„Gewalt im Gaza-Streifen: Die Welt verliert ihre Humanität“. Diese Überschrift über den Bericht der pax christi-Nahostkommission fasst treffend den Inhalt zusammen, den pax christi in die Advocacy-Woche in Berlin eingebracht hat. Dies und die anstehenden „All Eyes on Gaza“-Demonstrationen haben für uns als pax christi-Basisgruppe das Fass zum Überlaufen gebracht. Wir lösen uns als Gruppe auf und die meisten treten als Einzelmitglieder aus pax christi aus. Denn wieder einmal wird Israel an den Pranger gestellt und für das Leid im Gaza-Streifen verantwortlich gemacht, ohne die Rolle der Hamas und den weltweit eskalierenden Antisemitismus in den Blick zu nehmen. Suggeriert wird zugleich, die Welt verliere ihre Humanität, wenn sie solchen Aufrufen zur Solidarität mit Palästina nicht folge. Berechtigte Kritik am Agieren der rechten bis rechtsextremen Regierung Netanjahu ist also weder eingebunden in den Zusammenhang der auf die Vernichtung Israels ausgerichteten Strategien der Hamas noch in den Zusammenhang des in Deutschland wie weltweit sich aggressiv ausbreitenden Antisemitismus im Rahmen der zerfallenden kapitalistischen, d.h. warenproduzierenden Weltordnung. Diese Ignoranz bzw. der Verzicht auf eine gesellschaftskritische Positionierung impliziert die Delegitimierung Israels und ist zugleich Ausdruck eines auf Israel bezogenen Antisemitismus in pax-christi.
Die Delegitimierung Israels bestimmt das Agieren der Deutschen Sektion von pax christi nicht erst seit dem Massaker der Hamas vom 7. Oktober. Dieses Massaker hat, statt Nachdenklichkeit auszulösen, das gegen Israel gerichtete Agieren weiter verstärkt. In letzter Zeit wurde es wieder einmal in der Unterstützung des Bündnisses „Für einen gerechten Frieden in Palästina und Israel“ 2024 und der Protestaktion „Rote Linie Völkerrecht“ anlässlich des Besuchs des israelischen Außenministers Gideon Sa‘ar am 5.6.2025 deutlich. pax christi ließ sich nicht einmal dadurch irritieren, dass bei der Kundgebung als Redner der bekannte, der Volksfront für Palästina nahestehende Aktivist Ibrahim Ibrahim auftrat – einer Organisation, die seit 2002 auf der Terrorliste der EU steht. Auch nicht im Nachhinein hat sich pax christi u.a von antisemitischer und gewaltverherrlichender Symbolik distanziert, die bei der Kundgebung nicht zu übersehen war.
Die pax christi-Basisgruppe Koblenz hat schon seit vielen Jahren die in der Delegitimierung Israels sich artikulierenden antisemitischen Sichtweisen in pax christi kritisiert. Sie hat versucht, ein Zeichen zu setzen: Die meisten ihrer Mitglieder haben vor 10 Jahren darauf bestanden, dass ihr Beitrag von der Trierer Bistumsstelle einbehalten und nicht an die Bundesebene weitergeleitet wird. Das nun mit dem Austritt zur Verfügung stehende Geld (ca. 3500 EURO) soll nach dem Willen der Beitragszahler von der Trierer Bistumsstelle für die Arbeit gegen Antisemitismus genutzt oder an entsprechende Organisationen weitergeleitet werden.
Weder der Boykott noch vorhergehende Diskussionsveranstaltungen oder Interventionen auf Delegiertenversammlungen konnten das Agieren der Bundesebene bremsen, geschweige denn zum Einlenken bewegen. Im Gegenteil, Kritiker/innen wurden mit Beschimpfung und Ausgrenzung abgestraft. Auch angesichts sich verschärfender gesellschaftlicher und kirchlicher Kritik ist es zu keinem Umdenken bei pax christi gekommen. Im Gegenteil, der Kurs der Delegitimierung Israels wird verblüffungsfest fortgesetzt – und das in Kooperation mit mehr als fragwürdigen Bündnispartnern.
