarisierung die ökologischen Problemlagen verschärfen, steht weder auf der Agenda der Politik noch gehört es zum Themenspektrum politischer Talk-Shows und Kommentierung. Der Un-Geist weht sozialdarwinistisch nach dem Motto ‚Rette sich, wer kann‘. Und wer nicht kann, bleibt im Kampf aller gegen alle auf der Strecke.
Erdüberlastungstag immer früher
Irritierend für den politischen Krisenbetrieb müsste die Meldung sein, dass der Erdüberlastungstag auch in diesem Jahr wieder früher erreicht wurde, eine Woche früher als im Vorjahr. Darin kommt die Ausbeutung der Ressourcen mehr als deutlich zum Ausdruck. Die Schulden gegenüber dem Planeten Erde werden Menschen in armen Ländern als erste und später kommende Generationen zu bezahlen haben. Wenn es um Sozialabbau und Abschottung geht, hält das demokratische Politiker*innen selbstredend nicht davon ab, davon zu schwadronieren, kommenden Generationen dürften wir nicht die Schulden von heute aufbürden. So absurd es ist: Diejenigen, die mit der Verursachung der Probleme am wenigstens zu tun haben, müssen die Zeche mit der Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen zahlen. Und wenn sie fliehen und es bis nach Europa schaffen, werden sie mit List, Heimtücke und Repression, aber rechtsstaatlich korrekt in Elend und Terror zurück geschickt. Dafür übernehmen die Demokraten keine Verantwortung, sondern bewahren sich ihr gutes Gewissen dadurch, dass sie sich formal auf Recht und Gesetz berufen – auch wenn solcher Formalismus auf rechtlich korrektes Töten hinausläuft.
Militarisierung tötet schon ohne Krieg
Neue Milliardenschulden kommen auf kommende Generationen durch die im Interesse von militärischer Kriegsfähigkeit wie den Ausbau kriegsrelevanter Infrastruktur durchgesetzte Militarisierung. Zur Begründung des Kriegsfähigkeitswahns reicht das Mantra: „Putin kommt“ (Jens Spahn). Da erübrigt sich ein Blick auf die ansonsten beschworene Realität: auf die deutschen Militärausgaben, die sich von 2014 bis 2024 mehr als verdoppelt haben, auf Russland jetzt schon überlegene Militärbudgets, Truppenstärke und Großwaffensysteme wie realistische Bedrohungsanalysen[2]. Den Kriegsertüchtigungswahn wird selbst die Mahnung des Bundesrechnungshofs vor einer „Geld spielt keine Rolle“-Mentalität nicht irritieren können. „Rüstung tötet auch ohne Krieg“ hieß es in der Friedensbewegung der 1980er Jahre. Der Rüstungswahn wird auch jetzt „Menschenleben kosten, weil dringend benötigte Hilfe nicht bereitgestellt werden kann“[3]. Obwohl inmitten der Krise des Kapitalismus die globalen sozialen und ökologischen Probleme eskalieren und soziale Spaltung, Flucht, Terror und Krieg hervortreiben, in Deutschland die sozialen Systeme unterfinanziert sind, sollen die Etats für Umwelt, Familien, Bildung und Forschung gekürzt werden. Die humanitäre Hilfe soll halbiert (1,2 Milliarden Euro weniger) und beim BMZ 950 Millionen gestrichen werden – all das, obwohl nach Angaben der Welthungerhilfe 733 Millionen Menschen hungern. Hinzu kommt die Abwicklung der US-Entwicklungsbehörde USAID. All das geschieht in Ignoranz gegenüber der Realität, die darüber belehren könnte, dass infolge der Klimakrise, bewaffneter Kriege und zunehmender globaler Ungleichheit die Zahl der 733 Millionen hungernder Menschen seit 2019 um 152 Millionen gestiegen ist. Das alles kostet Menschenleben, macht auch die Präsidentin der Welthungerhilfe deutlich: „Was auf dem Papier wie ein Sparkurs aussieht, bedeutet für Millionen Menschen Hunger, Flucht oder sogar den Tod“[4].
Emanzipatorische Perspektiven?
Den Grund dafür, inhaltliche politische Verantwortung zu übernehmen, deutet die Misereor-Expertin für nachhaltiges Wirtschaften an, wenn sie darauf hinweist, die profitorientierte Wirtschaftsweise überstrapaziere die Kapazitäten der Erde, und daran erinnert, dass die ressourcenintensive Wirtschaft Deutschlands und der EU die Schonung der Ressourcen verhindere, und feststellt, der hohe Ressourcenverbrauch werde „durch Deregulierung und ausbeuterische Strukturen entlang globaler Lieferketten befeuert“[5]. Das Problem ist aber nicht einfach „die profitorientierte Wirtschaftsweise“ – jedenfalls dann nicht, wenn sie auf das Agieren von Einzelunternehmen bezogen ist. Die Einzelunternehmen sind vielmehr eingebunden in das Ganze der kapitalistischen Gesellschaft und deren Unterwerfung unter das Gesetz der Verwertung von Kapital zwecks seiner Vermehrung als Selbstzweck. Aus der dadurch konstituierten ‚abstrakten Herrschaft‘ können Einzelunternehmen nicht einfach aussteigen, wenn sie im Konkurrenzkampf nicht aus dem Rennen geworfen werden wollen. Daraus wollen aber auch die Bürgerinnen und Bürger nicht aussteigen, weil sie glauben, Normalität und Wohlstand könnten nur gesichert werden, wenn dem Fetisch Kapital das Leben von Menschen und die letztlich die Grundlagen allen Lebens geopfert werden. Je mehr die Vermehrung des Kapitals ins Leere läuft, desto mehr geht es bei der Sicherung der kapitalistischen Veranstaltung nicht mehr ‚nur‘ um die Vernichtung anderer. In der immanenten Ausweglosigkeit des Kapitalismus und der sich immer mehr in eine wirre Mixtur aus Ignoranz, identitärem Autoritarismus, Gewalt, Militarismus und wahnhaftem Irrationalismus manövrierenden Krisenverwaltung lauert die Gefahr der Selbst- und Weltvernichtung.
