Impuls zum fünften Fastensonntag: Töten „im Namen des Gesetztes“?

Zum Evangelium: Joh 8,1-11

Die Sonntage der österlichen Bußzeit konfrontieren mit der Frage nach Sünde und Umkehr. Die Umkehr will neu ausrichten auf Gottes neue Welt, die mit der Auferweckung des Gekreuzigten beginnt. Die Evangelien an den bisherigen Sonntagen haben immer wieder deutlich gemacht: Alle müssen umkehren; denn niemand kann der Macht der Sünde entgehen. Niemand kann für sich selbst gerecht sein, wenn er in Verhältnissen lebt, die von Strukturen des Unrechts und der Gewalt geprägt sind. Weil niemand außerhalb der Sünde steht, kann auch niemand es wagen, den ersten Stein auf Schuldige zu werfen (8,7).

Das heutige Evangelium erzählt, wie Jesus eine Ehebrecherin vor der Gnadenlosigkeit des Gesetzes schützt. Wenn diese Geschichte getrennt von ihren Zusammenhängen gehört wird, bekommt sie eine antijudaistische Schlagseite nach dem Schema: Das jüdische Gesetz tötet, Jesu Evangelium befreit. Der Gott der Juden bestraft, Jesu Gott der Liebe vergibt.

Die Tora sieht zwar für Ehebruch die Steinigung vor. Aber aus der Zeit Jesu und danach ist kein Fall einer Steinigung belegt. Das ist kein Zufall; denn in Verfahren, bei denen die Todesstrafe droht, sind bei der Auslegung der Tora so viele Barrieren eingebaut, dass es kaum möglich ist, sie zu vollstrecken[1]. Unser Evangelium wird erst verständlich, wenn wir es im Zusammenhang des ganzen Evangeliums nach Johannes begreifen: Darin geht es um das Verhältnis Israels zur römischen Gewaltherrschaft. Während Jesus sich in Treue zu Israels Gott für Befreiung aus Unrecht und Gewalt einsetzt, passen sich die führenden Schichten der Herrschaft Roms an. Dabei wollen sie sich von solchen wie Jesus nicht beirren lassen (7,46). Sie machen die Tora zu einem Instrument der Unterdrückung. Im Namen des Gesetzes sollen diejenigen, die Rom die Loyalität verweigern, getötet werden. Die Tora, deren Perspektive die Befreiung ist, verschmilzt bei Israels führenden Schichten mit dem römischen Gesetz, das die Macht Roms sichert. Sie haben Ehebruch begangen. Von Ehebruch sprechen Israels Propheten, wenn Israel sich fremder Herrschaft anpasst. Ehebruch ist dann ein Bild für den Bruch der Treue gegenüber seinem Gott. Das Vertrauen auf den Gott der Befreiung wird ersetzt durch das Vertrauen auf Götzen, die Herrschaft und darin die mit ihr verbundene Unterdrückung und Gewalt rechtfertigen. Ihre Sünde ist darin zu sehen, dass sie Roms Töten ‚im Namen des Gesetzes‘ rechtfertigen. Wer so handelt, kann kein Sohn Abrahams sein, wird Jesus seinen Gegnern, die ihn ‚im Namen des Gesetzes‘ töten wollen, entgegenhalten (vgl. 8,31ff); denn: „So hat Abraham nicht gehandelt“ (8,40). Er hat seinen Sohn nicht getötet und darin das Gebot von Israels Gott erfüllt und nicht den Befehl einer diffusen Gottheit, die Menschenopfer forderte[2].

Gegen die führenden Schichten, die in ihrer sündigen Kumpanei mit Rom ‚im Namen des Gesetztes‘ töten, gewinnt Jesu Bemerkung ihre Brisanz: „Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als Erster einen Stein auf sie“ (8,7). Auch die Ehebrecherin ist nicht ohne Sünde. Als Bild für Israel macht sie deutlich, dass niemand schuldlos sein kann, der wie auch immer in von Unrecht und Gewalt bestimmte Herrschaftsverhältnisse eingebunden ist. Das ‚Volk‘ ist nicht einfach gut und gerecht, sondern übernimmt oft genug die Sichtweise seiner Unterdrücker bzw. macht sich die herrschenden Sichtweisen zu eigen. Der Messias ist aber nicht gekommen, um Israel zu verurteilen, sondern es neu um seinen Gott zu sammeln und aufzurichten. In unserer Geschichte springt er in die Bresche wie Mose, als sich das Volk das Goldene Kalb gebaut hatte. Mose war vor Gott für sein Volk eingetreten, damit der Weg der Befreiung wieder neu aufgenommen werden konnte. So handelt auch der Messias. Er verurteilt nicht von oben herab, sondern bückt sich und schreibt in den Sand. Mose hatte die Gebote empfangen, die Gott mit dem Finger seiner Hand in die steinernen Tafeln geschrieben hatte. Jesus nun schreibt die Sünde des Götzendienstes in den Sand. Sie wird nicht geleugnet. Aber sie ist auch nicht in Stein gemeißelt.

Zu den Lesungen

Erste Lesung: Jes 43,16-21

Der Zweite Jesaja stellt den nach Babylon verschleppten Juden die Heimkehr aus dem Exil in Aussicht. Möglich wird sie nach dem Untergang des babylonischen Reiches. Dann wird Gott, der sein Volk aus Ägypten geführt hat, die nach Babylon Verschleppten zurück in die Heimat leiten. Die Vergangenheit soll dann keine Macht mehr über sie haben. In Babylon haben sie sich kritisch mit der Vergangenheit auseinander gesetzt und das Königtum als Irrweg erkannt. Mit ihm waren in Israel Verhältnisse der Unterdrückung wie in Ägypten entstanden. Die Erkenntnis dieser geschichtlichen Schuld ermöglicht einen neuen Anfang in der Heimat.

