Primat der Erkenntnis. Zur Bedeutung von ‚Lehr- und Lernhäusern‘ als Orte unterbrechender Reflexion

In Saarbrücken finden sich seit 2018 ChristInnen an einem neuen ‚Kirchort’ zusammen, um theologisch und gesellschaftskritisch über zahlreiche soziale, ökologische, politische und kirchliche Probleme nachzudenken, die uns in unseren Tätigkeitszusammenhängen von Kirche(n), Kommunen, Sozialeinrichtungen und sozialen Bewegungen begegnen. Die jüdische Tradition des Lehrhauses[1] hat die Teilnehmenden dazu inspiriert, diesem Vorhaben den Namen „Lehr- und Lernhaus“ zu geben. Das Ökumenische Netz möchte die Bedeutung dieses Vorhabens, das im Rahmen eines „diakonisch Kirche-Werdens“ der Trierer Bistumssynode auch in anderen Regionen ‚ökumenisch im weitesten Sinne’ umgesetzt werden könnte, mit diesem Text hervorheben.

 Der Weg nach Emmaus als Lehrhaus

Von den JüngerInnen, die von Jerusalem nach Emmaus fliehen, erzählt Lukas: „Sie sprachen miteinander über all das, was sich ereignet hatte. Und es geschah, während sie ihre Gedanken austauschten, kam Jesus selbst hinzu.“ Das griechische Verb, das die neue Einheitsübersetzung mit „ihre Gedanken austauschen“ übersetzt, hat die wörtliche Bedeutung von ‚zusammen suchen‘ (sün-zäteo). Es steht in Parallele zu dem hebräischen darasch, das ebenfalls ‚suchen‘ bedeutet und sich in dem Wort für Lehrhaus, ‚bet ha-midrasch‘ wiederfindet.[2] Der Weg der EmmausjüngerInnen macht deutlich, was in einem jüdischen Lehrhaus geschieht: das gemeinsame Suchen nach Wegen, die Geschichte der Befreiung zu verstehen, wie sie in der Tora erinnert wird, um in der aktuellen Situation Wege der Befreiung gehen zu können.

Dies ist auch die Orientierung für die Suche nach Wegen der Nachfolge des gekreuzigten und auferstandenen Messias. Dabei macht die Geschichte der EmmausjüngerInnen deutlich, dass der Messias Jesus nur durch die Lektüre der „gesamten Schrift“ (Lk 24,27) als des Ersten (und zweiten) Testaments zu verstehen ist und Wege der Nachfolge zu finden sind. Die Schrift muss gelesen und interpretiert werden. Das geht nicht einfach von selbst oder mit Hilfe frommer Intuitionen. Dafür ist das gemeinsame Lesen und Suchen nach Interpretation wichtig. Dies ist kein abgeschlossener Prozess, sondern muss immer wieder neu geschehen, weil die Schrift in sich verändernden geschichtlichen Verhältnissen zu Wegen der Befreiung inspirieren will. Deshalb gehört zum Umgang mit Texten der Schrift sowohl die Frage nach den geschichtlichen Kontexten, in denen sie entstanden sind als auch die Frage nach den aktuellen geschichtlichen Verhältnissen, in denen ihre befreienden Erinnerungen zur Geltung kommen sollen.

Weil die Schrift sich nicht selbst und auch nicht durch fromme Assoziation erschließt und schon gar nicht zu einer unhinterfragbaren fundamentalistischen Basis verkommen darf, brauchen wir die kritische Auseinandersetzung mit der Schrift und der heutigen gesellschaftlichen Situation, in der wir versuchen im Vertrauen auf Israels Gott die Wege des Messias zu gehen. Daher knüpfen wir an die Tradition des Lehrhauses an. Damit setzen wir einen notwendigen Akzent in einer Gesellschaft, in der sich viele im Verzicht auf kritische Reflexion des gesellschaftlichen Ganzen in der nicht begriffenen komplexen gesellschaftlichen Krise in Pragmatismus und Populismus flüchten, der sich immer öfter auch in Autoritarismus, Rechtsextremismus, Rassismus, Sexismus und Antisemitismus ausdrückt.

