2. Advent: „Kehrt um! Denn das Himmelreich ist nahe!“ (Mt 3,2) – Der Täufer Johannes als Bote der kommenden Befreiung

Mt 3,1-12

1 In jenen Tagen trat Johannes der Täufer auf und verkündete in der Wüste von Judäa: 2 Kehrt um! Denn das Himmelreich ist nahe. 3 Er war es, von dem der Prophet Jesaja gesagt hat: Stimme eines Rufers in der Wüste: / Bereitet den Weg des Herrn! / Macht gerade seine Straßen! 4 Johannes trug ein Gewand aus Kamelhaaren und einen ledernen Gürtel um seine Hüften; Heuschrecken und wilder Honig waren seine Nahrung. 5 Die Leute von Jerusalem und ganz Judäa und aus der ganzen Jordangegend zogen zu ihm hinaus; 6 sie bekannten ihre Sünden und ließen sich im Jordan von ihm taufen. 7 Als Johannes sah, dass viele Pharisäer und Sadduzäer zur Taufe kamen, sagte er zu ihnen: Ihr Schlangenbrut, wer hat euch denn gelehrt, dass ihr dem kommenden Zorngericht entrinnen könnt? 8 Bringt Frucht hervor, die eure Umkehr zeigt, 9 und meint nicht, ihr könntet sagen: Wir haben Abraham zum Vater. Denn ich sage euch: Gott kann aus diesen Steinen dem Abraham Kinder erwecken. 10 Schon ist die Axt an die Wurzel der Bäume gelegt; jeder Baum, der keine gute Frucht hervorbringt, wird umgehauen und ins Feuer geworfen. 11 Ich taufe euch mit Wasser zur Umkehr. Der aber, der nach mir kommt, ist stärker als ich und ich bin es nicht wert, ihm die Sandalen auszuziehen. Er wird euch mit dem Heiligen Geist und mit Feuer taufen. 12 Schon hält er die Schaufel in der Hand; und er wird seine Tenne reinigen und den Weizen in seine Scheune sammeln; die Spreu aber wird er in nie erlöschendem Feuer verbrennen.

Der Täufer Johannes wird in christlichen Darstellungen oft unterschätzt. Er wird reduziert auf die Rolle des Vorläufers des Messias. Seine äußere Gestalt und sein Auftreten in der Wüste sind Anlass, ihn als asketischen Eremiten darzustellen. Seine Botschaft wird als moralisierend und wegen seines Insistierens auf dem Gericht als ‚Drohbotschaft‘ interpretiert. Demgegenüber erstrahlt Jesus als lebensfroh. Seine Botschaft gilt als ‚Frohbotschaft‘, die geprägt ist von der Nähe Gottes und seines Erbarmens. Und wenn es ganz schlimm kommt, landen solche Sichtweisen bei der Gegenüberstellung vom durch Gesetz und strafenden Gott geprägtem Alten Testament und der befreienden Botschaft des Evangeliums. Selbstredend zielt die hier gemeinte Befreiung vor allem auf eine religiöse und/oder ‚innere‘ Befreiung. Sie soll sie von einem strafenden und rächenden Gott befreien und Menschen helfen, sich selbst zu finden. Befreiung nach der Botschaft des Johannes aber sieht ganz anders aus.

Bereitet Wege der Befreiung (VV. 1-3)

