Erster Adventssonntag 2024: Gottesdienst und Predigt zu Lk 21,20ff.

Lied:

Kyrie: Gl 158

Gloria:

Lesung

Hinführung:

Der Prophet Jeremia kündigt den nach Babylon verschleppten Juden einen neuen Anfang für das Volk Israel an. Grundlage dafür sind Recht und Gerechtigkeit. In der Sorge um Gerechtigkeit sind Gottes- und Nächstenliebe miteinander verbunden. Entsprechend heißt es in der Lesung: Gott ist unsere Gerechtigkeit. Gottes Gerechtigkeit wird gemäß der Tora Wirklichkeit in der Gerechtigkeit gegenüber den Armen und Schwachen, namentlich gegenüber Fremden, Waisen und Witwen.

Text: Jer 33,14-16

14 Siehe, Tage kommen – Spruch des HERRN -, da erfülle ich das Heilswort, das ich über das Haus Israel und über das Haus Juda gesprochen habe. 15 In jenen Tagen und zu jener Zeit werde ich für David einen gerechten Spross aufsprießen lassen. Er wird Recht und Gerechtigkeit wirken im Land. 16 In jenen Tagen wird Juda gerettet werden, Jerusalem kann in Sicherheit wohnen. Man wird ihm den Namen geben: Der HERR ist unsere Gerechtigkeit.

Zwischengesang: Ps 25,4-5. 8-10. 14 (Kv: 1)

Evangelium und Predigt zu: Lk 21,20-28.34-36

20 Wenn ihr aber seht, dass Jerusalem von Heeren eingeschlossen wird, dann erkennt ihr, dass seine Verwüstung bevorsteht. 21 Dann sollen die Bewohner von Judäa in die Berge fliehen; wer in der Stadt ist, soll sie verlassen, und wer auf dem Land ist, soll nicht in die Stadt gehen. 22 Denn das sind die Tage der Vergeltung, damit alles in Erfüllung geht, was geschrieben steht. 23 Wehe den Frauen, die in jenen Tagen schwanger sind oder ein Kind stillen! Denn große Bedrängnis wird über das Land hereinbrechen und Zorn über dieses Volk. 24 Mit scharfem Schwert wird man sie erschlagen, als Gefangene wird man sie zu allen Völkern schleppen und Jerusalem wird von den Völkern zertreten werden, bis die Zeiten der Völker sich erfüllen. 

25 Es werden Zeichen sichtbar werden an Sonne, Mond und Sternen und auf der Erde werden die Völker bestürzt und ratlos sein über das Toben und Donnern des Meeres. 26 Die Menschen werden vor Angst vergehen in der Erwartung der Dinge, die über den Erdkreis kommen; denn die Kräfte des Himmels werden erschüttert werden. 27 Dann wird man den Menschensohn in einer Wolke kommen sehen, mit großer Kraft und Herrlichkeit. 28 Wenn dies beginnt, dann richtet euch auf und erhebt eure Häupter; denn eure Erlösung ist nahe. 

34 Nehmt euch in Acht, dass Rausch und Trunkenheit und die Sorgen des Alltags euer Herz nicht beschweren und dass jener Tag euch nicht plötzlich überrascht 35 wie eine Falle; denn er wird über alle Bewohner der ganzen Erde hereinbrechen. 36 Wacht und betet allezeit, damit ihr allem, was geschehen wird, entrinnen und vor den Menschensohn hintreten könnt!

„Die Menschen werden vor Angst vergehen…“ heißt es im heutigen Evangelium. Das Thema Angst verbindet dieses Evangelium mit einer Erfahrung, die heute das Leben vieler Menschen prägt.  Viele blicken voller Sorgen in die Zukunft.  Sie fragen sich: Werde ich von meiner Arbeit noch leben können? Wie sicher ist meine Rente? Wie wird es mit Gesundheit und Pflege bestellt sein? Was wird aus den Kindern? Deutschland erscheint vielen wie ein sinkendes Schiff: Kaum noch bezahlbarer Wohnraum, marode Infrastruktur, steigende Kosten für den Grundbedarf. Abstiegsangst macht sich breit. Auch die globale Situation weckt Ängste: Kriege, Zerstörung der Lebensgrundlagen und als Folge davon fliehende Menschen.