Zweite Lesung: Phil 3,8-14

Das Leben des Paulus ist ganz geprägt von der Macht der Auferstehung des gekreuzigten Messias. Das ist keine Flucht aus der Wirklichkeit. Im Gegenteil zur „Macht seiner Auferstehung“, die Paulus erfährt, gehört „die Gemeinschaft mit seinen Leiden“. Sie stellt an die Seite derer, die wie der Messias unter der Herrschaft des römischen Reiches zu leiden haben, an die Seite all derer, die von Rom ‚im Namen des Gesetzes‘ zum Tode verurteilt wurden. Paulus verspürt keine Sehnsucht mehr nach seinem Leben vor der Begegnung mit dem Messias. Nach seiner Umkehr will er sich ungeteilt in den Dienst seiner Sendung stellen. Er will sich nach dem Weg ausstrecken, der vor ihm liegt.

Ein Zeitvermerk

Wir lesen die Texte des Sonntags in einer Zeit, in der Menschen ‚im Namen der Gesetze‘ des Kapitalismus getötet werden. Dieses Töten geschieht demokratisch und rechtsstaatlich korrekt. Demokratisch werden Menschen in für die Vermehrung von Kapital als irrationalem Selbstzweck der kapitalistischen Veranstaltung verwertbares Humankapital und ‚Überflüssige‘ selektiert. Rechtsstaatlich korrekt werden gegen die ‚Überflüssigen‘ Festungen und Grenzen, Zäune und Mauern errichtet. Rechtsstaatlich korrekt kommen Menschen auf der Flucht um, werden in Terrorregimes abgeschoben und in die Wüste getrieben. Ausgeblendet wird die strukturelle Sünde des kapitalistischen Tötens und die mit ihr einhergehende Zerstörung der Lebensgrundlagen, die wiederum eine entscheidende Ursache für die Flucht von immer mehr Menschen ist.

Je weiter die Krise voranschreitet, desto ausgeweiteter wird das Töten. Immer deutlicher wird, wie auch die Großmächte in die Krisenprozesse einbezogen sind. Statt die Dynamiken zu erkennen, die den Globus in Tod und Zerstörung treiben, wird ausgegrenzt, nationalisiert, militarisiert. Demokratisch gerechtfertigt und überhöht wird das als „Zeitenwende“. Dabei geht es – wie in der sich selbst „kritisch – christlich – unabhängig“ nennenden Zeitschrift „Publik-Forum“ zu lesen ist – „um nichts geringeres als um unseren Frieden und unsere Freiheit“[3]. Ein Weg zu einer tatsächlichen „Zeitenwende“ wäre hingegen die Erkenntnis: Die kapitalistische Art in ‚Frieden und Freiheit‘ zu leben ist tödlich und ‚tötet im Namen des Gesetzes‘. In den sich verschärfenden Krisenzusammenhängen geht sie einher mit einer Wende zu Autoritarismus und Militarismus. Das gilt mehr oder weniger für alle globalen Kontrahenten – mögen sie China, Russland, USA oder Europa heißen. Sie verbindet – ob unter liberalem oder autoritärem, mehr marktwirtschaftlichen oder mehr etatistischen Vorzeichen – die Warenproduktion und ihr irrationaler Selbstzweck. Dieser treibt im Fortgang der Krise in sich selbst vernichtende Konkurrenz. Am Ende könnte die Selbstvernichtung stehen als das größte Opfer stehen, das im ‚Namen des Gesetzes‘ zu vollbringen  ist – vollzogen im Dienst an Frieden und Freiheit oder auch in autoritärer Selbstsetzung angesichts der immanenten Ausweglosigkeiten. „Zeitenwende“ – das wäre selbstkritische Reflexion statt ‚Weiter so‘ mit immer mehr Autoritarismus und Militarismus. Eine Zeitschrift, die sich „kritisch – christlich – unabhängig“ nennt, könnte das auch mit Umkehr von einer Welt unter der Herrschaft eines „Gesetzes, das tötet“ in Verbindung bringen, mit Unterbrechung der herrschenden Logik und der Kritik ihrer Reproduktion in den herrschenden „Gedanken, Worten und Werken“.

Herbert Böttcher

[1]      Klaus Wengst, Das Johannesevangelium, Theologischer Kommentar zum Neuen Testament, Stuttgart 2019, 254f.

[2]      In der Geschichte von der sog. Opferung des Isaak (Gen 22) gab eine Gottheit den Befehl Isaak zu töten. Dagegen gebietet Israels Gott JHWH, Isaak nicht zu töten. Diese Sichtweise setzt Johannes voraus. Vgl. Herbert Böttcher, Wer im Namen des Gesetzes tötet, kann nicht zu den Kindern Abrahams gehören. Joh 8,31-45, in: pax christi – Kommission Weltwirtschaft (Hg.), Der Gott Kapital. Anstöße zu einer Religions- und Kulturkritik, Berlin 22006, 75-85.

[3]      So der Redakteur bei Publik-Forum Constantin Wißmann, Pro und Contra 400 Milliarden Euro für Verteidigung?, in Publik-Forum Nr. 5, 2025, 8.