Dass Johannes in der Wüste wirkt, stellt ihn in den Zusammenhang von Traditionen des Ersten Testaments, noch denen Gott nicht in den Zentren der Macht, sondern in der Wüste erscheint. Matthäus knüpft vor allem an den Weg an, der Israel aus der babylonischen Gefangenschaft zurück in das Land führte, das Gott ihm als Grundlage eines Lebens in Befreiung geschenkt hatte (Jes 40). Dem entspricht die Botschaft des „Rufers in der Wüste“: „Bereitet den Weg des Herrn!“ (V. 3). Matthäus stellt die Botschaft des Johannes in die Tradition des Kommens Gottes als Befreier seines Volkes Israel. Das ist keine nostalgische Reminiszenz, sondern eine ‚subversive Erinnerung‘: Die Geschichte der Befreiung ist nicht zu Ende. Gott will sie angesichts der aktuell erfahrenen Unterdrückung durch Rom neu zur Geltung bringen. Das Wort „Himmelreich“ mag die Brisanz dieser Botschaft verdecken. In jüdischen Traditionen wird von ‚Gottes Königreich der Himmel‘ aus Ehrfurcht vor dem Gottesnamen gesprochen. Das Reich, das hier gemeint ist, ist nichts anderes als die Königsherrschaft Gottes. Wie im Himmel so soll sie auch auf der Erde geschehen (Mt 6,10). Dabei ist der Himmel von der Erde unterschieden. Im Himmel gilt Gottes Herrschaft uneingeschränkt, während die Erde unter Systemen unterdrückerischer Herrschaft leidet. Damit Gottes Wille der Befreiung „wie im Himmel Himmel, so auf der Erde“ (Mt 6,10) geschehe, kommt Gott seinem Volk immer wieder neu entgegen. Dem auf die zerstörte Erde und mitten hinein in Verhältnisse der Unterdrückung kommenden Gott soll Israel den Weg bereiten. Gott kommt zur Befreiung des Landes. Er macht der Unterdrückung ein Ende. Die Botschaft des Johannes beinhaltet: Geht auf den Gott zu, der auf diese Weise kommt – wie es ja in den biblischen Traditionen immer wieder erzählt, erhofft und erbetet wurde. Diese Botschaft war als Bruch mit der römischen Herrschaft nicht misszuverstehen. Wie Gott seinem nach Babylon verschleppten Volk einen Weg durch die Wüste gebahnt hat, so wird er es auch angesichts der Herrschaft Roms tun. Darauf hin gilt es umzukehren. Solche Umkehr beinhaltet nicht weniger, als mit der Herrschaft Roms zu brechen.

Johannes trug ein Gewand aus Kamelhaaren…“ (V. 4)

Weitgehend vertraut ist das Bild des Johannes als eines Asketen. Seine Kleidung und seine Ernährung deuten aber noch auf etwas anderes hin. Die Kleidung des Johannes steht in Kontrast zur feinen Kleidung, die „in den Palästen der Könige“ (Mt 11,8) getragen wird. Seine Nahrung aus Heuschrecken ist in der Antike nicht ungewöhnlich. Auffällig ist der Hinweis auf den „wilden Honig“. Er kommt also nicht aus der Bienenzucht, die in der römischen Landwirtschaft eine wichtige Rolle spielt. Der hier produzierte Honig war vielfältig verwendbar: als Stoff zum Süßen wie auch als Wachs und Heilmittel. „Dass der Text betont, der Honig sei ‚wild‘, also nicht aus bäuerlicher Bienenzucht, zeigt, dass Kleidung und Nahrung des Täufers bewusst die von Menschen erzeugte und gehandelte Ware vermeiden“1. Seine Kleidung und Ernährung stehen im Zusammenhang jüdischer Praxis der Reinheit. Ihr ging es darum, die Treue zu Israels Gott zum Ausdruck zu bringen und Distanz gegenüber Fremdherrschaft und der mit ihr einhergehenden Unterdrückung zu üben. Sie galt als Ausdruck der Herrschaft von Götzen, die im Widerspruch steht zu Israels Gott der Befreiung. Reinheit und Reinigung von Unreinheit sind eben weder leeren oder auf Innerlichkeit bezogene Formeln noch auf den Ritus zu reduzieren, sondern widerständige Abwehr der Kollaboration mit den unterdrückenden Machtverhältnissen im Alltag.

Die Leute … zogen zu ihm hinaus“ … und „bekannten ihre Sünden…“ (VV. 5-7)