Angst kann vor Gefahren warnen, aber auch eng machen. Enge nimmt Luft zum Atmen, verschließt die Herzen. Ein verschlossenes Herz riskiert kaum mehr einen Blick über den eigenen Tellerrand. Dann kreisen Menschen voller Sorgen um sich selbst, verkriechen sich in das eigene Schneckenhaus, wehren schlechte Nachrichten ab und reagieren aggressiv auf deren Überbringer. Angst macht nervös und lähmt, macht müde und erschöpft, lässt aber nicht zur Ruhe kommen. Die Stimmung ist nervös und gereizt, bisweilen aggressiv.

Politische Rattenfänger als falsche Messiase haben da leichtes Spiel. Sie geben vor, Ängste und Sorgen zu verstehen, bieten Alternativen an, die keine sind. Ihre Versprechungen sind eine Mixtur aus den Märchen von ‚Tischlein deck dich!‘ und ‚Knüppel aus dem Sack‘. Alles wird gut, wenn autoritär durchgegriffen wird. Gegen das Gefühl, ohnmächtig zu sein und die Kontrolle zu verlieren, werden Handlungsfähigkeit und Stärke demonstriert. Durchgegriffen wird gegen Menschen, die bereits abgestiegen sind, gegen Arme und Fliehende. Ausgerechnet sie sollen schuld daran sein, dass die Welt aus dem Ruder läuft.

Die Ängste, von denen unser Evangelium spricht, sind Ängste, die Menschen im Krieg der Römer gegen die Juden erleben. In diesem Krieg wurde der Tempel zerstört. Trotz aller Kritik am Betrieb des Tempels war er Symbol dafür, dass Gott in der Mitte seinen Volkes wohnt und die ganze Welt in seinen Händen hält. Mit seiner Zerstörung scheint die ganze Welt zusammengebrochen. Lukas spricht vom „Toben und Donnern des Meeres“ (V. 25). Damit erinnert er an das Chaos der Urflut. Gegen ihre Fluten hatte Gott das Firmament geschaffen. Die Erde als Raum des Lebens sollte vor diesen Fluten sicher sein.

Juden haben die Zerstörung des Tempels und ihre Vertreibung in aller Herren Länder als eine Katastrophe erfahren, die alles Leben in den Abgrund reißt. Lukas setzt sich mit den damit verbundenen Erfahrungen auseinander. Er legt Jesus eine Rede in den Mund, in der sie benannt werden. Lukas spricht von „Seuchen und Hungersnöten“ (21,11), von Flucht und Vertreibung, von Verfolgungen. Opfer sind vor allem Frauen und Kinder. Entsprechend heißt es: „Wehe den Frauen, die in diesen Tagen schwanger sind oder ein Kind stillen!“ (21,22).  Er erzählt von der Not und Verzweiflung derer, die an „Könige und Statthalter“ (21, 12) ausgeliefert werden. Da werden sogar Familien zerrissen und in Freunde und Feinde gespalten.

Über all das – heißt es im Evangelium – werden die „die Völker bestürzt und ratlos sein“ (V. 25). Dennoch ist das nicht das Ende. Im Gegenteil, Lukas betont: „Eure Erlösung ist nahe“ (V. 28). Sie ist verbunden mit dem Kommen des Menschensohns. Er tritt den Weltreichen entgegen. Gegen ihre bestialische Herrschaft soll eine menschliche Welt Wirklichkeit werden. Für Christen ist – wie wir am Fest Christkönig gehört haben – der am Kreuz der Römer hingerichtete und erniedrigte Messias dieser Menschensohn. In seinem Leben an der Seite der Armen und Erniedrigten hat er seine Menschlichkeit und darin seine Treue zu Israels Gott deutlich gemacht. Er hat Gott und seine Nächsten geliebt bis in den Tod. Ihn hat Gott zum Anfang und Maßstab einer neuen Welt gemacht. Wo sich Menschen um ihn sammeln, um ihm nachzufolgen, da beginnt Advent, da kommt ihnen eine menschliche Welt entgegen. In ihr ist  Erlösung nahe.

