Repression und rassistische Ressentiments gegen Fliehende: Ein wahnhafter Weg aus der Krise

„Es reicht…“

Mit dieser Parole forderte Friedrich Merz nach dem Anschlag von Solingen am 23.08.24 ohne ein Moment des Innehaltens oder gar des Respekts für die Trauernden reflexartig Verschärfungen in der Abschiebe- und Asylpolitik. Straftäter sollen nach Afghanistan und Syrien abgeschoben werden. Dass dafür – aus gutem Grund – die rechtlichen Voraussetzungen fehlen, spielte keine Rolle, noch weniger, dass dazu die Zusammenarbeit mit afghanischen und syrischen Terrorregimen nötig wäre. Merz gelingt es, die anderen Parteien populistisch vor sich herzutreiben. In einem Überbietungswettbewerb kämpfen die demokratischen Parteien um die nationale Meisterschaft im Abschieben von Geflohenen. Von der AfD werden sie dafür gelobt, dass sie endlich das tun, was die AfD immer schon gefordert hat.

„Autoritäre Versuchungen“

Bereits 2018 hatte die Studie „Autoritäre Versuchungen“ die „Ausprägung einer „rohen Bürgerlichkeit“[1] diagnostiziert und festgestellt, „dass unter einer dünnen Schicht zivilisiert-vornehmer (‚bürgerlicher‘) Umgangsformen autoritäre Haltungen verborgen sind…“[2]. Sie zeigen sich in der Verachtung für schwache Gruppen, der Einforderung von Vorrechten für Etablierte sowie der Orientierung an „Konkurrenz und Eigenverantwortung“[3]. „Autoritäre Versuchungen sind … vor allem als Reaktionen auf individuellen oder gesellschaftlichen Kontrollverlust zu interpretieren. Sie erzeugen eine Nachfrage nach politischen Angeboten, die darauf abzielen, die Kontrolle wiederherzustellen, und zwar durch die Ausübung von Macht und Herrschaft sowie über Ausgrenzung und Diskriminierung bzw. gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit.“[4]

Nährboden für solch „autoritäre Versuchungen“ sind die sich verschärfenden Krisenerfahrungen. Sie reichen von Krieg und Umweltzerstörung, Terror, Armut und sozialer Spaltung bis hin zu sozialem Abstieg. Angesichts solcher Erfahrungen verlieren die neoliberalen Ratschläge, mit harter Arbeit und permanenter Selbstoptimierung werde alles gut, an Plausibilität. Es entsteht der Eindruck, alles ‚laufe aus dem Ruder‘ und gerate außer Kontrolle. Autoritäre, identitäre und ressentimentgeladene Haltungen gewinnen an Anziehungskraft und verbinden sich mit der Illusion, damit könnten Kontrollverluste rückgängig gemacht und die bedrohte Normalität wieder hergestellt werden. Verlangt werden ‚konkrete‘ Lösungen für ‚konkrete‘ Probleme. Sie sind bestimmt von der Suche nach Halt in einer Mixtur aus autoritär-repressiven und identitären Strategien. Identitär werden Grenzen markiert zwischen Deutschen und Nicht-Deutschen, Arbeitenden und Schmarotzern, Freunden und Feinden und, wo es geht, auch autoritär-repressiv durchgesetzt.

„Deutschland, aber normal“ (AfD)

Als normal unterstellt werden die kapitalistischen Verhältnisse von Produktion und abgespaltener Reproduktion, von Arbeit und Sorge um das Leben, von Produzieren und Konsumieren, von Anspannung und entspannender Rekreation. Dieses auch für Verteidiger der Demokratie geltende Verständnis von Normalität ist nach rechts hin durchsetzt durch das, was die AfD unter „Deutschland, aber normal“ versteht. Hier geht es vor allem um ethnische und kulturelle Identität. Zu ihr gehören wesentlich traditionelle Zweigeschlechtlichkeit und bürgerliche Familie sowie ein dichotomisches Weltbild, das zwischen denen, die dazu gehören, und denen, die draußen bleiben müssen, klar unterschiedet. An die Stelle der ‚Rasse‘ tritt als ausgrenzende Markierung ethnische und kulturelle Identität – gelegentlich verdeckt durch die schönfärberische Rede von einer Pluralität der Ethnien. Aber auch dadurch ist die identitär markierte Ausgrenzung nicht aufgehoben; denn jede Ethnie soll da bleiben bzw. dahin ‚zurückgeführt‘ werden, wo sie hingehört. Ausgrenzende Identitätspolitik wird zur Grundlage „gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ (Wilhelm Heitmeyer). Strategien der Ausgrenzung zielen darauf, durch das Zurückgewinnen von Kontrolle zu einer wirr imaginierten Normalität zurückzukehren.

