„Der atomare Todestrieb“ – Impuls zur pax christi-Diözesanversammlung 2021

In der kapitalistischen Gesellschaft, die unsere Welt prägt, geht es mittels der Verausgabung von Arbeit um die Produktion von Waren, um daraus mehr Kapital zu erwirtschaften. Mit der Arbeit ist die minderbewertete, in der Regel an Frauen delegierte Reproduktion Grundlage dieser Produktion und steht zugleich im Schatten der männlich konnotierten Produktion. Die natürlichen Grundlagen werden als reine Verbrauchsmasse angesehen, die dieser Gesellschaftsordnung und ihrem Wachstumstrieb zu dienen haben, koste es was es wolle.

Selbst in dieser zerstörerischen Gesellschaftsform, die die Geschehnisse in Wirtschaft und Politik sowie im sog. Alltag und damit bis hinein ins menschliche Innerste meist unbewusst bestimmt, scheinen Atomwaffen überhaupt keinen Sinn zu ergeben. Schließlich soll doch die Wirtschaft wachsen. Auch die Verteidigung des eigenen Territoriums oder die Drohung mit diesen Waffen gegen Gruppen, die diese Ordnung gefährden, scheint ob der Zerstörungskraft wenig sinnvoll. Dabei handelt es sich um Gruppen, die aus dem Zerfall des kapitalistischen Weltsystems samt seiner failed states entstanden sind und um die übrig gebliebenen Ressourcen kämpfen. Beim militärischen Kampf gegen diese Zerfallsprodukte hat der ‚Westen‘ – wie abzusehen und zuletzt vor allem in Afghanistan deutlich geworden ist – oft ‚den Kürzeren‘ gezogen. Abgesehen davon stößt ‚der Westen‘ bei solchen militärischen Interventionen, die darauf abzielen das System trotz seines Zerfalls funktionsfähig zu erhalten, auf die Grenzen seiner finanziellen Möglichkeiten. Dabei hinterlassen die ‚Einsätze‘ Zerstörungen, die kaum mehr rückgängig zu machen sind – im Falle von atomaren Waffen wäre dies gänzlich unmöglich. Was nun lässt die Staaten, die zudem noch Gefahr laufen, dass die genannten Zerfallsprodukte an atomare Waffen gelangen können und die Situation noch unübersichtlicher und gefährlicher machen, an dieser menschheitsbedrohenden Waffe festhalten und sogar zur Modernisierung antreiben, wie es ja auch in Büchel geschieht?

Der Kapitalismus will wachsen um seiner selbst willen – diese Selbstbezüglichkeit des Kapitals ist aber gänzlich inhaltsleer: Ob Krankenhausbetten oder Bomben, Hauptsache es wird produziert und verkauft. Diese „metaphysische Leere der Wertform“ umschreibt der Gesellschaftstheoretiker Robert Kurz an Karl Marx anknüpfend als eine „auf sich selbst bezogene Form ohne eigenen Inhalt, die Selbstzweck-Form der Verwertungsbewegung von Geldkapital, das sich in die gleich-gültigen Dinge der Welt nur ‚entäußert’, um […] zu sich selbst zurückzukehren in einer paradoxen erweiterten Quantität von jenem ‚Nichts’, von rein numerischem abstraktem Reichtum“ (Kurz 2003, Weltordnungskrieg, 427).

Nun gelingt in der Krise des Kapitalismus seit den 1970/80er Jahren diese ‚Entäußerungsbewegung’ bzw. dieser ‚Darstellungszwang’ in der realphysischen Welt immer schlechter: Immer mehr Ressourcen müssen verbraucht werden, immer mehr soziale Belange müssen zu Markte getragen werden. Nur die zunehmenden Finanzblasen halten die universelle, konkurrenzgetriebene Geldbewegung noch aufrecht. Mit den wachsenden Krisen, die nicht mehr Entwicklungskrisen innerhalb der kapitalistischen Form sind, sondern die Krise der Form als ganzes, die an ihre eigenen Grenzen stößt, kommt die Leere der Form immer mehr zum Tragen.