Menschen bleiben in ihren Ängsten nicht mehr allein, sondern kommen zusammen, lassen sich gleichsam vom Menschensohn einsammeln. Da brauchen sie sich nicht in ihren Ängsten zu verbarrikadieren. Sie brauchen nicht den Kopf in den Sand zu stecken, sondern können ihre „Häupter“ erheben und sich aufrichten (V. 28). Sie beginnen aus der Hoffnung zu leben, dass gilt, was im Leben des gekreuzigten Menschensohns deutlich geworden ist: Die Menschlichkeit von Menschen und eine menschliche Welt hängen daran, dass die Letzten Rettung erfahren.

Damit inmitten der Katastrophen Wege zur Menschlichkeit gebahnt werden können, rät Lukas: „Wacht und betet allezeit“ (V. 36). Wenn Wachsamkeit und Beten verbunden werden, kommen Denken und Beten zusammen. Das Beten wird zum „denkenden Gebet“[1]. Denkend ins Gebet genommen und vor Gott gebracht wird das, was Menschen unter den herrschenden Verhältnissen erleiden. Mit Gott kommen all die Inhalte in das Beten, die mit seinem Namen verbunden sind: dass Gott – wie es in der heutigen Lesung heißt – „unsere Gerechtigkeit“ ist, sein Hören auf die Schreie der Armen und Versklavten, seine Wege der Befreiung hin zum Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit, Wege aus Unmenschlichkeit zur Menschlichkeit hin zu einem neuen Himmel und einer neuen Erde, hin zur Welt des Menschensohns. Im Dialog mit Gott geschieht Umkehr, Umkehr der Wahrnehmung und des Denkens hin auf den Umsturz der herrschenden Verhältnisse. Machtverhältnisse werden gestürzt und Erniedrigte erhöht, so besingt es die mit dem Messias und seiner neuen Welt schwangere Maria bei ihrer adventlichen Begegnung mit Elisabeth (Lk 1, 45ff).

Im Dialog mit Gott können verschlossene Herzen sich öffnen, verengte Blicke sich weiten über die Tellerränder des eigenen Selbst hinaus bis zu den Geringsten der Geschwister in den fernsten Teilen der Welt. Mit Gott kommt eine Weite ins Spiel, die über Grenzen und Begrenzungen hinausführt. Menschen müssen nicht in den Schneckenhäusern ihrer Ängste eingeschlossen bleiben. Sie können den Zwängen einer Selbstbezüglichkeit entkommen, die meint, sich selbst nur retten zu können, wenn andere ausgegrenzt, abgewehrt, als Feinde bekämpft und mit dem ‚Knüppel aus dem Sack‘ von den nur für wenige reservierten Tischen fern gehalten werden.

