Herbst der Reformen: Auf zu Libertarismus, Autoritarismus, Sozialdarwinismus…!?

Im Oktober hatte der Bundeskanzler einen „Herbst der Reformen“ ausgerufen. Nachdem für die Migration eine Lösung gefunden ist – bis auf die Probleme, die es da noch „im Stadtbild“ gibt, kommen jetzt die ‚einheimischen‘ Bürger*innen dran: das Bürgergeld, die Gesundheit, die Rente… kurz der Sozialstaat. Die Situation erinnert an das, was in den 1990er Jahren begann. Zuerst wurde nach einer Welle der Diskriminierung von Fliehenden das Asylrecht abgebaut. Dann kamen die deutschen ‚Verlierer‘ dran. Hartz IV wurde durchgesetzt – getragen vom Konsens der Demokraten: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen. Gesucht waren schon damals ausländische Fachkräfte für den einheimischen Arbeitsmarkt. Fremdenfeindlichem deutschem Mob musste jedoch die Zuwanderung von fremdem Humankapital noch versüßt werden. Versprochen wurden konsequente Abschiebungen von Migrant*innen, die nicht arbeiten. So war es in einem Faltblatt der rot-grünen Bundesregierung vom August 2002 zu lesen.

Inzwischen hat sich die Welt weiter gedreht. Der Vorteil in der Konkurrenz, den sich Deutschland dadurch ergattert hatte, dass es mit Hartz IV zu den Vorreitern des Sozialabbaus gehörte, ist aufgebraucht. Als ‚Exportweltmeister‘ hatte Deutschland mit seinen Waren auch Schulden exportiert. Gegenüber verschuldeten Ländern vor allem in Südeuropa bestand die Regierung auf Schuldenzahlungen und Haushaltsdisziplin, sprich auf Sozialabbau. Hinzu kamen seit Ende der 1990er Jahren zunehmende und sich verschärfende Crashs auf den Finanzmärkten samt der Kosten für die Rettung der ‚systemrelevanten‘ Banken. Der deutsche Vorteil in der globalen Konkurrenz ist aufgebraucht. Aus dem ‚Exportweltmeister‘ ist ein Abstiegskandidat geworden und auch Deutschland mehr und mehr in die globale Krise des Kapitalismus einbezogen. Mit der Stagflation in den 1970er Jahren ist sie sichtbar geworden. Mit dem Neoliberalismus und seinen Reformen sollte sie bekämpft werden und ist inzwischen wieder bei Tendenzen zur Stagflation angekommen – allerdings auf einem wesentlich höheren Krisenniveau bei entsprechender Fallhöhe. Dennoch weist die Antworte in die Richtung: Mehr vom Gleichen, ‚nur‘ libertärer, autoritärer, sozialdarwinistischer und nihilistischer.

Libertarismus

Tendenzen zum Libertarismus machen sich als radikalisierte Fortsetzung des Neoliberalismus breit. Er spiegelt sich in dem weltweit meist verkauften Roman ‚Atlas Shrugged‘ (deutscher Titel: ‚Atlas wirft die Welt ab) von Ayn Rand. Der Roman erzählt von der Überlegenheit eines Individuums, das konsequent seine Interessen durchsetzt und sich selbst als ‚Erstbeweger‘ gegen die Zumutungen bürokratischer Verwaltung feiert. Libertaristische Vorstellungen führen die neoliberale Idee weiter, einzig die kapitalistische Gesellschaft mit der ungehinderten Entfaltung der Marktkräfte entspreche der menschlichen Natur. Ein neuer Akzent zeigt sich in der Aggressivität der Attacken auf soziale Gleichheit und den vermeintlich sozialistisch-totalitären Wohlfahrtsstaat. Sie sind begleitet von Diskriminierung und Verachtung derer, die sich nicht durchsetzen können. Staaten erweisen ihre Leitungsfähigkeit dann, wenn es gelingt, niedrige Steuern und Löhne durchzusetzen und regulierende Bürokratie abzubauen. Ungleichheit wird zu einem Markenzeichen ‚positiver Freiheit‘. Dem Lager des Libertarismus werden US-Vizepräsident Vance und der in Deutschland geborene Tech-Milliardär Peter Thiel zugerechnet. Er sieht die Welt durch den Antichrist bedroht. Dieser locke mit liberalen Freiheiten, unterdrücke notwendige Hierarchien und opfere exzellente Leistungen dem Gleichheitsprinzip. Die Welt sei bedroht durch Kommunismus und eine Diktatur der Gleichheit. Die Tendenzen zum Libertarismus setzen sich nicht unmittelbar im Blick auf den ‚deutschen Sozialstaat‘ um. Dennoch spiegeln sich Tendenzen in der Aggressivität der Tonlagen gegen Nicht-Arbeitende bis hin zum weitgehenden gesellschaftlichen wie parteipolitischen Konsens beim Bürokratieabbau. Programmatisch ‚Wegweisendes‘ ist in Merz’ 2009 erschienenem Buch „Mehr Kapitalismus wagen“ zu lesen. Da finden sich Attacken gegen den verteilenden (Sozial-)Staat und ein Loblied auf natürliche Ungleichheit in einer auf Wettbewerb und Eigentum basierenden Marktwirtschaft. Beides geht einher mit der Relativierung materieller Ungleichheit, deren Minderung kein politischer Selbstzweck sei.