Ein rechter ‚Kulturkampf’ nach der Devise „das Deutsch-Sein kann uns niemand nehmen“ tritt in gewisser Weise an die Stelle des ‚Klassenkampfs‘. Von den sozial Abgehängten, die sich in ihrer Sehnsucht nach deutscher Normalität beachtet und verstanden fühlen, wird übersehen, dass auch sie nach den wirtschaftspolitischen Vorstellungen der AfD weiter marginalisiert werden. Diese offene sozialpolitische Flanke schließt das Bündnis Sahra Wagenknecht“ (BSW). Es verknüpft die Frage nach sozialen Disparitäten und sozialer Ausgrenzung mit deutsch-nationaler Orientierung, nach der es zuerst um soziale Gerechtigkeit für abgehängte Deutsche gehen muss. Mit ihnen konkurrieren Menschen, die fliehen müssen, weil sie Opfer all der Krisen sind, die die Grundlagen des Lebens zerstören – sei es durch Armut, wirtschaftliche Krisen, zerfallende Staaten, Kriege, ökologische Zerstörungsprozesse.

Gemeinsam gegen ‚Überflüssige‘

Die aktuellen Versuche, Kontrolle wiederherzustellen, sind auf Migrant*innen fokussiert. Sie werden zur „Mutter aller Probleme“ (Seehofer) stigmatisiert. Darin sind sich demokratische Mitte wie rechte und linke deutsch-identitäre Orientierungen einig. Im Unterschied zu den bereits unsäglichen und von Anschlägen auf Flüchtlingsunterkünften begleiteten Asyldebatten in den 1990er Jahren ist nicht einmal mehr vom Kampf gegen Fluchtursachen die Rede. Ernst gemeint war diese Rede auch damals nicht. Sie wurde aber offensichtlich gebraucht, um den sog. Asylkompromiss durch den Hinweis auf die ‚eigentlichen‘ Probleme, die Menschen zur Flucht treiben, zu relativieren. Inzwischen ist der Blick so national und konkretistisch verengt, dass die globale Zerstörungsdynamik schon gar nicht mehr in Sichtweite kommt.

Über die deutschen Grenzen hinaus reicht der Blick jedoch, wenn es darum geht,  Migrant*innen  anzuwerben, die gebraucht werden, um den Mangel an Fachkräften in Produktion und Vermarktung wie im Pflegebereich zu kompensieren. Ausländisches Humankapital ist wichtig, damit Deutschland in der globalen Konkurrenz nicht noch weiter ins Hintertreffen gerät. So verbindet sich  Abschiebeterror gegen ‚Unnütze‘, die ‚uns‘ ausnutzen, mit der globalen Jagd nach verwertbarem  Menschenmaterial, das ‚uns‘ nützt. Die Selektion in überflüssige ‚Schmarotzer‘ und ‚rechtschaffen Arbeitende‘ auch unter Einheimischen gehört zu einem Konsens, der bis in die demokratische ‚Mitte‘ der Gesellschaft geteilt wird. Solche Selektion gilt ebenso, wenn auch abgeschwächt, nach innen. Analog zu der Asyldebatte in der 1990er Jahren ist auch heute die Abwehr von Migrant*innen verbunden mit Sozialabbau für Einheimische und deren Stigmatisierung als ‚Arbeitsverweigerer‘.

Fetischisierung der Arbeit als gesellschaftlicher Konsens

Der Hass auf nicht-arbeitende Migrant*innen wie auf ‚einheimische Arbeitsverweigerer‘ ist Ausdruck der Fetischisierung der Arbeit im Kapitalismus. Arbeit ist eben kein Widerspruch zum Kapital, sondern als unverzichtbare Quelle von Wert und Mehr-Wert dessen Substanz. Daher ist Arbeit nicht zu affirmieren, sondern zu kritisieren. Die Parole ‚Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen‘, ist nicht zufällig ein ‚klassen‘übergreifender gesellschaftlicher Konsens. Im Hass auf Nicht-Arbeitende kommt struktureller Antiziganismus zur Geltung. Er speist sich aus der Abwehr von Sinti und Roma, sog. Zigeuner*innen, die sich der auf Arbeit gründenden Moderne verweigerten, während sich struktureller Antisemitismus in der Abwehr des ‚raffenden Finanzkapitals’ zulasten des schaffenden Kapitals, also in einer auf die Zirkulationssphäre reduzierten Kapitalismuskritik à la „Das Casino schließen“ (attac), virulent ist. Beide Vorstellungen sind über die Fetischisierung der Arbeit miteinander verbunden. Sie treffen sich in dem Bedürfnis, Krisenlagen irrational auf Personen und Gruppen und deren Ausgrenzung hin zu konkretisieren, sowie in der Illusion, durch regulierende bis hin zu autoritären Maßnahmen und Ordnungen politische Kontrollverluste kompensieren und politische Handlungsmöglichkeiten zurück gewinnen zu können.

