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Rufe nach Ethik werden vor allem in Krisensituationen laut. Das gilt für das Fehlverhalten einzelner Akteure, deren Verhalten darauf hin geprüft werden soll, ob sie als Funktionäre noch tragbar sind. Beispiele reichen vom ethischen Raisonieren über rassistische Aussagen von Clemens Tonnies, über Nazivergleiche des (ehem.) DFB-Präsidenten bis hin zu den Politikern, die mit dem Verkauf von Masken einen Vorteil aus der Corona-Krise zu schlagen suchten. Im Fokus steht die Frage, wie durch ethische Orientierungen Handeln in Übereinstimmung gebracht werden kann mit dem, was für ‚systemrelevant‘ gehalten wird. Im Blick auf die Corona-Krise waren solch ethische Fragen: Wie kann der Schutz von Leben und Gesundheit in Einklang gebracht werden mit den Notwendigkeiten kapitalistischer Normalität? Oder: Wie können Ärzte angesichts von Triagen ethisch korrekt eine Selektion zwischen denen vornehmen, die noch behandelt werden können und denen, für die sich eine Behandlung nicht mehr ‚lohnt‘. Wie ist der Schutz von Gesundheit und Leben in Einklang zu bringen, mit den Problemen, die durch Schutzmaßnahmen geschaffen werden?
1. Kant als Oberlehrer der Moral
Als mehr oder weniger heimlicher Schiedsrichter in ethischen Streitfragen steht Immanuel Kant im Hintergrund. Er genießt Ansehen, weil sich seine Ethik1 mit Vorstellungen von Autonomie und Freiheit verbindet und daher mit dem Selbstverständnis einer ‚offenen und demokratischen‘ Gesellschaft konvergiert. Daher kann es angesichts der Ethikdiskussionen hilfreich sein, einen Blick darauf zu werfen, wie Ethik nach Kant ‚funktioniert‘.
1.1 Vom Scheitern der theoretischen Vernunft zur „Metaphysik der Sitten“
Kant‘sche Ethik steht im Zusammenhang des Scheiterns der ‚reinen Vernunft‘. Gemeint ist die Metaphysik. Sie stößt angesichts der Frage nach der Erkenntnis Gottes auf eine Grenze, die sie nicht überwinden kann und scheitert an ihrem Anspruch, eine stringente Erklärung für Ursprung und Ziel alles Seienden (Geschaffenen) in einem absoluten und vollkommenen Sein (Gott) zu geben. Im Scheitern an der Erkenntnis Gottes scheitert die ‚reine Vernunft‘ und mit ihr die Metaphysik. Das Sein Gottes lässt sich zwar denken. Aus der begrifflichen Denkbarkeit Gottes kann jedoch nicht – wie es im sog. ontologischen Gottesbeweis geschah – auf die Existenz Gottes geschlossen werden. Ob das, was gedacht wird, ‚zu recht‘ gedacht wird, also ob der Idee der reinen Vernunft eine Wirklichkeit entspricht, kann aber nicht bewiesen werden. Angesichts des Scheiterns der ‚reinen Vernunft‘ kommt es zu dem, was die kant‘sche Wende von der theoretischen (also der ‚reinen‘) zur ‚praktischen Vernunft‘ genannt wird.
Mit der Wende zur ‚praktischen Vernunft‘ sind aber die metaphysischen Fragen nicht einfach verschwunden. Sie wandern nur in die ‚praktische Vernunft‘ ein. Sie wird zu einer Prüfungsinstanz für die Tragfähigkeit metaphysischer Reflexion. Da, wo die ‚reine Vernunft‘ auf ihre Grenzen stößt, tauchen Kants berühmte Fragen auf: „1. Was kann ich wissen? 2. Was soll ich tun? 3. Was darf ich hoffen?“ (Kant 1983, KrV, B 833, 834/A 805, 806). In ihnen finden das spekulative und das praktische Interesse der Vernunft zusammen. Die dritte Frage nach der Hoffnung wird zum Schlüssel für die übrigen Fragen. Sie »ist praktisch und theoretisch zugleich« (ebd., B 833, 834/A 805, 806). Dies wird deutlich, wenn Kant sie in der Frage formuliert: »wenn ich nun tue, was ich soll, was darf ich alsdenn hoffen?« Kant sagt: »Alles Hoffen geht auf Glückseligkeit« (ebd.). Was wir angesichts dieser Hoffnung tun können, ist, uns der Hoffnung auf Glückseligkeit würdig zu erweisen, also: »Tue das, wodurch du würdig wirst, glücklich zu sein« (ebd., B 836, 837/A 808, 809).