Neben dem wieder einmal vorgerückten „Erdüberlastungstag“ könnte eine zweite Irritation das Urteil des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag sein. Demnach stellt das Versäumnis, die Erde und das Leben von Menschen vor den Auswirkungen des Klimawandels und ökologischer Zerstörungen zu schützen, einen Verstoß gegen das Völkerrecht dar. Nun befindet sich das immer schon je nach Interessenlagen interpretierbare Völkerrecht inmitten der Krise des Kapitalismus, die auch vor den Großmächten nicht Halt macht, ‚im freien Fall‘. Und zur Konstitution des Kapitalismus gehört es, dass Recht nicht autonom ist, sondern an den Verwertungsprozess von Kapital rückgekoppelt bleibt. Dennoch könnte es irritieren, dass in besagtem Urteil von den Opfern der kapitalistischen Zerstörungsprozesse her gedacht wird und etwas eingefordert wird, was im Rahmen des Krisenkapitalismus unmöglich ist: die Vermittlung des Zwangs der Kapitalverwertung mit den ökologischen Notwendigkeiten und dem Schutz der Grundlagen des Lebens. Wenn es eine Perspektive für eine emanzipatorische Überwindung des Kapitalismus und seines Gangs über Leichen geben soll, dann könnte es die Irritation über das sein, was er an Leid und Tod hervorbringt. „Das leibhafte Moment meldet der Erkenntnis an, dass Leiden nicht sein, dass es anders werden solle.“ Eine andere „Einrichtung (der Gesellschaft) hätte ihr Telos an der Negation physischen Leidens noch des letzten ihrer Mitglieder, und der inwendigen Reflexionsform jenes Leidens. Sie ist das Interesse aller, nachgerade einzig durch eine sich selbst jedem Leiden durchsichtige Solidarität zu verwirklichen.“[6]
Eine biblisch-theologische Reflexion
In jüdisch-christlicher Tradition konvergiert diese Einsicht mit der Beispielerzählung vom barmherzigen Samariter (Lk 10,25-37). Ausgelöst wird sie durch die Frage eines Schriftgelehrten, was er tun müsse, „um das ewige Leben zu erben“ (V. 25). Die kurzgefasste Antwort entsprechend der Tora heißt: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben … und deinen nächsten Lieben wie dich selbst (V. 27). Die Erzählung vom barmherzigen Samariter antwortet auf die Frage, wer denn der Nächste sei. Erwartet wird, dass der unter die Räuber gefallene der Nächste des Samariters ist. Am Ende der Geschichte aber verändert Jesus die Fragestellung. Es geht nicht mehr um die Frage „Wer ist mein Nächster?“, sondern um die Frage: Wer ist dem der Nächste geworden, der von den Räubern überfallen wurde? An die Stelle der Frage, wer der Nächste für den Schriftgelehrten ist, tritt die Frage, wer dem zum Nächsten wird, „der von den Räubern überfallen wurde“. Es geht nicht mehr um den Schriftgelehrten, sondern um denjenigen, der unter dem Überfall zu leiden hat. Von ihm her stellt sich die Frage, wer ihm zum Nächsten wird[7]. Durchbrochen wird der Blick, der in erster Linie auf sich selbst schaut. Eine emanzipatorische Perspektive kommt erst in den Blick, wenn der Blick auf das eigne Selbst, das eigene Volk und was es sonst noch an Identitäten gibt, überschritten, ‚transzendiert‘ wird.
Von den Opfern der kapitalistischen Zerstörungsprozesse her stellt sich die Frage, wie ‚wir‘ ihnen zum Nächsten werden können. Der Weg dahin ist die Irritation durch das Leiden der Opfer, das dieses wahnhafte wie verblüffungsfeste ‚Weiter so’ auf dem irrationalen und den anderen wie sich selbst zerstörenden kapitalistischen Krisenweg unterbricht und zur kritischen Reflexion darauf führt, wohin dieser Weg treibt. Solche Unterbrechung könnte den Kreislauf des katastrophischen ‚Weiter so‘ sprengen und Horizonte ‚ewigen Lebens’ öffnen, was ja bekanntlich nicht einfach eine jenseitige Welt bedeutet, sondern bereits eine andere Welt inmitten der Geschichte.
Geschäftsführender Vorstand des Ökumenischen Netzes Rhein-Mosel-Saar (Autor: Herbert Böttcher), Koblenz, 28.07.2025
[1] Bertolt Brecht, Gesammelte Werke Band 12, Frankfurt am Main 1968, 466.
[2] Vgl. Ohne Rüstung Leben, Informationen 193, Juli 2025.
[3] So Michael Herbst, Vorstandsvorsitzender des Entwicklungsverbandes VENRO, zitiert in Ohne Rüstung Leben 193, 2.
[4] Kölner Stadt-Anzeiger vom 25. Juli 2025.
[5] Raubbau an der Natur verschlimmert, in: Kölner Stadt-Anzeiger vom 24. Juli 2025.
[6] Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Gesammelte Schriften Band 6, Frankfurt am Main 2003, 205f.
[7] Vgl. Luise Schottroff, Gott lieben. Der barmherzige Samariter, in: Die Gleichnisse Jesu, Gütersloh 2005, 167-176.
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