Viele Menschen ziehen zu Johannes hinaus in die Wüste, in die „Jordangegend“ (V. 5), um sich „im Jordan von ihm taufen“ (V. 6) zu lassen. Der Ort der Taufe am Jordan erinnert an Israels Einzug in das von Gott geschenkte Land. Unmittelbar vor dem Übergang über den Jordan verweist Josua – wie ähnlich schon Mose in seiner Rede in den Ebenen Moabs (vgl. Dtn) – Israel auf seine Verpflichtung, nach der Weisung der Tora zu leben (Jos 1,7.16f; 23,6-8.12f.15f.). Sie ist die Orientierung für das Leben als befreites Volk, das dem Gott der Befreiung treu bleiben und sich nicht neuer Herrschaft unterwerfen soll. Indem „die Leute zu ihm … hinaus“ ziehen, kehren sie dem von Rom beherrschten Land den Rücken und wenden sich der Wüste, dem Ort des Erscheinens Gottes und dem Ruf des Johannes zu. Er ruft zu dem auf, was zentrales Anliegen des Deuteronomiums und Josuas war und im Zusammenhang mit dem Übergang über den Jordan in das Land voll ‚Milch und Honig‘, in dem Israel als befreites Volk leben soll, erzählt wird. Israel soll seinem Gott der Befreiung und darin der ihm geschenkten Befreiung die Treue halten. In dieser Tradition kündigt Johannes das Kommen Gottes mitten hinein in die römische Herrschaft an und ruft zur Umkehr auf. Zur Umkehr gehört auch das Bekenntnis der Sünden. Auch die Sünde lässt sich nicht verinnerlichen und individualisieren. Sie ist vielmehr Ausdruck der eigenen Verstrickung in die Herrschaftsverhältnisse. Diese Verstrickungen lassen sich nicht durch rein individuelle Umkehr auflösen. Möglich ist es aber, in dem Sinne mit ihnen zu brechen, dass sie nicht resigniert hingenommen oder sogar affirmiert werden. Wie dies im Leben zum Ausdruck gebracht wird, ist noch einmal eine eigene Frage. So viel kann vielleicht angedeutet werden: Umkehr beinhaltet einen Bruch mit dem, was als ‚normal‘ gilt, also mit den als Normalität hingenommenen Verhältnissen. Er zielt auf eine andere Art, die Welt wahrzunehmen, zu denken, sich zu orientieren und anderes zu handeln. Johannes drückt den Bruch mit der Normalität der römischen Welt durch seine Kleidung und Ernährung aus und fordert sie in seiner Predigt. Solche „Reinheit“ wird zum „Widerstand gegen ein korrumpiertes Leben“2. Aber auch hier gilt Adornos Diktum, es gebe keine wahres Leben im Falschen. Zur Botschaft des Johannes gehört eben auch: „Leben nach Gottes Willen ist in diesen Verstrickungen, die schon Nahrung und Kleidung verunreinigen, nicht möglich.“3 Sie sind kein Ersatz für den notwendigen Bruch mit den Herrschaftsverhältnissen und damit auch kein Ersatz für das Kommen Gottes als Befreier. Sie sind vielmehr Zeichen dafür, diesem Kommen den Weg zu bereiten. In der Taufe findet Reinigung von den Verstrickungen in die Verhältnisse einen symbolischen Ausdruck. In ihr artikuliert sich zugleich der Hoffnung auf das Kommen Gottes. Die symbolisch erfahrene Reinigung bleibt ausgerichtet auf die endgültige Reinigung von Herrschaft, die mit dem Kommen Gottes erhofft wird.

Als Johannes sah, dass viele Pharisäer und Sadduzäer zur Taufe kamen…“ (VV. 8-10)

Mit Leuten aus den Reihen von Pharisäern und Sadduzäern wollen Menschen die Taufe empfangen, die den Bruch mit Rom verweigern. Zur Zeit des Matthäus haben die Sadduzäer, also die Tempelpriester, mit der Zerstörung des Tempels ihre Stellung verloren. Die Sadduzäer zur Zeit Jesu kooperierten mit Rom und erwiesen sich als Stütze der römischen Herrschaft. Im Unterschied zu ihnen können die Pharisäer nicht einfach als Sympathisanten römischer Herrschaft gelten. Zur Zeit des Matthäus sind sie jene Gruppe, die versuchen, in der Zerstreuung wieder neu jüdisches Leben zu ermöglichen. Dabei wollen sie keine Konflikte mit Rom eingehen. Wenn Matthäus hier von Pharisäern und Zöllnern spricht, verbindet er die Zeit seiner Gegenwart mit der Zeit Jesu.