Letzteres ist eine wahnhafte Illusion. Auch autoritäre Regierungen können die verlorenen Kontrollen nicht zurückgewinnen. Die Grenze, die auch sie nicht überwinden können, ist die logische und historische Schranke der Kapitalverwertung. Sie ist dadurch gesetzt, dass – vermittelt über die Konkurrenz – für die Produktion von Waren immer weniger Arbeit als Substanz der Produktion von Wert und Mehr-Wert eingesetzt wird und durch Mechanismen der Kompensation wie Verbilligung der Produktion und Ausweitung von Märkten nicht mehr kompensiert werden kann. Politische Handlungsfähigkeit ist aber an eine funktionierende Akkumulation von Kapital gebunden. Je mehr sie einbricht, desto deutlicher stößt die politische Handlungsfähigkeit ebenso wie die Rechtsfähigkeit, die Menschenrechte eingeschlossen, an ihre Grenzen. Wie sehr Rechtsfähigkeit an die Fähigkeit gebunden ist, Arbeit als ‚Humankapital‘ verwerten zu können, zeigt sich drastisch in der Migrationspolitik. Verwertungsfähigen Migrant*innen steht der Schutz des Rechts offen, während für die Verwertung ihrer Arbeit Überflüssige im Glücksfall mindere Rechte bekommen oder am Ende auch ohne Lebensrecht, an Terroregime ausgeliefert, in Lagern eingeschlossen werden oder im Mittelmeer ertrinken, während die Seenotrettung kriminalisiert wird.

Freiheit, aber anders

Vor dem skizzierten Hintergrund rücken demokratische und repressiv-autokratische Politik zusammen. Inhaltlich sind beide Varianten zum Verwechseln ähnlich, je mehr es um letztlich verzweifelte Versuche geht, auch postdemokratische Kontrollmöglichkeiten in über die Krise zu verlängern. Sie unterscheiden sich vor allem auf der formalen Ebene der Feindschaft oder des Respekts gegenüber demokratischen Prozessen und Institutionen. Letzterer ist nicht wenig und gegen Versuche, Demokratie auszuhebeln, zu verteidigen. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es um mehr gehen muss, wenn der Kollaps verhindert werden soll, nämlich um die Befreiung von der Unterwerfung unter den tödlichen und irrationalen Selbstzweck der kapitalistischen Vergesellschaftung, Kapital um seiner selbst willen zu vermehren. Freiheit bestünde darin, im Rahmen eines ‚Vereins freier Menschen‘, die Kontrolle über die Reproduktion des Lebens zu gewinnen, statt als Anhängsel der Verwertungsmaschinerie zu leben bzw. zu sterben. „Unterm Bann der zähen Irrationalität des Ganzen“ (Theodor W. Adorno) mag das illusionär erscheinen. Jenseits dieses Banns jedoch ist angesichts der sich zuspitzenden tödlichen Krisenrealität nichts unrealistischer als der vermeintlich „illusionslose Pragmatismus“ (Robert Kurz), dem sich die sog. Realpolitik verschrieben hat. Die Katastrophe nimmt umso rabiater Fahrt auf je mehr das so weitergeht, statt dass – irritiert durch das Leid von Menschen und mit kritischem Blick auf die gesellschaftliche Totalität der kapitalistischen Vergesellschaftung – der ‚Gang der Dinge‘ unter- und durchbrochen wird. Dann könnte „Freiheit … darin bestehen, daß die Menschen, die sich zur Reproduktion ihres Lebens zusammenfinden, dies nicht nur freiwillig tun, sondern auch gemeinsam über den Inhalt ebenso wie über die Vorgehensweise beraten und beschließen. … Eine derartige Freiheit, die das genaue Gegenteil der liberalen universellen Knechtschaft unter dem Diktat von Arbeitsmärkten wäre, ist prinzipiell auf allen Ebenen und Aggregierungen der gesellschaftlichen Reproduktion praktisch möglich – vom Haushalt bis zur transkontinentalen Vernetzung der Produktion“ (Robert Kurz).

Herbert Böttcher (zuerst erschienen in der Zeitschrift Konkret 11/2024)

[1]      Wilhelm Heitmeyer, Autoritäre Versuchungen, Berlin 32018, 87.

[2]      Ebd., 310.

[3]      Ebd.

[4]      Ebd. 84.