Koblenz, 07.02.2025.
„Migration“ sei „die Mutter aller Probleme“ hatte der ehemalige Bundesinnenminister Seehofer 2018 gesagt. Damals ging die Öffentlichkeit noch weitgehend über solchen Unsinn zur Tagesordnung über. Inzwischen ist die Mitte soweit nach rechts gerückt und wird von der AfD und den demokratischen Parteien – abgesehen von der Linkspartei – mit dem Thema Migration so umworben, dass ein nationaler Konkurrenzkampf darüber tobt, wer die schärfsten Repressionen gegen Fliehende zu bieten hat.
Das mag angesichts der sich dramatisch verschärfenden Krisen vom Klimawandel und seinen Folgen, Sozialabbau und wirtschaftlichen Einbrüchen, der Eskalation von Gewalt nicht nur in Kriegen verwundern. Steuerung von Migration – verstanden als Willkommen für die Nützlichen und Abschiebung derer, die nicht zu gebrauchen sind – ist das Zauberwort, das ‚Sesam öffne dich‘ für alle Zukunftsprobleme. Dass damit der AfD recht gegeben wird, stört die demokratischen Parteien nicht und hält die Union nicht einmal davon ab, die undemokratische AfD demokratisch hoffähig zu machen. Sie geben vor, auf die Sorgen und Ängste der Bürger/innen zu reagieren. Real reagieren sie auf eine „rohe Bürgerlichkeit“. Was das heißt, hatte die Studie „Autoritäre Versuchungen“ von 2018 zu Tage gefördert und festgestellt, „dass unter einer dünnen Schicht zivilisiert-vornehmer (‚bürgerlicher‘) Umgangsformen autoritäre Haltungen verborgen sind…“[1]. Sie zeigen sich in der Verachtung für schwache Gruppen, der Einforderung von Vorrechten für Etablierte sowie der Orientierung an „Konkurrenz und Eigenverantwortung“[2].
Die Rufe nach autoritärem Durchgreifen gegen Hilfsbedürftige reagieren auf „individuellen und gesellschaftlichen Kontrollverlust“. So sollen Wohlstandsverluste und drohender gesellschaftlicher Abstieg verhindert werden. Ängste und Krisenerfahrungen werden auf Migrant/innen und Arme in der deutschen Gesellschaft projiziert. Ausgerechnet sie sollen schuld sein an den um sich greifenden beängstigenden Krisen. (Völkische) Identität und Ressentiments gegen Nicht-Dazugehörige sollen Kontrolle bringen. Selektiert werden Migrant/innen wie eigene Staatsbürger/innen entlang der Grenzen Arbeitende und Nicht-Arbeitende, Nützliche und ‚Nichtsnutze‘, die ‚uns‘ ausnutzen.
In projektiven Wahn wird die Realität verdrängt. Dabei ist es irrelevant, dass 75% aller weltweit Fliehenden (über 120 Mio.) nicht nach Europa kommen oder die flüchtlingsbezogenen Ausgaben am bundesdeutschen Gesamthaushalt nur knapp 5 % (2023) ausmachen. Irrelevant ist, dass vor allem Kriege und die Zerstörung der Lebensgrundlagen Menschen in die Flucht treiben. Entscheidend ist, was das Bauchgefühl sagt und das ist vom Bann der kapitalistischen Arbeit völlig vereinnahmt, wie ein CDU-Wahlplakat bestätigt: „Fleiß muss sich wieder lohnen“. Das heißt dann wohl auch: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen bzw. darf erst gar nicht kommen. Das gilt auch für deutsche Staatsbürger/innen mit und ohne Migrationshintergrund, die als Bürgergeld-Empfänger/innen den Fleißigen und dem sie besteuernden Staat auf der Tasche liegen.
Abgewehrt wird die rationale Auseinandersetzung mit den Krisen, abgewehrt wird vor allem sie als Krise des Kapitalismus zu verstehen, der auf die Grenze stößt, Kapital zu vermehren, weil die kapitalistische Konkurrenz immer mehr dazu zwingt, Arbeit durch Technologie zu ersetzen. Die unbegriffene und zugleich abgewehrte Krise treibt in einen unbarmherzigen und mitleidlosen Sozialdarwinismus, der diejenigen zu ‚Todfeinden‘ macht, von denen vermeintlich eine Bedrohung der Normalität ausgeht, und in seinem Wahn dabei ist, die Grundlagen des Lebens zu zerstören.
Statt Populismus wäre Nachdenken angesagt – ein Nachdenken, das statt in falscher Unmittelbarkeit gesellschaftliche Probleme auf Menschen in Not zu projizieren sie im Zusammenhang des Ganzen der gesellschaftlichen Verhältnisse zu reflektieren. Wesentlich wäre es, den Elefanten im Raum zu sehen und zu benennen, der den Kern aller Probleme bildet: den Kapitalismus, der auf Grenzen stößt, über die immanent keine Kontrolle mehr zu gewinnen ist. Gefragt sind Wege, die aus dieser Problematik herausführen. Lösungsansätze können nur gefunden werden, wenn begriffen wird, dass das ‚Weiter so‘ die Katastrophe ist. Nachdenken muss dieses blinde ‚Immer-Weiter-so‘ eines kollabierenden Gesellschaftssystems und den Gang der mit ihm einhergehenden Katastrophen unterbrechen – wenn Reflexion es nicht kann, wer oder was sonst?
Das Ökumenische Netz möchte mit der Veröffentlichung des Textes „Rechtsextremismus in Deutschland: Das Problem ist nicht einfach die AfD“ (Autor: Herbert Böttcher, Vorsitzender des Ökumenischen Netzes RMS) zum Nachdenken und Unterbrechen anregen statt einem menschenfeindlichen ‚Weiter-So’ seinen Lauf zu lassen.
[1] Wilhelm Heitmeyer, Autoritäre Versuchungen, Berlin 32018, 310.
[2] Ebd.