Für Lukas sind es die „Sorgen des Alltags“, die ängstlich und furchtsam machen. Im Kreisen um das eigene Selbst werden sie nur größer. Sie lassen sich nicht lösen, sondern höchstens durch „Rausch und Trunkenheit“ beschwichtigen. Ob Brot und Spiele in Rom oder diverse Events heute, sie machen nicht wach, sondern betäuben und halten gefangen. Das wachsam denkende Beten kann über die Enge der Sorgen des Alltags hinausführen. Es eröffnet eine überraschende Perspektive: „Sucht zuerst das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit; dann wird euch alles andere dazu gegeben“, heißt es in der Bergpredigt (Mt 6, 33). Dies steht freilich im Gegensatz zu dem, was in unserer Gesellschaft an Plausibilität gewinnt: Zuerst ich, mein Volk, meine Nation… Dagegen zu sagen: „Zuerst das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit“, zuerst der erniedrigte Menschensohn und mit ihm die gesellschaftlich Erniedrigten als Orientierung für eine menschliche Welt – das ist kein moralisierender Altruismus, sondern nüchterner Realismus. Unrealistisch ist es, statt auf Miteinander auf Gegeneinander zu setzen. Unrealistisch ist es, davon auszugehen, ausgrenzende und vernichtende Konkurrenz im Kampf ums Dasein inmitten der einbrechenden kapitalistischen Verhältnisse könne von Angst und Sorgen befreien. Befreien kann jedoch jene Perspektive, die im wachsam denkenden Beten in den Blick kommt: ein solidarisches Leben, das geprägt ist von der Sorge für die Schwächsten. Darin naht Erlösung. Das erst macht die Welt zu einer menschlichen Welt und uns selbst zu menschlichen Menschen.

Credo:

Fürbitten: (Ruf: Gl 234)

Guter Gott, du bist „unsere Gerechtigkeit“. Im Advent, den wir inmitten der Krisen unserer Tage begehen, halten wir Ausschau nach einer menschlichen Welt, nach dem Menschensohn, den du versprochen hast. Wir bitten dich stellvertretend für alle, die unter Unrecht und Gewalt leiden, für die Opfer des brutalen Bürgerkriegs im Sudan:

für Hunderttausende, die vom Hungertod bedroht sind, für Familien, die auseinandergerissen werden, für  die 11 Millionen Menschen, die im eigenen Land auf der Flucht sind: um eine menschliche Welt, um das Kommen des Menschensohns

Ruf: Gl 234

für die Nachbarländer des Sudan, in die drei Millionen Menschen geflohen sind, für das bettelarme Nachbarland Tschad, wo Hunderttausende aus dem Sudan fliehende Menschen Schutz gesucht haben:um eine menschliche Welt, um das Kommen des Menschensohns

Ruf: Gl 234

für Frauen und Kinder, die unter den Folgen der Gewalt und unter dem leiden, was sie auf der Flucht mitansehen mussten, für Frauen, die mit ihren Kindern allein gelassen sind: um eine menschliche Welt, um das Kommen des Menschensohns

Ruf: Gl 234

für Männer, die zwangsrekrutiert und zu Opfern brutaler Gewalt werden, für alle, die angesichts der Erfahrung von Gewalt traumatisiert sind, für die vielen, die getötet wurden: um eine menschliche Welt, um das Kommen des Menschensohns

Ruf: Gl 234

für die Armen in unserem Land, für alle, deren Not auf Unverständnis und Abwehr stößt, für Menschen, die nicht wissen, wie sie Wohnung und Lebensunterhalt finanzieren sollen, für diejenigen, die auf der Straße leben und vertrieben werden: um eine menschliche Welt, um das Kommen des Menschensohns

Ruf: Gl 234

für alle, deren Herzen verhärtet sind und deren Blick eng geworden ist: um Umkehr der Herzen, um einen weiten Blick, um die Erkenntnis Gottes und seiner menschlichen Welt, um das Kommen des Menschensohns

Ruf: Gl 234

für die Toten, für diejenigen, die an Hunger gestorben und auf der Flucht umgekommen sind, für alle in den Kriegen Getöteten und für alle unsere Verstorbenen: um das Kommen des Menschensohns, um das Leben in einem neuen Himmel und einer neuen Erde

Ruf: Gl 234

Um all das bitten wir im Vertrauen auf das, was du uns mit deinem Namen versprochen hast.

Herbert Böttcher (Texte/Predigt), Kapelle des Heinrichhauses der Josefs-Gesellschaft in Neuwied-Engers)

[1]     Vgl. Andrew Prevot, Das denkende Gebet. Eine theologische Praxis für die Welt von heute, in: Concilium. Internationale Zeitschrift für Theologie, 2024, Heft 4, 9-15.