Die Verbindung von ‚Glückseligkeit‘ und Moral ist an die Voraussetzung geknüpft, dass das Handeln aller im Einklang mit den Gesetzen der Moral steht. Diese Voraussetzung wird aber von der Erfahrung dementiert, dass moralisches Handeln oft nicht belohnt, sondern bestraft wird. Um an der Verbindung von Glückseligkeit und Moral festhalten zu können, muss Gott postuliert werden. Der aus der reinen Vernunft nicht zu beweisende Gott wandert als Postulat in die ‚praktische Vernunft‘ ein. Ohne Gott könnten die moralischen Gesetze nicht als Gebote für jeden verstanden werden, da sie nicht mit „Verheißungen und Drohungen“ (ebd.) verbunden werden könnten. Gott wird als oberster Richter in Sachen Moral gebraucht, um eine Lücke in der ‚praktischen Vernunft‘ zu schließen. Damit ist zugleich die Metaphysik neu fundiert, als ‚Metaphysik der Sitten‘ und des moralischen Handelns.
1.2 Die Autonomie des Sittlichen als reine metaphysische Form
Nun spielt Gott als ‚Postulat der praktischen Vernunft‘ inzwischen keine Rolle mehr in der Ethik. Das ändert aber nichts daran, dass das Erbe des philosophischen Bezugs auf Gott weiterwirkt in immanenten gleichsam metaphysischen Setzungen und Verabsolutierungen. So wirkt das kant‘sche Erbe in der Unbedingtheit des Sollens, also der moralischen Verpflichtung, und der Freiheit weiter. Der Grund des Sollens und mithin die Unbedingtheit seines Anspruchs ergibt sich weder aus der Natur des Menschen noch aus weltlichen Umständen, sondern a priori aus der ‚reinen Vernunft‘: „Dieses Sollen […] drückt eine mögliche Handlung aus, davon der Grund nichts anders, als ein bloßer Begriff“ (ebd., B 576, 577/A 548, 549). Deshalb kann die Vernunft – autonom gegenüber empirischen Zusammenhängen und physischen Neigungen – „sich mit völliger Spontaneität eine eigene Ordnung nach Ideen“ machen, „in die sie die empirischen Bedingungen hinein paßt“ (ebd.).
Die Unbedingtheit des Sollens als metaphysischer Begriff der ‚reinen Vernunft‘ impliziert die Freiheit zu wählen und damit die Freiheit des Willens. Im Gebrauch ihrer praktischen Vernunft stoßen Menschen darauf, dass Freiheit als sittliche Wahlfreiheit in ihrer Erfahrung als ‚Faktum‘ gegeben ist. Sie drängt die Idee der Freiheit als notwendige Unterstellung auf. Ohne die Idee der Freiheit kann es kein sittliches Handeln geben. Ihren Grund hat sie aber nicht in ‚faktischen‘ Erscheinungen, sondern als Apriori in der Vernunft selbst. Ebenso wie dem Sollen wird auch der Freiheit der Charakter des Unbedingten und damit des Absoluten zugesprochen. Sie findet ihre Verwirklichung im ‚reinen Willen‘. Ihm entspricht der ‚reine Verstand‘. Wie dieser allein aus sich selbst Kategorien hervorbringt, so bringt der ‚reine Wille‘ als ‚guter Wille‘ eine sittlich gute Handlung hervor. Er ist „nicht durch das, was er bewirkt, oder ausrichtet, nicht durch seine Tauglichkeit zu Erreichung eines vorgesetzten Zwecks, sondern allein durch das Wollen, d.i. an sich gut“ (Kant, GMS, BA 3, 4).