Ihm kommt es zum einen darauf an, die Notwendigkeit des Bruchs mit Rom deutlich zu machen, den die Pharisäer und Sadduzäer verweigern. Deswegen wird ihre Taufe zur Lüge. Sie wollen sich dem Ritus der Reinigung von Herrschaft und den darin wirksamen Götzen unterziehen, ohne mit dieser Herrschaft brechen zu wollen. Zum anderen dürfte die Erfahrung eine Rolle spielen, dass führende Pharisäer Anhänger:innen des Messias Jesus an Rom ausgeliefert haben. Dies steht hinter dem Vorwurf, die Pharisäer setzten die Morde an den Propheten darin fort, dass sie Messianer an Rom und dabei dem Tod preisgeben (Mt 23,32ff.). Im Zusammenhang dieses Vorwurfs taucht auch das Wort von den Nattern und der Schlangenbrut (23,32) wieder auf. Hier wird deutlich, dass sie keine Frucht bringen wollen, in der ihre Umkehr deutlich wird. Dann kann auch die jüdische Herkunft, also die Zugehörigkeit zu den Kindern Abrahams, nicht mehr retten. „Gott wird nicht automatisch das Volk als sein erwähltes Volk bewahren, wenn es sich an Rom anpasst.“4 Deshalb steht jetzt die Stunde der Umkehr an. Sie ist zugespitzt auf die Frage des Bekenntnisses zu Israels Gott und dem damit verbundenen Bruch mit Rom bzw. der Zugehörigkeit zu Rom und den Götzen, die seine Herrschaft legitimieren. In diesem Sinn ist „die Axt an die Wurzel der Bäume gelegt“ (V.10). Eine Entscheidung von der Wurzel her steht an. Mit der Entscheidung für den kommenden Gott ist die Hoffnung auf Befreiung aus den Verstrickungen in römische Macht- und Herrschaftszusammenhänge verbunden. Diese Hoffnung gibt Israel Kraft Wege der Befreiung zu gehen. Sie bringt Früchte der Befreiung, während die Früchte der Herrschaft mit der Herrschaft untergehen werden.

Der aber, der nach mir kommt…“ (V 11f.)

Der Hinweis auf den Kommenden, der stärker ist als Johannes, ist immer wieder auf Jesus eng geführt werden. Aus jüdischer Perspektive ist Gott der Kommende und mit ihm das Kommen seines Reiches. In dieser Perspektive muss Jesus dem Kommenden zugeordnet werden. Auch als Messias steht er im Dienst des kommenden Reiches und des kommenden Gottes. Noch Überzeugung der Messianer ist in dem Messias Jesus, in seinem Leben, in seinem Tod und in seiner Auferstehung verdichtet, ‚inkarniert‘, was Inhalt des Gottesnamens ist. Damit aber ist das Gegenüber zwischen Jesus und Gott nicht aufgehoben. Gott hat ihn auferweckt und wird – so die Hoffnung – das, was er in seinem Messias schon hat Wirklichkeit werden lassen, für alle Opfer von Unrecht und Gewalt in der Geschichte und darin für alle Menschengeschwister geschehen lassen.

Kirchen in Deutschland und Umkehr zu Wegen der Befreiung?

Wären auch die Kirchen in Deutschland an den Jordan gezogen? Skepsis scheint angebracht. Sie sind mit Reformen beschäftigt, aber nicht mit Umkehr. Im Zentrum dieser Reformen steht nicht die die Hinkehr zu denen, die Opfer der heutigen kapitalistischen Herrschaftsverhältnisse sind, und schon gar nicht die Abkehr von diesen Verhältnissen. Den Kirchen geht es vor allem um sich selbst, darum, ihre bedrohte gesellschaftliche Stellung zu sichern. Dazu wollen sie (wahrscheinlich wieder einmal zu spät) ‚auf die Höhe‘ dieser Verhältnisse kommen. Sie wollen ‚unternehmerische Kirchen‘5 werden. Dabei geht es ihnen nicht um diejenigen, die arm und überflüssig gemacht werden, um diejenigen, die fliehen, weil ihre Lebensgrundlagen zerstört werden, sondern um Kund:innen, die auf den Märkten nach ‚Religiösem‘ nachfragen. Die Kirche will ‚die Menschen‘ erreichen, heißt das im pastoralen Jargon. ‚Die‘ Menschen sind solche, die je nach Bedarf und Situation nach religiöser Erweiterung des Glücks oder religiösen Entlastungen im Stress des Alltags fragen. Gesucht sind religiöse Impulse, die bestätigen und beschwichtigen, nicht Bibel, sondern Esoterik, nicht Gott, sondern ‚Religion‘.

