Koblenz, 14.06.2023
„Eine historische Entscheidung“ hat Innenministerin Nancy Faeser die jüngsten Asylentscheidungen der EU genannt. Das ist keineswegs „historisch“, sondern liegt in der Logik des Weges, der politisch schon mit dem sog. deutschen Asylkompromiss von 1993 eingeschlagen wurde (vgl. Rückblick von Pro Asyl dazu). Durchgesetzt wurde er als Verfassungsänderung mit 2/3-Mehrheit in einer Zeit vieler Anschläge, Mordversuche und tatsächlicher Morde von Rechtsextremen, die bei weitem nicht nur im Osten Deutschlands vorkamen, sondern u.a. auch in Koblenz. Diese Mehrheit konnte die rechts-liberale Regierung unter Helmut Kohl nur durch die Unterstützung der SPD-Opposition erlangen. Über die Zuwanderungsgesetze unter rot-grüner und großer Koalition sowie die Dublin-Verordnungen der EU wurde sukzessive die Zuwanderung von Nützlichen und die Abwehr von Überflüssigen beschlossen, die in den aktuellen Entscheidungen ihren vorläufigen Höhepunkt gefunden haben.
Mit den voranschreitenden Krisen wächst der Druck zwischen nützlichem und verwertbarem Menschenmaterial zu unterscheiden. Entsprechend werden Nützliche als Fachkräfte, vor allem in Pflege, an der ‚Peripherie’ gesucht. Ihnen sollen Grenzen und Türen geöffnet werden. Immerhin scheint das kostengünstiger als eigene Fachkräfte auszubilden und so zu entlohnen, dass sie davon ‚leben‘ können. Willkommene Migrant*innen kommen als ausgebildete Fachkräfte und sind mit weniger Lohn zufrieden.
Menschen werden dabei zu Exemplaren gemacht und verdinglicht – die einen als verwertbare Arbeitskraft, die anderen als Exemplare, die außerhalb der Grenzen Deutschlands bzw. Europas gehalten werden sollen und der Vernichtung preisgegeben sind. Sie werden in Lager an den Grenzen und schon davor in den vor Rechtstaatlichkeit strotzenden Staaten wie Libyen, Türkei oder Niger ‚aufgenommen’. All das geschieht rechtsstaatlich korrekt. Die demokratische Rechtsform ist bekanntlich dann korrekt, wenn das Recht das, was als Recht gilt, unabhängig von seiner Inhaltlichkeit formal korrekt beschließt. Dann kann auch Vernichtung rechtlich korrekt vollzogen werden. Das vernichtende Potential des Kapitalismus trifft dabei diejenigen, deren Humankapital nicht verwertbar ist. Genau das kommt auch in jenen Asylentscheidungen zum Ausdruck, die Faeser als „historisch“ verkaufen will.
Die EU hat nun ganz rechtens beschlossen, was schon seit Jahrzehnten Praxis ist und unter dem Druck der sich zuspitzenden Krisen noch einmal verschärft wird:
- Zunächst fällt auf, was nicht Thema war: Die Rettung aus Seenot. Menschen sind zu zehntausenden nicht aus Seenot gerettet worden und im Massengrab Mittelmeer ertrunken, im Rahmen von Pushbacks sogar regelrecht versenkt worden. Das wird auch künftig stattfinden, wenn Einsätze von Organisationen, die retten wollen, weiter kriminalisiert werden.
- Menschen, die vor Kriegen, Armut, Staatszerfall und Verfolgung fliehen müssen, werden täglich eingesperrt und können nun – wenn sie eine geringe Anerkennungswahrscheinlichkeit haben – rechtskräftig an den EU-Grenzen 12 Wochen festgehalten und danach abgeschoben werden. Nur wer eine hohe Schutzquote, also gute Chancen auf Aufnahme hat, wird an freiwillige Aufnahmeländer weitergeleitet. Eine Prüfung kann nur kursorisch erfolgen. Juristischer Beistand dürfte ebenso hinfällig sein wie ein Recht auf Widerspruch. Man darf darüber hinaus gespannt sein, wie eine freiwillige Aufnahme vor sich gehen wird, die etwa in der Wirtschaft so hervorragend funktioniert, dass sie angeblich kaum Arbeitsrechtsverletzungen weltweit mit sich bringt.