Damit sind keine inhaltlich bestimmten Gebote und Verbote begründet, sondern ein rein formales Sittengesetz, das Sollen, die Pflicht ‚als solche‘. Angesichts der Unbedingtheit des Sollens kann es keine bedingten, also an inhaltliche Bedingungen gebundenen Imperative geben, sondern nur den formalen, also nicht an Inhalte gebundenen kategorischen Imperativ. Er gilt allgemein, also unabhängig von inhaltlichen und zeitlich-geschichtlichen Bedingungen. Sein einziges Kriterium ist ein formales: das der Verallgemeinerbarkeit. „Wenn ein vernünftiges Wesen sich seine Maximen als praktische allgemeine Gesetze denken soll, so kann es sich dieselben nur als solche Prinzipien denken, die nicht der Materie, sondern bloß der Form nach, den Bestimmungsgrund des Willens enthalten“ (Kant, KpV, A 48). Ein Imperativ gilt dann als sittlich verpflichtendes Gebot, wenn er verallgemeinerungsfähig ist.
Die Unbedingtheit des Sollens und der Freiheit gründen metaphysisch in der Idee einer Freiheit, die sich dadurch auszeichnet, dass sie autonom ist gegenüber der materiellen Wirklichkeit. Sollen und Freiheit sind also autonom, weil sie ‚jenseits‘ inhaltlicher, zeitlich-geschichtlicher Bestimmungen fundiert sind. Als ‚Unbedingtes‘ müssen sie frei bleiben von Bedingtem, von jeder materiellen Inhaltlichkeit. Nur als reine Form kann ihre Unbedingtheit gewahrt werden. Der Unbedingtheit der Freiheit entspricht die Unbedingtheit des kategorischen Imperativs als rein formalem und so unbedingtem Gebot. Die Unbedingtheit der ‚reinen Vernunft‘ tritt im Bereich der ‚praktischen Vernunft‘ in Erscheinung und kommt im sittlichen Handeln zur Wirksamkeit.
Eine von Empirie reine Form, eine von den Bedingungen der Materialität, von Zeit, Geschichte, Inhaltlichkeit reine Form des Unbedingten kann es aber in der realen Welt nicht geben. Menschen können real nicht in den abstrakten Sphären reiner Verpflichtung und reiner Freiheit, sondern nur unter realen Bedingungen leben, unter denen sie unbedingtes Sollen und unbedingte Freiheit zur Geltung bringen. Deshalb ist in Kants reinem Sollen immer schon ein reales, inhaltlich bestimmtes ‚Sittengesetz‘ und in Kants ‚Idee‘ der Freiheit immer schon ein realer sozialer Ort vorausgesetzt. Historisch ist dies die reale Gesellschaft des sich konstituierenden Kapitalismus. Deren Materialität, sprich Inhaltlichkeit, findet aber keinen Eingang in die reine Form des Sollens und der Freiheit. Sie kommt immer erst nachträglich zur Geltung als faktisches Sittengesetz, als Freiheit im Rahmen der vorausgesetzten faktischen Verhältnisse. Dabei wird die Unbedingtheit des Sollens und der Freiheit zur Legitimation der geschichtlich bedingten Verhältnisse. Robert Kurz hat dies u.a. am Beispiel von Kants Verklärung der Konkurrenz zu einem Element der Weisheit des Schöpfers bzw. der von ihm geschaffenen Ordnung gemacht (Kurz 2009, Schwarzbuch Kapitalismus, 67ff).
