Wenn ein Sonntag auf den 9. November fällt, begeht die katholische Kirche an diesem Tag festlich den Weihetag der Lateranbasilika. Die Basilika wurde unter Kaiser Konstantin erbaut. Sie symbolisiert ein ‚konstantinisches Christentum‘, das zur Reichsreligion des römischen Imperiums geworden ist. In Deutschland fällt das Datum zusammen mit dem Gedenken an die Reichspogromnacht, jene Nacht, in der sich der Hass gegen die Juden samt seinem Willen zu ihrer Vernichtung entladen konnte. Damit war dem, was folgte, der Weg gebahnt.
Das Christentum konnte zur imperialen Reichsreligion aufsteigen, weil es seine jüdischen Wurzeln zugunsten der Rezeption hellenistischer Philosophie weitgehend hinter sich ließ. So kam es in der hellenistisch-römischen Welt an. Einher ging diese Anpassung mit dem sich entfaltenden und vor allem bei sog. Kirchenvätern greifbarem Hass auf ‚die Juden‘. Er trug zu einem im Christentum tief verankerten und die Auslegung der Bibel prägenden Antijudaismus bei. Bis in die Gegenwart artikuliert er sich in Stereotypen wie der Unterscheidung zwischen der ‚jüdischen Religion des Gesetzes’ und der ‚Freiheit des Evangeliums’. Das von Jesus verkündete Reich Gottes erscheint als eine Erfindung Jesu und wird kaum als Aufnahme der in der Befreiung aus Ägypten verwurzelten jüdischen Hoffnung auf die Herrschaft Gottes verstanden. Damit verschwindet die in der jüdischen Tradition und so auch bei Jesus, dem Messias aus Israel, selbstverständlich verwurzelte Kritik von Herrschaftsverhältnissen, wofür die Namen Ägypten und Rom stehen. Die Formulierung „gekreuzigt unter Pontius Pilatus“ hat es immerhin in das hellenistisch inspirierte Glaubensbekenntnis geschafft und macht deutlich, dass die ‚Synthese zwischen Glaube aus Israel und Vernunft aus Griechenland‘ nicht aufgeht. Mit dem Weihetag der Lateranbasilika wird faktisch die Liaison des Christentums mit dem römischen Imperium und die Zurückdrängung seiner jüdischen Wurzeln und damit seiner herrschaftskritischen Inhalte abgefeiert.
Wie gefügig das Christentum durch Traditionen des Gehorsams aber auch durch seine privatisierende Existenzialisierung geworden war, zeigte sich dann, als die Juden zuerst attackiert, aus Öffentlichkeit und Recht ausgegrenzt und schlussendlich in die Vernichtungslager getrieben wurden. Der Gehorsam gegenüber der legitimen staatlichen Autorität und ein weitgehendes Schweigen prägte die Haltung der Kirchen. Zumindest die Traditionen des Gehorsams reichen zurück bis in vereinzelte biblische Traditionen. Eine davon – ein Text aus dem ersten Petrusbrief (1 Petr 2,17) – ist sogar in der Lesehore des Stundengebets zum Weihetag vorgesehen. Er erinnert die Gemeinde daran, dass sie „als lebendige Steine zu einem geistigen Haus“ auf Jesus als Eckstein aufgebaut sei. Diese Erinnerung mündet ein in die Mahnung, sich „jeder menschlichen Ordnung“ zu unterwerfen: konkret „dem Kaiser“ und „den Statthaltern“, die vom Kaiser entsandt seien, „um die zu bestrafen, die Böses tun, und die auszuzeichnen, die Gutes tun“. Vergessen bzw. identitätslogisch in Allgemeinbegriffen verschluckt ist der Statthalter Pontius Pilatus, der ja wohl den guten Messias im Namen imperialen Unrechts hat kreuzigen lassen. Ob das bereits hellenistisches Denken ist, mögen Historiker entscheiden. Dass in hellenistisch-idealistischem Denken das Allgemeine über das Besondere dominiert und es zum Verschwinden bringt, dürfte dennoch deutlich sein. Zur ‚Vollendung‘ gekommen ist ein solches Denken in der Tauschlogik des Kapitalismus, in dem im Wert gleiche Waren getauscht werden und das Besondere nur als Träger des Allgemeinen eine Rolle spielt.
Dennoch müsste das Fest der Weihe der Lateranbasilika nicht einfach abgeschafft werden, vielmehr müsste es – zumal in Deutschland – Anlass zu kritischem Nachdenken sein, auch theologisch und pastoral. Grund zum Feiern könnten die biblischen Texte sein, die in der Feier der Eucharistie vorgesehen sind. Sie machen deutlich, dass trotz allen Gehorsams und aller individualisierend privatisierender Existenzialisierung die biblische Tradition als subversive, herrschaftskritische Erinnerung nicht ‚klein zu kriegen‘ ist.
Die Lesung aus dem Propheten Ezechiel (47,1-2.8-9.12) erinnert angesichts der Wüste, die Israel in Babylon erlebt hat, in einer Vision an das Wasser, das seine Quelle in dem neu errichten Tempel hat, also da, wo Gott in der Mitte seines befreiten Volkes wohnt. Von dort werden die Wüsten der Zerstörung bewässert, so dass neues Leben entstehen kann. Johannes wird darauf zurückgreifen, wenn er erzählt wie aus dem Körper des hingerichteten Messias Blut und Wasser fließen (Joh 19,34).
