„Du bist der Sohn Gottes, der König von Israel!“ (Joh 1,49)

Joh 1,43-51

43 Am Tag darauf wollte Jesus nach Galiläa aufbrechen; da traf er Philippus. Und Jesus sagte zu ihm: Folge mir nach! 44 Philippus war aus Betsaida, der Stadt des Andreas und Petrus. 45 Philippus traf Natanaël und sagte zu ihm: Wir haben den gefunden, über den Mose im Gesetz und auch die Propheten geschrieben haben: Jesus, den Sohn Josefs, aus Nazaret. 46 Da sagte Natanaël zu ihm: Kann aus Nazaret etwas Gutes kommen? Philippus sagte zu ihm: Komm und sieh! 47 Jesus sah Natanaël auf sich zukommen und sagte über ihn: Sieh, ein echter Israelit, an dem kein Falsch ist. 48 Natanaël sagte zu ihm: Woher kennst du mich? Jesus antwortete ihm: Schon bevor dich Philippus rief, habe ich dich unter dem Feigenbaum gesehen. 49 Natanaël antwortete ihm: Rabbi, du bist der Sohn Gottes, du bist der König von Israel! 50 Jesus antwortete ihm: Du glaubst, weil ich dir sagte, dass ich dich unter dem Feigenbaum sah; du wirst noch Größeres als dieses sehen. 51 Und er sprach zu ihm: Amen, amen, ich sage euch: Ihr werdet den Himmel geöffnet und die Engel Gottes auf- und niedersteigen sehen über dem Menschensohn.

Am Tag darauf wollte Jesus nach Galiläa aufbrechen…“ (1,43)

Jesus will von Betanien (1,28) nach Galiläa aufbrechen. Galiläa wurde erst ca. 100 Jahre v. Chr. mit Judäa vereinigt. Seine Bevölkerung, die teils durch Einwanderer aus Judäa, teils unter Zwang jüdisch wurde, stand in einem spannungsreichen Verhältnis zu Jerusalem. Nach dem Niederschlagen von Aufständen herrscht seit der ersten Hälfte des ersten Jahrhunderts v. Chr. Herodes über Judäa. Er und seine Nachfolger plünderten als Vasallen Roms das Land aus. Opfer waren Kleinbauern, deren Land enteignet wurde, um auf großen Flächen Nahrungsmittel für den Export nach Rom anzubauen. Galiläa blieb auch in der Zeit des Krieges der Römer gegen die Juden (66-73) und danach eine unruhige und rebellische Gegend, in der messianische Vorstellungen lebendig waren.

Wir haben den gefunden, über den Mose im Gesetz und auch die Propheten geschrieben haben...“ (1,45)

Bevor Jesus nach Galiläa aufbrechen kann, „traf er Philippus“, wörtlich übersetzt: Er ‚findet‘ Philippus. ‚Finden‘ zieht sich als Grundmotiv durch das gesamte Evangelium. In unserer Stelle erzählt Johannes: Wie Andreas seinen Bruder Petrus „findet“, so ‚findet‘ Jesus den Philippus, der wie Andreas und Petrus aus Betsaida stammt (1,44). Philippus wiederum ‚findet‘ den Natanael. Ihm sagt er weiter, was er und die anderen Jünger gefunden haben: „Wir haben den gefunden, über den Mose im Gesetz und auch die Propheten geschrieben haben…“ (1,45). ‚Mose und die Propheten‘ ist eine Formulierung, mit der die ganze Schrift zusammen gefasst ist. Die jungen Christengemeinden haben ‚die Schrift‘ (‚Mose und die Propheten‘) als ihre Bibel gelesen und sie auf den Messias Jesus hin interpretiert. Dabei ist ihnen deutlich geworden: Im Messias Jesus kommt all das zusammen, was sie an Erinnerung und Verheißung in ihrer Bibel lesen. Darin ‚finden‘ sie als messianische Gemeinde zusammen.