Kants reine Formen des Sollens und der Freiheit werden zu Kategorien, mit denen der Sinn für Pflicht ‚an sich‘ eingeschärft wird. Reale Verpflichtung kann aber nicht ‚an sich‘, sondern nur in Verbindung mit einem materialen Objekt verwirklicht, ‚realisiert‘ werden. Diese Verbindung herzustellen, bleibt dem ‚gesunden Menschenverstand‘, dem „gemeinen Verstand“ (Kant, KrV, B 859, 860/A 831, 832) überlassen; denn was „alle Menschen angeht“, die Erfüllung der Pflichten, kann „den gemeinen Verstand“ nicht „übersteigen“ (ebd.). Er ist verbunden mit dem Sittengesetz, das wiederum ‚gemein‘, also allgemein ist und für alle unbedingte Geltung beansprucht. Kants Metaphysik der Verpflichtung begründet also keine inhaltlich neue Moral, sondern bezieht sich auf die herrschende Moral als allgemeines Sittengesetz wie er sie in der Entwicklung des Kapitalismus vorgefunden hat. Die moralische Verpflichtung interessiert sich nicht für die Begründung oder gar für die Kritik der Sitten bzw. des Sittlichen und schon gar nicht für die damit verbundenen Verhältnisse, sondern verpflichtet auf die herrschende Sittlichkeit, setzt sie also samt der Verhältnisse, mit denen sie einhergeht, begründungs- und kritiklos voraus.
1.3 Mal so, mal so, … formal geht alles
Auch leere Formen können also nicht einfach aus der Geschichte aussteigen. Daher müssen sie sich immer wieder mit geschichtlicher Materialität verbinden. Die inhaltliche Leere einer rein formal (in der metaphysischen Unbedingtheit des Sollens) begründeten moralischen Verpflichtung und die inhaltliche Leere einer ebenso im Unbedingten wurzelnden Freiheit verbinden sich mit unterschiedlichen historischen Konstellationen bis hin zu solchen, in denen Mord das Ergebnis der Erfüllung moralischer Verpflichtung wird.
In ihrem Bericht über den Prozess gegen Eichmann schreibt Hannah Arendt, Eichmann habe „mit großem Nachdruck“ beteuert, „sein Leben lang den Moralvorschriften Kants gefolgt zu sein, und vor allem im Sinne des kantischen Pflichtbegriffs gehandelt zu haben“ (Arendt 1986, Wir Flüchtlinge, 174). Die Vernichtung der Juden wurde zu einem sittlichen Gebot. Sie kann kalt und routiniert, ohne Empfinden für die Leiden der Opfer exekutiert werden; sie kann aber auch noch einmal durch die Schwere der Verantwortung überhöht werden wie in einer Rede Himmlers deutlich wird. In einer Rede vor den Reichs- und Gauleitern in Posen betont Himmler die Last, die mit der Vernichtung der Juden zu tragen sei: „Es musste der schwere Entschluss gefasst werden, dieses Volk von der Erde verschwinden zu lassen“. Die Schwere des Entschlusses liegt darin, dass auch Frauen und Kinder vernichtet werden ‚müssen‘. Himmler hielt sich „nicht für berechtigt, die Männer auszurotten […] und die Rächer in Gestalt der Kinder für unsere Söhne und Enkel groß werden zu lassen“. Seine Sorge galt denen, die den Entschluss durchführen mussten, „ohne dass […] unsere Männer Schaden an Geist und Seele erlitten hätten. Diese Gefahr lag sehr nahe. Der Weg zwischen den beiden bestehenden Möglichkeiten, entweder roh zu werden, herzlos zu werden und menschliches Leben nicht mehr zu achten oder weich zu werden und durchzudrehen bis hin zu Nervenzusammenbrüchen […] lag sehr nahe“ (Himmler 1974, Geheimreden, 169f). Zu einer ‚Ruhmestat‘ wird es, „dies durchgehalten zu haben, und dabei – abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwächen (!) – anständig (!) geblieben zu sein […]“ (ebd., 170).
Der ‚Anstand‘ – die Übereinstimmung mit dem, was sittlich ‚ansteht‘ – wurde gewahrt. Der Massenmord ist sittlich gerechtfertigt und durch die Last der Verantwortung, die von den Tätern in Erfüllung ihrer Pflicht übernommen wurde, überhöht. Die Ermordeten wurden zu Opfern einer Pflichterfüllung, bei der alle Empfindsamkeit für die Opfer ausgeschaltet ist, damit die Täter nicht roh werden und die Achtung vor dem menschlichen Leben nicht verlieren.