 Eine Gesellschaft ohne Reflexion auf ihre Grundlagen                                                    

Wir leben in einer Gesellschaft, in der hinter dem unmittelbar Gegebenen der Blick auf das Ganze verschwindet. Das Verschwinden der Frage nach dem Ganzen ist Ausdruck einer „falschen Unmittelbarkeit“ (T.W. Adorno), in der die Erscheinungen mit dem Ganzen so verschmelzen, dass sie nicht mehr reflektierend überschritten und in Frage gestellt werden können. Wirklichkeit wird zu einer geschlossenen Immanenz. Bejaht wird die Welt, wie sie ist. Auf der Handlungsebene zeigt sich diese Problematik in Pragmatismus und Populismus. Beide Orientierungen sind nicht dazu in der Lage, den Zusammenhang gesellschaftlicher Verhältnisse zu denken bzw. in Frage zu stellen. Folglich können sie auch nur im Rahmen der unkritisch vorausgesetzten Verhältnisse handeln. Dabei stoßen sie an die Grenzen, die mit der Krise der kapitalistischen Gesellschaft gesetzt sind. Werden diese nicht kritisch reflektiert, kann sich ein ohnmächtiger Pragmatismus schnell mit Populismus und Rechtsextremismus vermischen. Beide verbindet die reflexions- und theoriefeindliche Weigerung, sich mit dem Ganzen der herrschenden Verhältnisse kritisch auseinanderzusetzen. Bekräftigt wird damit die kapitalistische Gesellschaft, die in ihrer finalen Krise das Leben von Menschen und die Grundlagen allen Lebens zerstört. Die immanenten Grenzen des vorhandenen gesellschaftlichen, sprich kapitalistischen, Käfigs können so nicht erkannt und schon gar nicht überwunden werden. Wenn dies aber nicht geschieht, kommen Menschheit und Erde an ihr Ende, was sich bereits seit Jahrzehnten mit zunehmender Verwilderung in immer mehr Teilen der Welt abzeichnet. Wer nicht nach dem Ganzen der gesellschaftlichen Verhältnisse fragt, kann das, was Menschen konkret erleiden, weder verstehen noch angemessen handeln.

Das angestrebte „Lehr- und Lernhaus“ in Saarbrücken soll ein (‚Kirch’-)Ort sein, an dem das, worunter Menschen zu leiden haben, zur Sprache kommt und zum Gegenstand kritischer Reflexion im Blick auf den Zusammenhang einer zerstörerischen kapitalistischen Gesellschaft wird. Dies erfordert eine reflektierende Distanz gegenüber falscher Unmittelbarkeit in der Wahrnehmung und im Handeln. Es geht um das ‚Primat der Erkenntnis’ (H. Böttcher/H. Buchen) im Blick auf Gesellschaft und Theologie.

Doppelte Transzendierung

Wer darauf verzichtet, die Frage nach dem Ganzen zu stellen, wird nicht nur theorie-, sondern als Kirche auch theologie-los. Dafür, dass das Leben von Menschen im Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen und geschichtlichen Ganzen gesehen wird, steht die Frage nach Gott. Sie bezieht sich auf das Ganze der Wirklichkeit – sowohl auf die gesellschaftliche Wirklichkeit als auch auf die Welt als Ganzes (als Schöpfung und Geschichte). Sie impliziert ein transzendierendes Denken, weil Gott die Grenzen der Wirklichkeit übersteigt. Politisch-theologische und befreiungstheologische Ansätze, in denen die gesellschaftliche Wirklichkeit, in der Menschen leiden, zentral ist, sollen im Sinne einer „doppelten Transzendierung“ (H. Böttcher) Grundlagen unserer Auseinandersetzungen sein und gleichzeitig weitergetrieben werden. Doppelte Transzendierung bezieht sich zum einen auf bestimmte geschichtliche Situationen, in und unter denen Menschen leiden. Darin zeigt sich ihre „Leid- und Zeitempfindlichkeit“ (J.B. Metz). Zum anderen aber ist ihr Horizont auch die Schöpfung und die Geschichte als Ganzes. Leid- und Zeitempfindlichkeit der Theologie beziehen sich also auch auf die Leiden vergangener Zeiten und verbinden sich mit der Hoffnung auf das Ende der Zeit.