Wenn die Kirchen als ‚unternehmerische Kirchen erfolgreich sein wollen, müssen sie auf der Höhe der kapitalistischen Zeit sein, um auf den umkämpften Märkten für Religiöses bestehen zu können, auch um sich gegen die kulturelle Hegemonie des Kapitalismus behaupten zu können6. Letzteres ist keine kapitalismuskritische Positionierung, sondern eine Strategie mit etwas alternativem Gestus, auch mit ‚einem bisschen‘ Option für die Armen, an der Seite des Kapitalismus zu bestehen. Das bleibt nicht ohne Konsequenzen für die Inhalte der biblischen Traditionen. Ihr subversives Gedächtnis hat im Rahmen einer individualisierenden Esoterisierung des Glaubens, die beratschlagend und therapeutisierend das gestresste Selbst für die kapitalistische Gesellschaft wieder funktionsfähig machen soll. Mit der Erfahrungs- und Erlebnisdimension des Glaubens ist nicht die Erfahrung von Unrecht und Gewalt, sondern Selbst- und wenn es hoch kommt Alltagserfahrung gemeint. Es sind Erfahrungen, in denen die kapitalistischen Verhältnisse als selbstverständliche Normalität erfahren werden. Sie werden nicht kritisiert, sondern vorausgesetzt. Und wer in der Langeweile der alltäglichen Wiederkehr des Gleichen Abwechslung sucht, kann sie auch im Rahmen religiöser Events bekommen. Die danach wieder einsetzende Langeweile oder Melancholie verlangt nach einem neuen Event, nach Erfahrung und Erlebnis ohne Inhalt bzw. als Wiederholung der Leere des kapitalistischen Alltags.

Mit Johannes kann man solchen Kirchen schwerlich kommen. Für sie ist er weitgehend moralisierender Vorläufer und Unheilsprophet, der durch die Frohe Botschaft Jesu vom Reich Gottes abgelöst wird. In der Rolle des Vorläufigen bleibt auch das Alte Testament mit seiner irritierenden und die Normalität des Alltags unterbrechenden Traditionen der Befreiung. Ob es da ein Zufall ist, dass Rainer Bucher, wenn er vom Gottesbegriff Jesu“ und seiner Verkündigung des Reiches Gottes spricht, das Alte Testament und mit ihm seinen Gott der Befreiung von Herrschaft glatt ‚vergisst‘? Mit ihm käme ja nicht nur die kulturelle Hegemonialität des Kapitalismus in den Blick, sondern sein unappeitlicher ökonomischer Untergrund, seine Produktions- und Reproduktionsverhältnsse samt ihrer Krisendynamik bis hin zu einer Politik, deren Aufgabe es ist, die explodierenden Krisen mehr schlecht als recht bzw. zunehmend rechter und autoritärer zu verwalten. Entsprechend war in einer Predigt zum Fest Christkönig aus der real pastoralen Welt vollmundig zu hören, dass Fest sei eine radikale Kritik an Despoten. Despoten sind Putin und alle auf der Welt, die Menschenrechte verletzen. Dagegen stehen dann die vom Volk kontrollierten und geteilten Gewalten in der Demokratie samt der damit garantierten Menschenrechte. Wie Katar durch die Fifa so wird ‚der Westen‘ durch solch pastorale Überhöhung ‚gewaschen‘. Dabei fügt es sich bestens zusammen, dass der gleiche Prediger auch Waffenlieferungen in die Ukraine befürwortet, geht es doch um einen Kampf des reinen menschenrechtlichen und demokratischen Westens gegen einen reinen Despoten, vielleicht gar das ‚Böse‘ als ‚solches‘.

Die Frage nach den Opfern gesellschaftlicher Verhältnisse oder gar herrschaftskritische Reflexion haben auch die synodalen Christ:innen nicht im Sinn. Sie denken vor allem innerkirchlich: eine geschwisterliche Kirche mit gleichem Zugang zu den Ämtern für alle und die Welt ist in Ordnung. Nicht dass dies nicht nötig wäre. Aber es ist kein Selbstzweck. Entscheidend ist die Frage, welcher Sendung eine geschwisterliche Kirche verpflichtet ist. Die Sendung der Bibel führt an die Seite der Opfer von Machtverhältnissen. Synodale denken zwar mehrheitlich zu recht an die Opfer klerikaler sexueller Gewalt, aber kaum an die Opfer der herrschenden Verhältnisse. Ihnen kommt nicht in den Sinn, dass die Kirche grundsätzlich ein gestörtes Verhältnis zu den Opfern hat. Dies ist das Ergebnis ihres konstantinischen Wechsels an die Seite der Macht. Die politische Macht bricht in der heutigen Krise mehr und mehr zusammen. Dann bleibt immer noch die Seite des kulturell dominanten Kapitalismus, an die sich zugleich ‚kuscheln‘ und von der es sich ‚ein bisschen‘ absetzen lässt, um die eigene religiöse Marke für Kunden:innen zu profilieren. Und wenn sich die Gelegenheit bietet, der politischen Macht bei der „Zeitenwende“ zu Krieg und Militarisierung zur Seite zu springen, sind – katholisch gesprochen – klerikale Oberhirten und Oberlaien beim Absegnen von Rüstungsprogrammen und Waffenlieferungen an die Ukraine mit dabei. Dass diese dabei für ‚Freiheit des Westens‘ geopfert wird, kommt nicht in den Sinn, ebenso wenig, dass sich hinter der ‚Freiheit des Westens‘ jene zerstörerische kapitalistische Normalität verbirgt, die Menschen ‚überflüssig‘ macht, ausgrenzt, in die Flucht treibt, das Klima und die Grundlagen des Lebens zerstört… Das kann solange nicht in den Blick kommen, als die Affirmation der kapitalistischen Verhältnisse in Wahrnehmung, Erfahrung, Denken und Handeln immer schon vorausgesetzt ist statt Gegenstand prophetischer und antifetischistischer Kritik zu werden.