Auf der Ebene des Subjekts, also der unter diese Gesellschaftsform unterworfenen Menschen, zeigt sich dies immer mehr in Amokläufen, Selbstmordattentaten oder Lebens-Müdigkeit von Menschen. Das, was die kapitalistische Form zusammenhält – Arbeit, Geld und Familie – zerbröselt und treibt Menschen in die Barbarei. Eine Gesellschaftsform, die mit ihrer Entstehung vor etwa 500 Jahren mit der Vernichtung von Menschen aus Produktionszwecken einher geht – abgesichert durch staatliche Waffengewalt –, tendiert in ihrer finalen Krise zur Selbst-Vernichtung. Hier zeigt sich die global gewordene Konkurrenz, die auch vor den Subjekten nicht halt macht, die in Söldnerheeren, Jugendbanden, Mafia- und korrupten Politikzusammenhängen bis aufs Blut um geringer werdende Ressourcen kämpfen. Und auf der Ebene von Staaten verhält es sich nicht viel anders: „Je unhaltbarer und gefährlicher die Weltsituation wird, desto stärker tritt der militärische Aspekt in den Vordergrund und desto niedriger wird die Hemmschwelle, Hightech-Gewalt im großen Maßstab einzusetzen, ohne noch lange zu fragen“ (Kurz 2003, Weltordnungskrieg, 429).

Auch wenn die gigantomanische Verschuldung mit ihren ökonomischen Verwerfungen dazu führt, dass selbst der ehem. Weltpolizist, die USA bzw. NATO, sich aus vielen Krisengebieten zurückzieht und sie gänzlich ihrem systemisch bedingten, aber auch vom ‚Westen‘ selbst mitverursachten Zerfall überlässt, scheint es noch eine Option des Einsatzes zu geben – die Atombombe. An ihr zeigt sich der „kapitalistische Todestrieb“ (R. Kurz) wohl am deutlichsten. Ihr Einsatz, der von der früheren Bush-Regierung Anfang der 2000er, aber auch von Russland und aktuell von Nordkorea real in Betracht gezogen wird, käme einer Welt- und Selbst-Vernichtung der Menschheit gleich. Darin zeigt sich die dieser Gesellschaftsform immanente Irrationalität ihrer inhaltsleeren Produktion und ihrer Aufrechterhaltung auf Teufel komm raus. Um Störenfriede wie ‚Schurkenstaaten’, terroristische Zerfallsprodukte oder für die Form überflüssige Menschen zu vernichten, wird ‚rational’ über die irrationalste aller Waffen ‚nachgedacht’: „Die Manifestation des Todestriebs […] erwächst unmittelbar aus dem binnenrationalen Kalkül selbst, das damit seine eigene Irrationalität ebenso unmittelbar ausdrückt. Oder anders gesagt: Systemische Rationalität und Irrationalität fallen eben unmittelbar zusammen“ (Kurz 2003, Weltordnungskrieg, 433). So repräsentiert die Atombombe die kapitalistischste aller Waffen und das dem Kapitalismus immanente „Potential zur Weltvernichtung“, denn sie kann den „Widerspruch zwischen metaphysischer Leere und ‚Darstellungszwang’ des Werts in der sinnlichen Welt lösen“, indem sie die Welt ins Nichts und so in die Vernichtung bugsiert.

Kirchlich bliebe die unzweideutige Zurückweisung von Atombomben wie sie in „Pacem in terris“ oder den letzten Verlautbarungen von iutitia et pax formuliert ist. Die Götzen des Todes können nicht toleriert bleiben, wenn die befreienden und damit antifetischistischen Inhalte der jüdisch-christlichen Tradition wie sie in den Büchern der Bibel überliefert sind Gültigkeit haben sollen. Relativierende Hinweise wie im Wort der deutschen Bischöfe von 1983 („Gerechtigkeit schafft Frieden“) auf die befristete Sinnhaftigkeit von Atomwaffen sind zu verneinen, die Frist hat ein Ende, sonst endet die Welt.

Dominic Kloos

Diese Gedanken und die Überschrift gehen in erster Linie auf das Buch „Weltordnungskrieg“ von Robert Kurz zurück, das 2021 mit einem Nachwort von Herbert Böttcher neu aufgelegt wurde.