„… Jesus, den Sohn Josefs, aus Nazaret“ (1,45)

Dass der Messias dieser „Sohn Josefs, aus Nazaret“ sein soll, das lässt Natanael zurückschrecken und skeptisch fragen: „Kann aus Nazaret etwas Gutes kommen?“ (1,46). Die Herkunft aus Nazaret ist offensichtlich ein Problem. Sie scheint den Messias zu widerlegen. Zum einen käme er aus Galiläa, einer Gegend, die erst spät zu Judaä gefunden hat und ein Unruheherd ist, von dem Aufstände gegen die Römer ausgehen. Zugleich steht der Hinweis auf Josef aus Nazaret für die niedrige soziale Herkunft Jesu und für einen Ort, der in der Schrift ohne Bezug auf eine Verheißung des Messias ist. Diese Orte sind – wie Matthäus und Lukas betonen – Bethlehem und Jerusalem. Bei Johannes spielt Bethlehem als Geburtsort Jesu keine Rolle.

Johannes setzt mit dem Bezug auf Josef aus Nazaret einen anderen Akzent. Offensichtlich wird der Verweis auf Jesu Herkunft aus niedrigen Verhältnissen und aus einem nicht-messianischen Ort in den Auseinandersetzungen um Jesu Messianität als Gegenargument formuliert. In einem Disput des Volkes um den messianischen Anspruch Jesu wird kritisch gefragt: „Kommt denn der Christus aus Galiläa? Sagt nicht die Schrift: Der Christus kommt aus dem Geschlecht Davids und aus dem Dorf Bethlehem, wo David lebte?“ (Joh 7,41f). Und als Nikodemus in einem Streit um Jesu Verurteilung im Hohen Rat für ein faires Verfahren nach dem Gesetz eintritt, wird er nach der Verdächtigung „Bist du vielleicht auch als Galiäa?“ mit der Schrift konfrontiert: „Lies doch und siehe, aus Galiläa kommt kein Prophet“ (Joh 7,52f). Johannes will darauf hinaus, dass gerade dieser niedrige „Sohn Josefs, aus Nazaret“ der „Sohn Gottes“ und „der Messias“ ist. Sein Weg ist der Weg der Erniedrigung am Kreuz. In dieser Erniedrigung werden er und Israels Gott, der in seinem Messias gegenwärtig ist, verherrlicht. Der Erniedrigte wird erhöht. Gegen die erniedrigenden Macht Roms behält Israels Gott das ‚letzte Wort‘.

Komm und sieh!“ (1,46)

So wie Jesus auf die Frage der beiden Jünger, wo er denn wohne, geantwortet hatte: „Kommt und seht!“ (Joh 1,39), antwortet Philippus auf die Einwände Natanaels: „Komm und sieh!“ (Joh 1,46). Hier wird deutlich, dass das Verständnis der Nachfolge bei Johannes sich von dem der synoptischen Evangelien unterscheidet. Zwar sagt Jesus auch zu Philippus: „Folge mir nach!“ (Joh 1,43). Diese Aufforderung zielt aber nicht darauf, umzukehren und Jesus in der Verkündigung des Reiches Gottes nachzufolgen (vgl. Mk 1,14-20; Mt 4,12-25). Bei Johannes geht es darum, zu kommen und zu sehen. Endgültige Nachfolge ist bei ihm erst möglich, nachdem die Jüngerinnen und Jünger den Weg der Erniedrigung am Kreuz als Weg zur Auferweckung ‚gesehen‘ haben. Wenn die Jünger auf Jesu letzte Abschiedsrede hin etwas vollmundig sagen: „Jetzt wissen wir…“ (Joh 16,30), fragt Jesus zurück: „Glaubt ihr jetzt?“ (Joh 16,31) im Sinne von ‚Glaubt ihr jetzt schon?‘. Zunächst kommt die Stunde, in der sie versprengt werden und der Messias „allein gelassen“ wird (16,32). Erst nach Jesu Auferstehung können sie erkennen, dass Jesu Weg der Erniedrigung zugleich Gericht über Rom und ‚Verherrlichung‘ von Israels Gott und seinem Messias ist. Wie wir gesehen haben heißt Verherrlichung: Auf diesem Weg liegt das ganze Schwergewicht Gottes. Hier kommt Gott zum Zug, hier wird mit der ‚Weltordnung‘ gebrochen, kommen eine neue Initiative Gottes, eine neue Schöpfung zur Geltung. Nachdem dies ‚gesehen‘ worden ist und der Geist sie immer wieder neu an das ‚Geschehene‘ und ‚Gesehene‘ erinnert, können die Jüngerinnen und Jünger gesandt werden wie der Vater den Messias gesandt hat (Joh 20,21).