Der Zwischengesang besingt, dass Ströme des Wassers die Gottesstadt erfreuen, des Höchsten Heilige Wohnung – so der Kehrvers (V. 5) in Verbindung mit Psalm 46,2-3.5-6.8-9.
In der zweiten Lesung aus dem ersten Brief an die Korinther betont Paulus, dass die messianische Gemeinde Gottes Bau, also „Tempel Gottes“ sei; denn Gott wohnt inmitten der messianischen Gemeinde – errichtet auf dem Messias Jesus als „Grund“.
Das Evangelium von der Tempelreinigung (Joh 2,13-22) könnte missverstanden werden, wenn es nämlich antijudaistisch als Kritik an „den Juden“ und ihrem Tempel gelesen würde und die Kirche als das ‚wahre Israel‘ und der ‚wahre Tempel’ gesehen würde. Zum einen sind „die Juden“, von denen der Text redet – wie sich aus dem Zusammenhang des Evangelium ergibt – die führenden, d.h. mit Rom kooperierenden Juden; zum anderen gab es zur Zeit des Johannes noch keine Kirche, sondern nur eine Gruppe von Juden, die sich zu dem jüdischen Messias Jesus bekannte. Entscheidend war das Vertrauen darauf, dass Israels Gott den von Rom hingerichteten Messias auferweckt, verzweifelte Juden aufgerichtet und sie gesandt hat, in der Nachfolge dieses Messias inmitten imperialer Herrschaft Wege der Befreiung zur Aufrichtung Israels zu gehen.
Jesu Kritik, den Tempel zur Markthalle gemacht zu haben, kommt nicht aus einer kirchlichen Perspektive, sondern aus der Perspektive jüdischer Propheten. Jeremia hatte davon gesprochen, der Tempel sei unter der Herrschaft der Könige zur „Räuberhöhle“ geworden, und Jesaja wollte, dass der Tempel zum „Haus des Gebets für alle Völker“ werde. Wenn Johannes vom Tempel als einer „Markthalle“ spricht, hat er wohl den sog. ‚Vorhof der Heiden‘ im Blick. Hier konnten Opfertiere gekauft und Geld gewechselt werden, was dem Tempel Einnahmen bescherte.
Die Markthalle, die jüdische Priester im Tempel betrieben, ist in unserer Gegenwart zu einer globalen Markthalle geworden. Global werden Waren produziert, um Geld/Kapital zu vermehren, während die Reproduktion als versorgende, von emotionaler Zuwendung geprägte Tätigkeit davon abgespalten ist. Die globale kapitalistische Markthalle aber zerstört sich selbst, weil sie auf Grenzen stößt, die sie nicht mehr überwinden kann. Menschen, deren ‚Humankapital‘ nicht verwertbar ist, werden ebenso dem Götzen Kapital geopfert wie die Schöpfung. Wie in der Reichspogromnacht deutlich wurde, richtet sich in Krisen der projektive Hass auf Juden. Sie sollen als Herren des Geldes und des Geistes wieder einmal an allem Desaster schuld sein. Analog zum Erlösungsantisemitismus der Nazis soll die aus den Fugen geratende Welt durch die Vernichtung der Juden gerettet werden. Zur Vernichtung der Juden als Selbstzweck war erst die Neuzeit, sprich die kapitalistische Gesellschaft fähig. Der christliche Antijudaismus ist nicht identisch mit dem neuzeitlichen Antisemitismus, aber er hat ihm mit tief verankerten Stereotypen wirkmächtige Nahrung gegeben.
Der Weihetag der Lateranbasilika wäre also Anlass für eine kritische kirchliche Selbstreflexion auf ihren Weg durch die Geschichte und darin auf ihr Verhältnis zu den Juden und zu ihren eigenen jüdischen Wurzeln. Die christlichen Kirchen haben in ihrer offenen oder schweigenden Affinität zu den kapitalistischen Verhältnissen dazu beigetragen, dass der Globus zur Markthalle verkommen konnte, in der Menschen in sozialdarwinistischer Konkurrenz um das Überleben kämpfen, überflüssiges Menschenmaterial geopfert wird und die globalen Lebensgrundlagen zerstört werden. Tempelreinigung wäre heute die Reinigung des Globus als globaler Markthalle, damit der Globus das werden kann, wofür der jüdische Tempel ebenso wie der jüdische Messias Jesus steht: eine Erde, in der befreite Menschen leben können. In Menschen, die dahin aufbrechen, wohnt Gott jetzt schon in der Welt – so dürfen es Juden ebenso wie Christen in der Nachfolge der Spuren des Messias aus Israel interpretieren. In ihnen ist die Sehnsucht auf einen neuen Himmel und eine neue Erde lebendig, in der die Herrschaft von Unrecht und Gewalt, Leid und Tod überwunden und auch die Toten in Gottes neue Welt aufgenommen sind.
Herbert Böttcher
Ökumenisches Netz Rhein-Mosel-Saar e.V. Gerechtigkeit · Frieden · Bewahrung der Schöpfung