Auf letzterer bestand Johannes in der Zeit des römischen Reiches. Er ist eben kein moralisierender Asket, sondern ein Kritiker der herrschenden Verhältnisse. Er kritisiert sie aus der Perspektive derer, die ihnen zum Opfer fallen und verwurzelt in den Inhalten, die zum Gedächtnis des Glaubens an Israels Gott der Befreiung gehören. Prägend für diese Tradition ist die Unterscheidung zwischen dem Gott der Befreiung und den Götzen der Unterdrückung. Heute stellt sich die Herrschaft der Götzen in Gestalt einer fetischisierten abstrakten Herrschaft dar, die in den Krisen zusammenbricht und immer wirrer agiert, sogar eine zum Amoklauf der Selbstvernichtung einschließende Weltvernichtung bereit hält. Rettend kann in dieser Situation nicht Anpassung an diese Verhältnisse, sondern nur der Bruch mit ihnen sein. Wie dieser inmitten des Kapitalismus zu leben und zur Geltung zu bringen ist, wäre des Schweißes der Synodalen und aller Pastoralen wert. Zu widerstehen wäre auch den Versuchungen, dem Burch zu entkommen durch die Suche nach ‚Alternativen im Kleinen‘ oder nach Transformationen, in denen kapitalistische Kategorien weiter transportiert werden. Erst wenn es zu einem Bruch in Wahrnehmung, Denken und Handeln kommt, lässt sich angemessen über Strategien und Prozesse emanzipatorischer Veränderung nachdenken und zu angemessenem Handeln kommen. Das muss durchaus im Fragment im Hier und Jetzt eingeübt werden und kann dabei einen ganz antikapitalistischen Horizont zu eröffnen. Dass der antifetischistische Bruch natürlich nicht heißt, diejenigen liegen zu lassen, die aktuell Hilfe brauchen, müsste ‚eigentlich‘ nicht mehr eigens erwähnt werden. Aber auch der Hinweis auf konkrete Hilfe wird ja immer wieder ‚gerne genommen‘, um dem notwendigen Bruch mit den Verhältnissen zu entkommen…

Herbert Böttcher

1Luise Schottroff, Der Anfang des Neuen Testaments. Matthäus 1 – 4 neu entdeckt. Ein Kommentar mit Beiträgen zum Gespräch, Gütersloh 2019, 152f. Der Gebrauch des Begriffs Ware im Zusammenhang mit Verhältnissen in der Antike ist natürlich problematisch. Warenproduktion meint im genauen Sinn Produktion von Waren für den Zweck der Geldvermehrung und die Ausrichtung des gesellschaftlichen Ganzen auf diesen irrationalen Selbstzweck. Schottroff zielt mit ihrer Bemerkung aber zu recht darauf, dass Johannes nicht als individualisierender Moralprediger zu verstehen ist, sondern die römische Herrschaft strukturell tangierende Zusammenhänge berührt.

2Ebd., 154.

3Ebd.

4Ebd. 184.

5Herbert Böttcher, Auf dem Weg zur zur unternehmerischen Kirche, Würzburg 2022.

6Rainer Bucher, Christentum im Kapitalismus. Wider die gewinnorientierte Verwaltung der Welt, Würzburg 2019, kritisch dazu Herbert Böttcher, Kapitalismus als Herausforderung für die Kirchen, oder: Es sich im Kapitalismus gemütlich machen, Koblenz 2022, online: https://www.oekumenisches-netz.de/2022/05/kapitalismus-als-herausforderung-fuer-die-kirchen-oder-es-sich-im-kapitalismus-gemuetlich-machen/.