Sieh, ein echter Israelit, an dem kein Falsch ist“ (1,47)

Während Philippus aus der Szene verschwindet, tritt Natanael in den Vordergrund. In den Augen Jesu ist er „ein echter Israelit, an dem kein Falsch ist“ (1,45). Einen Menschen, „in dessen Geist keine Falschheit ist“, nennt der Psalm 32 jemanden, „dessen Frevel vergeben … ist“ (Ps 32,2). Der Ausdruck ‚Frevler‘ zielt auf Menschen und Gruppen, die Israel ausbeuten und zerstören, mit Lug und Trug, mit ‚List und Tücke‘ andere ihrer Knute und ihrer Herrschaft unterwerfen. Im Gegensatz dazu stehen die von der Tora gewiesenen Wege der Gerechtigkeit und das Versprechen, dass Israel auf diesem Weg ‚Frucht‘ bringen wird: Befreiung und „das Leben … in Fülle“ wie es Johannes formuliert (Joh 10,10).

Schon bevor Philippus dich rief, habe ich dich unter dem Feigenbaum gesehen“ (1,48)

Jesus kennt die Seinen – wie Johannes im Bild von Jesus als dem Hirten Israels deutlich macht (Joh 10,1-6). Er hat sie schon gesehen und gefunden, bevor sie auf ihn aufmerksam werden. Die Erfahrung, dass Jesus ihn schon gesehen hat, bevor Philippus ihn rief, wird für Natanael zum Anlass für das Bekenntnis: „Du bist der Sohn Gottes, du bist der König von Israel!“ (1,49). Er beginnt zu ahnen: Dieser Hirte Israels ist – im Unterschied zu Israels Königen in der Geschichte – „der König von Israel“ und im Unterschied zu den römischen Kaisern, die sich als ‚Söhne Gottes‘ verehren ließen – „der Sohn Gottes“. Dabei ist der Feigenbaum als Ort, an dem Jesus Philippus gesehen hat, alles andere als nette Ausschmückung. Im ersten Buch der Könige heißt es über die idealisierte Zeit des Salomo: „Ein jeder saß unter seinem Weinstock und seinem Feigenbaum“ (1 Kön 5,5). Es ist eine Zeit der Sicherheit vor Feinden und ein Leben in Gerechtigkeit und Frieden. Im ersten Buch der Makkabäer findet sich ein ähnliches Bild, wenn es heißt: „Jeder saß unter seinem Weinstock und unter seinem Feigenbaum und niemand schreckte sie auf“ (1 Makk 14,12) Als „echter Israelit, an dem kein Falsch ist“, lebt Natanael in der Hoffnung auf die von der Tora gewiesenen Wege zu Israels Verheißungen. Das „Dasein unter dem Feigenbaum ist die Friedensvision des Messias und die Herzensangelegenheit Natanaels“1. Vor diesem Hintergrund bekennt sich Natanael zu Jesus als dem „Sohn Gottes“ und „König Israels“ (1,49).

Du wirst noch Größeres … sehen“ (1,50)

Das Größere, das Natanael sehen wird, ist im Bild des offenen Himmels und dem Auf- und Niedersteigen der Engel Gottes über dem Menschensohn ausgedrückt. Nach Ton Verkamp kommen hier drei Anspielungen auf die Schrift zusammen2. Für Ezechiel „öffnet sich“ zur Zeit des babylonischen Exils „der Himmel“ (Ez 1,1) und er sieht die Herrlichkeit Gottes im neu errichteten Tempel. Die Leiter knüpft an Jakobs Traum von einer Treppe zum Himmel, auf der Engel Gottes auf und niedersteigen an (Gen 28,10-22). „An diesem Ort“ (Gen 28,16) erkennt Jakob die Gegenwart Gottes. Er wird ihm zum „Haus Gottes“ und „Tor des Himmels“ (Gen 28,17). Klaus Wengst weist darauf hin, dass der hebräische Text auch so gelesen werden kann, dass die Engel Gottes nicht auf der Leiter, sondern auf Jakob auf und niedersteigen3. Wenn Johannes dieses Bild auf den Messias überträgt, dann konzentriert er auf ihn, was in der Tora über Jakob und Israel gesagt ist: Der Messias ist das „Haus Gottes“, der Tempel, der zerstört und nach drei Tagen wieder errichtet wird (Joh 2,18-22). Als Weg zum Vater (Joh 14) ist er das „Tor zum Himmel“.