Autoritarismus

Libertaristische Strömungen werden mit repressiven staatlichen Maßnahmen gegen Feinde von außen wie im Innern durchgesetzt. Trumps irrlichterndes Agieren zwischen libertärer Staatsverachtung sowie Protektionismus, erpresserischen Deals und militaristischen Drohgebärden spiegelt nicht den Wahn eines einzelnen, sondern ist Ausdruck dafür, dass die kapitalistischen Verhältnisse mehr und mehr aus dem Ruder laufen und sich mit irrationalen Wahnvorstellungen amalgamieren. Auch in Europa verschärfen sich Widersprüche zwischen liberaler wirtschaftspolitischer Orientierung samt demokratischen Beschwörungen und autoritäreren Repressionen gegen Fliehende zuerst und dann gegen Arme im eigenen Land. Sie sind begleitet von einer Gemengelage aus Gleichgültigkeit, sozialer Kälte und feindseliger Aggression, die sich in weiten Kreisen der Bevölkerung wiederfindet. Vor allem die in der Krise abstürzende Mittelschicht, die unter prekärer Beschäftigung und inflationär steigenden Kosten für den Lebensunterhalt leidet, will die Normalität des ‚Wohlstands‘ gesichert wissen und fühlt sich von gesellschaftlichen Verlierern bedroht. Mit ihren Repressionen gegen Fliehende und Arme suchen die Parteien der Mitte an die Sorgen ‚der‘ Menschen Anschluss zu finden. Rechte Parteien und Bewegungen fallen auf ‚fruchtbaren‘ Boden. Sie können punkten mit völkisch-identitären Vorstellungen. Angesichts der Sehnsucht nach ‚homogener Normalität‘ erscheint alles Diverse als bedrohlich.

Sozialdarwinismus und Nihilismus

Libertarismus und identitätspolitisch aufgeladener Autoritarismus laufen auf Sozialdarwinismus hinaus. Überleben sollen die Starken, die fähig sind, es zu Reichtum und Ansehen, letztlich zu exzellenten ‚Übermenschen‘ zu bringen. Ihnen steht – im Anschluss an Nietzsche formuliert – eine nihilistische jüdisch-christlich geprägte Sklavenmoral im Weg. Sie befördert Mitleid und Solidarität mit den Schwachen und zugleich Ressentiments gegen die Erfolgreichen.

Im Kern nihilistisch ist der Kapitalismus, sein Selbstzweck, aus Geld mehr Geld zu machen. Er kennt nur leere Quantifizierungen, aber keine Inhalte, also Qualitäten, die das Leben ausmachen – weder den Zweck einer Produktion für die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse noch den Zweck einer empfindsamen und liebenden Sorge um die Reproduktion des Lebens. Im besten Fall sind das Abfallprodukte seines abstrakten Selbstzwecks. Stößt der mit der Akkumulation des Kapitals verbundene ‚prozessierende Widerspruch‘ (Marx) nicht nur logisch, sondern – wie wir es in den sich zuspitzenden Krisen erleben – auch historisch auf die immanente Schranke der Verwertung des Kapitals, läuft alles ins Leere, ins Nichts, in die Ver-Nicht-ung. Da liegt es nahe, dass der sich selbst vernichtende Kapitalismus sich mit irrationalem Wahn auflädt, mit dem Wahn, eine kapitalistische Normalität durch Vernichtung nicht-verwertbaren menschlichen Lebens sichern und die Zerstörung der Grundlagen des Lebens in der Schöpfung ignorieren zu können.

Das Stadtbild als kapitalistische Selbstoffenbarung

Worum es im Herbst der Reformen gehen soll, offenbart des Kanzlers Rede vom Stadtbild. Unter dem Schein paternalistischer Fürsorglichkeit für Töchter werden Nicht-Arbeitende und dabei vor allem fremd Aussehende stigmatisiert. Ängste werden nicht nur rhetorisch bedient, sondern zugleich eine autoritär-repressiver Politik durchgesetzt, gegen Migrant*innen in einer Politik der Abschottung und Abschiebung, die über Leichen geht, gegen Einheimische, die als vermeintlich schmarotzende Arbeitsverweigerer verunglimpft und unter Androhung, ihnen die Mittel zur Existenzsicherung zu entziehen, unter die Knute der Arbeit gezwungen werden. Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen. Das gilt für Einheimische und mehr noch für Fremde. Wessen Humankapital jedoch verwertbar ist, soll kommen und ist will-kommen.

In Fliehenden über Suchtkranke bis hin zu Armen und Obdachlosen begegnen uns im ‚Stadtbild‘ globale und gesellschaftliche Probleme und all das, was sich die Politik ‚so leistet‘. Nicht mehr ‚leisten‘ können ‚wir‘ uns den Kapitalismus, der Menschen, deren Humankapital nicht verwertbar ist, abstürzen lässt, vertreibt, dem Tod ausliefert und obendrein die Grundlagen des Lebens zerstört.

Herbert Böttcher, zuerst erschienen in: micha.links 3/2025 zum Thema „Der Sozialstaat in der Krise“