Von Gottes Transzendenz kann also nicht ohne die Grenzen geschichtlicher Situationen gesprochen werden, in denen Menschen zu Opfern werden, aber auch nicht, ohne Schöpfung und Geschichte als Ganzes auf das Ende der Zeit hin zu überschreiten. Dieser Gedanke ist verwurzelt in den biblischen Traditionen. In ihnen wird von Gott so gesprochen, dass die Grenzen geschichtlicher Sklavenhäuser – von Ägypten bis Rom –, aber auch die Grenzen von Schöpfung und Geschichte hin auf „einen neuen Himmel und eine neue Erde“ (Offb 21,1) überschritten werden.

Angesichts der gegenwärtigen globalen Leiden von Gott zu reden, verbindet die Frage nach Gott mit der Frage nach der Form der kapitalistischen Gesellschaft. Um den Zusammenhang der konkreten Leiden mit der gesellschaftlichen Form des Kapitalismus zu analysieren, bietet die Wert-Abspaltungskritik, die von der Gruppe ‚Exit’ (bis 2004 ‚Krisis’) rund um Robert Kurz und Roswitha Scholz ‚entwickelt’ wurde, einen wesentlichen Ansatzpunkt. In ihrem theoretischen Rahmen ist es möglich, das ‚Konkrete’ so mit der gesellschaftlichen Totalität zu verbinden, dass erkennbar wird, wie ‚Konkretes’ und gesellschaftliche Totalität miteinander vermittelt sind. Auf diese Weise kann dem ‚Konkreten’, dem konkreten Leiden von Menschen in seiner Besonderheit Rechnung getragen werden. Zugleich kann es in seinem gesellschaftlichen Zusammenhang so erkannt werden, dass Perspektiven seiner Überwindung deutlich werden.

Das mit dem Gottesnamen implizierte transzendierende Denken zielt auf die Überwindung von Herrschaft in der Geschichte. Weil es in den biblischen Traditionen verwurzelt ist, verbindet es unterschiedliche geschichtliche Situationen und Verhältnisse, stellt also eine Kontinuität in der Diskontinuität her. Die radikale Kritik des Messias an den römischen Herrschaftsverhältnissen steht für die ‚kontinuierliche’ Hoffnung in der Geschichte, dass nicht Machtverhältnisse das letzte Wort haben, sondern überwunden und ‚gerichtet’ werden können. Die Diskontinuität besteht in den historischen Entwicklungen verschiedener Gesellschaftsformationen: von auf Götterwelt oder Kirchenordnung ausgerichteten agrarischen Formationen, beide vermittelt über personale Abhängigkeitsverhältnisse und feste Rangordnungen, bis hin zur „abstrakten Herrschaft“ (K. Marx) der kapitalistischen Gesellschaftsformation, auf der höchsten Abstraktionsebene vermittelt über die Kategorien Wert und Abspaltung (in diese Grundkategorien sind die Bestimmungen der kapitalistischen Kategorien Arbeit und Geld (Wert) sowie Staat/Politik und die Polaritäten von Markt und Staat bzw. Ökonomie und Politik usw. eingebettet).

Um die verschiedenen Zeitkerne von Gesellschaftsformationen zu erkennen, wären Phänomen und Wesen, die Erfahrung des Konkreten und die gesellschaftliche Totalität zu unterscheiden: Erst wenn in der Wahrnehmung verschiedener Phänomene und konkreter Leiden ein ihnen gemeinsamer Kern analysiert werden kann, der zeigt, welches ‚Prinzip’ dahinter steckt, wie die Materie, also die realen Gegebenheiten, geformt werden, kann der Zeitkern eines ‚Ganzen’ bestimmt und negiert werden. Das heißt aber keinesfalls, dass aus diesem ‚Wesen’, der gesellschaftlichen Totalität, alle Erscheinungen abgeleitet werden könnten. Vielmehr muss zugleich das „Nicht-Identische“ (T.W. Adorno) hervorgehoben werden, das, was eben nicht in den formenden ‚Prinzipien’ aufgeht, was immer auch das Denken gegen sich selbst, das „Denken in Konstellationen“ (T.W. Adorno), die Irritationen ‚eines Außen’ und Gebrochenheiten im Denken und Handeln nach sich zieht. Ein solches Denken erfasst die kapitalistische Gesellschaft als „konkrete Totalität“ (G. Lukács bzw. R. Scholz). Dies besagt, dass sich die Bestimmungen der gesellschaftlichen Totalität auf verschiedenen Ebenen (abstrakteste Formebene, ideologische, psycho-soziale und kulturell-symbolische Ebene – auf die heutige Gesellschaftsformation bezogen) bewegen und diese miteinander zu vermitteln sind. Die konkreten Erscheinungsformen können nicht einfach aus der gesellschaftlichen Form abgeleitet werden. Das heißt, dass nicht jegliches Denken und Handeln heute in der Wert-Abspaltungsform aufgeht.