Nun wird das Bild von der Leiter und dem Auf- und Niedersteigen des Messias noch mit dem Bild vom Menschensohn aus Dan 7,10-14 verbunden. Der Menschensohn und mit ihm „die Heiligen des Höchsten“ (Dan 7,18) ist das Gegenbild zum Reich der Bestien, der sich ablösenden Herrschaftssysteme. Ihre Macht ist befristet und wird gebrochen werden. Sie hat nicht ‚das letzte Wort‘. Das Größere wird nach Johannes im Weg des Messias zu Kreuz und Auferstehung, aus der Erniedrigung zur Verherrlichung ‚gesehen‘. Hier ist der Himmel offen und die Sicht auf Israels Gott eröffnet. Gegen die Macht des Imperiums kann Israel aufgerichtet werden. Und die Aufrichtung Israels wird zu einem Zeichen der Rettung und Befreiung für die Welt, in der Wege der Befreiung gegen die herrschende Weltordnung gegangen werden können (Joh 3,16ff).

Was wäre Berufung?

Berufung wird zuweilen immer noch auf die Berufung von Priestern zum Amt oder von Laien zu einem kirchlichen Beruf eng geführt. Luther wollte solch geistliche Engführungen dadurch überwinden, dass er Berufung als Ruf Gottes für den Gottesdienst im Alltag der Welt zu verstehen suchte. Dabei geriet ihm Berufung zum Ruf in die Arbeit. Von Johannes wäre zu lernen, dass Berufung zunächst einmal mit ‚Hören‘ und ‚Sehen‘ verbunden ist. Zu hören ist auf die Schrift, zu ‚sehen‘ ist der Weg des Messias und die Gegenwart Gottes, das Schwergewicht Gottes, das auf dem Weg in die Erniedrigung am Kreuz der Römer und der Verherrlichung des von Rom Erniedrigten als Gericht über Rom liegt. Dann erst kann der Feigenbaum der Hoffnung ‚gesehen‘ werden, der in der Geschichte von Natanael ebenso noch dunkel bleibt wie das Bild vom Auf- und Niedersteigen der Engel über dem Menschensohn.

Berufung führt über den Weg des Gehorsams, des Hörens auf die Schrift. Genau das ist in den Texten des Evangeliums lebendig. Von daher kann der Weg des Messias als Weg von Israels Gott gesehen werden und in den Blick kommen. Gehorsam gegenüber Israels Gott ist nicht Anpassung an den Alltag der Arbeit und andere Alltäglichkeiten, sondern Ungehorsam gegenüber dem, wozu die kapitalistische Normalität der Alltäglichkeiten ruft und ‚beruft‘. ‚Praxis der Nachfolge‘ ist nicht durch schnelle und unmittelbare Konkretionen zu haben. Sie erfordert Nachdenken über die biblischen Traditionen und ihre Zusammenhänge wie auch über die Zusammenhänge unseres fetischisierten Alltags und seiner das Denken und Handeln normierenden Normalitäten. Dann kommt die Frage ins Spiel: Was ist unsere Berufung in der gegenwärtigen Situation, nicht zuletzt einer, in der die kapitalistische Normalität noch einmal von Corona als Brandbeschleuniger aller Krisen geprägt ist. Die Sehnsüchte richten sich nicht auf das, was in den Bildern von Feigenbaum, offenem Himmel und Menschensohn steckt, sondern auf die möglichst schnelle Rückkehr zur kapitalistischen Normalität. In ihnen steckt etwas von der Sehnsucht nach den ‚Fleischtöpfen Ägyptens‘, hinter der die Realität, die Normalität der Sklaverei, in Vergessenheit gerät.

Herbert Böttcher

1Ton Veerkamp, Der Abschied des Messias. Eine Auslegung des Johannesevangeliums I. Teil: Johannes 1,1-10,21, Texte & Kontexte, Exegetische Zeitschrift Nr. 109-111, 29. Jahrgang 1-3/2006, 42.

2Ebd., 42ff.

3Klaus Wengst, Das Johannesevangelium. Theologischer Kommentar zum Neuen Testament, Stuttgart 2019, 85.