Als Basisgruppe haben wir die Erfahrung gemacht, wie wir bei Kontakten mit der christlich-jüdischen Gesellschaft von jüdischer Seite deutlich – für uns verständliche und nachvollziehbare – Skepsis und Misstrauen spürten. Auf eine Veranstaltung mit uns zu den Themenbereichen Antisemitismus und Christlicher Antijudaismus wollte sie sich nicht einlassen. Dabei hat auch eine Rolle gespielt, dass die Angst vor Aggressionen tief sitzt. Zu befürchten ist ja, dass öffentliche Veranstaltungen zu Diskriminierungen und Angriffen führen. Uns wurde berichtet, dass Juden zum Sabbatgebet mit dem Taxi statt mit dem Bus kommen, weil sie Angst vor verbalen und körperlichen Attacken haben – eine Erfahrung, die es auch in anderen Städten gibt. Diese Problematik haben wir dem (inzwischen ehem.) Vorsitzenden von pax christi mitgeteilt. Seine Antwort erschöpfte sich in der üblichen Verteidigungsrhetorik, die Empathie für das Erleben der Juden, aber auch für unsere Erfahrungen vermissen ließ. Gesprächsangebote wurden nicht mehr weiter verfolgt. So bleibt es bei pax christi dabei:
Israel wird verantwortlich gemacht
So liegt es auf der Linie des bisherigen Agierens von pax christi, dass auch die Botschaft, die mit dem Massaker vom 7. Oktober verbunden ist, ignoriert wird. Dieses Massaker zielte auf die Vernichtung aller Juden und beinhaltete die Botschaft: Nirgendwo sollen Juden vor Vernichtung sicher sein. Damit ist das Versprechen der Sicherheit zerstört, das der Staat Israel seinen Bürger/innen und Juden weltweit gibt. Nicht zur Kenntnis genommen wird, dass dieses Massaker Ausdruck des eliminatorischen Antisemitismus ist wie er bereits von den Nazis betrieben wurde. Er speiste sich von dem Wahn, der deutsche auf schaffender Arbeit beruhende Kapitalismus könne gerettet werden, wenn er vom ‚jüdischen‘ raffenden Kapital, der ‚Unterwerfung’ unter ‚jüdisches‘ Geld und ‚jüdischen‘ Geist samt dem ‚jüdischen‘ Streben nach Weltherrschaft ‚befreit‘ sei. Heute ist dieser Wahn in Vorstellungen lebendig, die Welt könne durch Vernichtung der Juden und ihrer ‚Verschwörung’ zur Weltherrschaft ‚gerettet‘ werden.
Statt der Singularität eines auf die Vernichtung aller Juden zielenden Antisemitismus Rechnung zu tragen, gibt pax christi vor, sich für einen „gerechten Frieden“ einsetzen zu wollen, der beiden Seiten ‚gerecht‘ wird. Dabei werden der eliminatorische Terror der Hamas und Israels Verteidigung seiner Existenz gleich gestellt. Damit nicht genug: Israel wird allein für das Leid der Palästinenser verantwortlich gemacht. Zugleich wird der Anspruch erhoben, sich für die unterdrückten Palästinenser einzusetzen.
Wenn das Elend der Palästinenser/innen wirklich wichtig wäre, müsste pax christi für die Befreiung Palästinas von der Hamas eintreten. Sie hat den Gazastreifen unterworfen und agiert als Diktatur. Das von ihr errichtete Tunnelnetz ist wichtiger als jedes soziale Netz. Sie nimmt Teile der palästinensischen Bevölkerung in Geiselhaft und enthält ihr lebenswichtige Güter vor. Alles wird dem Ziel der Vernichtung der Juden untergeordnet. Von Freiheit und Gleichheit, vor allem für Frauen und Menschen, die ihre Sexualität unterschiedlich leben, kann nicht die Rede sein. Im Gegenteil, sie sind an Leib und Leben bedroht.
Projektion statt kritischer Reflexion
Der nach dem Massaker vom 7. Oktober eskalierte Antisemitismus ist Ausdruck projektiver Krisenverarbeitung. Die Krisen einer aus den Fugen geratenen Welt werden auf ‚die‘ Juden projiziert. Juden bzw. Israel als ‚Jude‘ unter den Staaten werden für Krisen verantwortlich gemacht. Bereits Horkheimer und Adorno hatten in der „Dialektik der Aufklärung“ herausgearbeitet, dass bei solcher Projektion kritische Reflexion ausfällt. Dieser Ausfall – so schreiben sie – gibt der „verblendenden Macht falscher Unmittelbarkeit“[1] Raum. In falscher Unmittelbarkeit wird „das Denken […] kurzatmig, beschränkt sich auf die Erfassung des isoliert Faktischen. Gedankliche Zusammenhänge werden als unbequeme und unnütze Anstrengung fortgewiesen“[2]. D.h. für den aktuellen Zusammenhang: Täter und Opfer werden unmittelbar identifiziert. Ohne Reflexion auf historische und gesellschaftliche Zusammenhänge wird Israel zum Täter und die Palästinenser zum Opfer stilisiert. Trotz aller an beide Seiten adressierten Mahnungen zum Frieden schlägt sich pax christi in seinem realen Agieren auf die Seite der Hamas und klagt Israel als Täter an.