Operationalisierung

Dem Denken einer ‚doppelten Transzendierung’, das mit der angedeuteten radikalen Gesellschaftskritik verbunden ist, will sich ein regelmäßig tagender Reflexionskreis stellen und öffentliche Veranstaltungen dazu organisieren. Auf dieser inhaltlichen Grundlage wird es möglich, konkrete Erfahrungen und Leidenssituationen von Menschen im Blick auf das Ganze zu thematisieren, aber auch die Kategorien einer kritischen Reflexion zu unterziehen, in denen die Konstitution des Ganzen zur Geltung kommt. Vom Einzelnen her wird das Ganze der Gesellschaft bedacht. Und das Ganze wird in seiner zerstörerischen Konstitution im Blick auf das bedacht, was die/den EinzelneN dem „stummen Zwang der Verhältnisse“ (K. Marx) und ihrer Zerstörungsdynamik ausliefert. Theologische Reflexion wird verstanden als reflektierende Erinnerung an Gottes Geschichte mit den Menschen, wie sie in Israels Geschichte und seines Messias als Ringen um Befreiung zum Ausdruck kommt. Nur wenn biblische Erinnerung und theologische Reflexion lebendig bleiben, können sie kritisch in Beziehung zu gesellschaftlichen Prozessen gesehen und in der Unterscheidung zwischen Gott und Götzen fetischismuskritisch zur Geltung gebracht werden. In diesem Sinne impliziert theologische Reflexion die Frage nach biblischer Verwurzelung ebenso wie die nach dogmatischen Inhalten, wie sie in Bekenntnissen zum Ausdruck kommen, und das Leben der Kirche aus den Sakramenten und in der Liturgie. Konkret werden kann diese Reflexion in Bibel-Reihen, Kursen zum Glaubensbekenntnis, den Sakramenten, zur Liturgie u.v.m.

Charakteristisch für die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen thematischen Zusammenhängen werden daher als Schritte sein:

  • inspiriert von der biblischen Grundhaltung der ‚Compassion‘: die Auseinandersetzung mit dem, worunter Menschen in unserer Gesellschaft und in globalen Zusammenhängen leiden,
  • die Frage, wie im Leid von Menschen das Ganze der patriarchal-kapitalistischen Krisengesellschaft vermittelt ist,
  • die biblisch-theologische Reflexion des Leids von Menschen im Kontext des Ganzen der gesellschaftlichen Herrschafts- und Fetischverhältnisse mit dem Fokus der biblischen Unterscheidung zwischen Gott und Götzen (Fetischen),
  • die Frage nach Wegen der Befreiung als Wege, die die für Menschen und Globus zerstörerischen kapitalistischen Verhältnisse überwinden können, und als Wege samaritanischen Handelns in Solidarität, auf denen das Leiden von Menschen gelindert werden kann.

TEXT ALS PDF

Koblenz, 24.09.2019

Ökumenisches Netz Rhein-Mosel-Saar e. V. – Vorstand und Geschäftsführung

 

[1] „Der Name „Lehrhaus“ verweist auf eine zweitausendjährige ununterbrochene Lerntradition. Gelernt wurde teils allein daheim, vorzugsweise aber in Gemeinschaft im Lehrhaus, laut, den Text (der hebräischen Bibel) wiederholend, einprägend, auswendig lernend, und im Zwiegespräch diskutierend und argumentierend.“ http://www.juedisches-lehrhaus-goettingen.de/was_ist_lehrhaus.html.

[2] Vgl. Gerhard Jankowski, Das Evangelium des Lukas übersetzt und mit Anmerkungen versehen, in: Texte & Kontexte Nr. 145-147, 1-3/2015, 184.