- Wer über einen sog. sicheren Drittstaat zur EU-Grenze gelangt, kann sein Recht auf Asyl wegen Verfolgung mit großer Wahrscheinlichkeit nicht geltend machen. Dabei sollen diese ‚sicheren’ Drittstaaten auch noch deutlich ausgeweitet werden, u.a. müssen sie nicht mehr der Genfer Flüchtlingskonvention beigetreten sein… ein Schelm, wer Böses dabei denkt.
- Der Zuzug von Familien und Minderjährigen wurde abgelehnt. So viel zum Thema, dass ‚Kinder und Familie’ den rechten Regierungen in Italien, Polen, Schweden oder Ungarn ja so wichtig seien – es sind selbstverständlich nur die ‚richtigen Familien’, d.h. ihre weißen und nationalen Familien. Das gilt im Kern für alle Parteien und zeigt, wie nahe sich Liberale, Rechte und ‚post’-faschistische Kräfte sind.
Der Zuwachs rechter Kräfte und der immer weiter sich nach ‚rechts’ bewegenden ‚Mitte’ der Gesellschaft sind ein globales Krisenphänomen. Die immanent nicht mehr bewältigbaren Krisen des Kapitalismus sollen identitär und regressiv durch Rückgriff auf Nation, Rasse, Geschlecht etc. gelöst werden. Der Rückgriff auf Identitäres und Regressives geht auch an ‚Linken‘ nicht spurlos vorbei. Hier sollen es Klasse und demokratisches Aushandeln, Personalisierungen als Identifizierung von Schuldigen richten. Wege zu Querdenkertum und Verschwörungsphantasien, die im Zusammenhang mit Corona sozialdarwinistische Tendenzen samt ihres impliziten Rassismus befeuerten, sind auch von ‚links’ nicht verschlossen. Auch ‚struktureller Antisemitismus‘ wird unreflektiert oder gar billigend in Kauf genommen.
„Historisch“ könnte für Faeser lediglich der Kompromiss mit den ‚post’-faschistischen Regierungen sein. Damit sollte wohl der Zerfall Europas verhindert werden. Die sog. Postfaschisten bekommen recht. Erbettelt wird nur noch ein bisschen Humanität, das in der EU-Entscheidung wenn überhaupt, so nur in der homöopathischen Dosis einer Ausnahme von Familien mit Kindern aus Inhaftierung und Lager zu finden wäre. Aber auch dabei geht es wohl weniger um ‚Humanität‘ als vielmehr um eine Dosis Beruhigung für Murrende aus dem Klientel der Grünen.
Und nicht zuletzt: Das menschenrechtliche Eiferertum der westlichen Welt, wenn es um die Ukraine – und deren Unterstützung durch Waffenlieferungen und die mit der ‚Zeitenwende‘ legitimierte gigantische Aufrüstung – geht, steht in völligem Kontrast zu der Ignoranz gegenüber dem ‚Unrecht‘, das an den Überflüssigen rechtlich korrekt exekutiert wird. Deutlich wird dabei: den Preis für die gigantischen Ausgaben für Rüstung und wirtschaftliche Kompensationen auch in Folge von Corona zahlen sozial Ausgegrenzte – innerhalb und außerhalb der Grenzen. Politisch gesuchte Auswege werden immer deutlicher in sozialdarwinistischen Wegen gesucht. Auch sie sind dem Kapitalismus inhärent. Dass Menschenrechte, Völkerrecht, Freiheit des Westens gegen ‚Putin‘ ideologisch mobilisiert werden, ist freilich kein Zufall – geht es doch in den Konstellationen zwischen Russland, China und dem Westen darum, Einflusssphären inmitten des Zerfalls zu suchen, in den auch die Großmächte einbezogen sind: Nur bleiben diese Versuche irrational, weil es keine ökonomische und politische Grundlage für eine neue Hegemonie gibt.
Schlussendlich droht der barbarische Krieg aller gegen alle. Die immer anomischer, d.h. regelloser werdenden Verhältnisse in und zwischen den europäischen Staaten sind ein Spiegel der Anomie der kapitalistischen Krisenverhältnisse. Das ‚Weiter so‘ in der kapitalistischen Form wird die Probleme weiter verschärfen und in barbarisierenden Sozialdarwinismus treiben. „Dass es so weitergeht ist die Katastrophe“, hatte Walter Benjamin vor gut 100 Jahren geschrieben. Die gegenwärtige Herausforderung besteht vor allem darin zu begreifen, was geschieht. Das ist unverzichtbar, wenn es darum geht, sich dem Gang in die Vernichtung entgegenzustellen.
Vorstand und Geschäftsführung des Ökumenischen Netzes Rhein-Mosel-Saar e.V.