Hier wird ein Problem deutlich, dass schon lange in pax christi schwelt. Handlungsfähigkeit – auch in Kooperation mit Israel delegitimierenden Zusammenschlüssen wie der BDS-Kampagne und dem „Netzwerk Gerechter Friede“ – sollen reale Ohnmacht ebenso wie erfahrene Bedeutungslosigkeit kompensieren. Wahrgenommen zu werden samt der Halluzination, gesellschaftlich wirksam zu sein, ist dabei eine wesentliche Antriebskraft. Die Kehrseite davon ist eine Theoriefeindlichkeit, die eine kritische Reflexion auf die gesellschaftlichen Verhältnisse abwehrt, in deren Zusammenhang die sog. Vielfachkrisen ebenso wie der ‚projektive Antisemitismus‘ stehen. Das Problem ist gerade nicht, dass unterschiedliche Sichtweisen gegeneinander stehen, sondern dass theoretische Auseinandersetzung überhaupt diskreditiert und abgewehrt wird.
Die Kritische Theorie der Gesellschaft hat darauf bestanden, dass die Frage nach Antisemitismus nicht von der kapitalistischen Konstitution der Gesellschaft abstrahieren kann. Gesellschaftskritische Reflexion lenkt heute den Blick auf den Doppelcharakter des Staates Israel. Er ist – wie bereits Johann Baptist Metz gesagt hat – „ein Zufluchtsort“ für bedrohte Juden. Heute sind sie wieder von Vernichtung bedroht. Zugleich ist Israel auch ein kapitalistischer Staat, der – wie alle anderen kapitalistischen Staaten auch – den Zerfallsprozessen des globalen Kapitalismus ausgesetzt ist und sie verarbeiten muss. Die Orientierung auf rechte und identitäre Stereotype teilt Israels Regierung mit den Vorgängen in fast allen Ländern. Der Unterschied ist, dass Israel von Feinden umgeben ist, die offen auf seine Vernichtung aus sind. Zudem kann Israel sich keine vermeintliche Entlastung durch Antisemitismus verschaffen. Die in Israel selbst massiv kritisierte Rechtsorientierung der Regierung droht Israel als Zufluchtsort auch von innen heraus auszuhöhlen. Dies zu registrieren und die rechte bis rechtsextreme Orientierung der Regierung in Israel und deren Kriegführung, vor allem die Ausweitung des Krieges und der Kriegsziele einschließlich der Folgen für die palästinensische Bevölkerung[3] zu kritisieren, ist etwas völlig anderes als Israel delegitimierend an den Pranger zu stellen – und das in einer Zeit, in der auch die deutsche wie andere europäische Gesellschaften angesichts der Krise auf identitären Autoritarismus setzen, der meint, durch Projektion der Krisen auf Migrant/innen und sozial benachteiligte Gruppen verlorene Kontrolle und chauvinistische kapitalistische Normalität wieder herstellen zu können.
Nicht weil unsere Sicht von pax christi insgesamt nicht geteilt wird, lösen wir unsere Basisgruppe auf und treten aus der Bewegung aus, sondern wegen des in pax christi grassierenden auf Israel bezogenen Antisemitismus. Die damit einhergehende verkürzte Gesellschaftskritik nach dem Motto „gute Unterdrückte und böse Unterdrücker“, ohne einen historisch-gesellschaftlichen Zusammenhang herzustellen, sowie ein falsch-abstrakter Universalismus, der spezifische Unterschiede wie die singuläre Bedeutung Israels in einer Umgebung von zerfallenden, islamistischen Staaten nicht wahrnehmen will, scheinen unirritierbar. Angesichts einer in pax christi verfestigen Reflexionsfeindlichkeit sehen wir aktuell keine Möglichkeiten einer Korrektur, nicht einmal einer ernsthaften kritischen Auseinandersetzung.
Für die katholische Kirche in Deutschland stellt sich die Frage, inwieweit sie eine solche „katholische Friedensbewegung“ noch dulden kann. pax christi ist eben kein kirchlicher Verband unter anderen Verbänden, sondern repräsentiert – wie in ihrem bischöflichen Präsidenten zum Ausdruck kommt – die katholische Kirche in Deutschland.
(ehem.) pax christi Gruppe Koblenz, Oktober 2025
[1] Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, in: Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, Band 5: ‚Dialektik der Aufklärung‘ und Schriften 1940 – 1950, Frankfurt am Main 32003, 13 – 290, 224.
[2] Ebd., 227.
[3] Die bisherige Basisgruppe von pax christi hat an dem Text „Israel in der globalen Krise des Kapitalismus“ mitgewirkt, der auf der Homepage des Ökumenischen Netzes Rhein-Mosel-Saar veröffentlicht ist. Darin wird die aktuelle Ausweitung des Krieges und seiner Ziele samt der katastrophischen Folgen für die palästinensische Bevölkerung im Zusammenhang der globalen Situation des Kapitalismus kritisiert.