Nicht zufällig spielt die Beziehung zu Kants Moral auch im juristischen Bereich eine wichtige Rolle. Wie die Ethik ist auch das Recht seinem Wesen nach rein formal, d.h. inhaltsleer, kann aber „mit beliebigen Inhalten gefüllt werden. Es gibt kein formales Kriterium, das verhindern könnte, dass Rassismus und Antisemitismus Gesetzeskraft erlangen können. Mit anderen Worten: Auch der Massenmord konnte rechtspositivistisch ablaufen“ (Kurz 2003, Weltordnungskrieg, 339). Robert Kurz formuliert dies gegen Ernst Fraenkels Unterscheidung des nationalsozialistischen Staates von einem rechtspositivistischen ‚Normenstaat‘ und einem von subjektiver Willkür agierenden ‚Maßnahmenstaat‘ (vgl. ebd., 338f). „Das Unheimliche an der Mordmaschine der Nazis“ verortet Kurz darin, „dass sie streng normativ lief, auch im juristischen Sinn“ (ebd., 339). Nach Kant kann sich „ein vernünftiges Wesen“ die Maximen, die es „als praktische allgemeine Gesetze“ leiten, „nur als solche Prinzipien denken, die, nicht der Materie, sondern bloß der Form nach, den Bestimmungsgrund des Willens enthalten“ (Kant, KpV, A 49, 50). Dann aber „bleibt von einem Gesetz, wenn man alle Materie, d.i. jeden Gegenstand des Willens davon absondert, nichts übrig als die bloße Form einer allgemeinen Gesetzgebung“ (ebd.). Für diese leere Form mit „Geltung ohne Bedeutung“ (Agamben 2002, Homo Sacer, 62) ist jeder Inhalt sekundär bzw. gleichgültig. Während die leere Form eines allgemeinen Willens die Nazi-Diktatur als ‚Ausnahmezustand‘ legitimierte, vermengt sich in der Krise des Kapitalismus das „diktatorische Moment […] nicht nur mit dem demokratischen Prozedere, es mischt sich auch mit der postpolitischen, postsouveränen Anomie“ (Kurz 2003, Weltordnungskrieg, 344), so dass die Mixtur aus „demokratischem Rechtspositivismus, Momenten des Ausnahmezustandes und anomischen Prozessen“ (ebd.) Ausdruck kapitalistischer Krisenverhältnisse ist, die den Weg in eine Barbarei bahnt, die sich nicht mehr nur bei Akteuren autoritärer Staatlichkeit, sondern im Zusammenhang der Verwilderung der Verhältnisse und der Subjekte zeigt.
2. Ethik in der Krise des Kapitalismus
2.1 Die ethisch eingeklagte Gerechtigkeit
Seit Beginn der 1970er Jahre spitzt sich der „prozessierende Widerspruch“ der kapitalistischen Produktion zu seiner finalen, d.h. immanent nicht mehr überwindbaren Krise zu. Mit der sich nun durchsetzenden mikroelektronische Revolution lässt sich der Verlust an Arbeitssubstanz nicht mehr kompensieren. Die politische Antwort ist die neoliberale Rezeptur von Deregulierungen und Privatisierungen. Sie wird legitimiert mit der Rhetorik der ‚Freiheit des Marktes‘, der seine kreativen Kräfte entfalten soll, die ein Marktgleichgewicht herstellen sollen und – anknüpfend an die ‚unsichtbare Hand‘ von Adam Smith – ‚Wohlstand‘ für alle versprechen. Die ‚Freiheit des Marktes‘ soll verwirklicht werden in einer freien und offenen demokratischen Gesellschaft.
Die Durchsetzung der neoliberalen Reformen zeigen, was das real heißt: Sie sind in den westlichen Zentren verbunden mit Sozialabbau und Repression gegen diejenigen, deren Arbeit nicht zu verwerten ist. In Ländern der Peripherie, in denen es sozial kaum etwas abzubauen gibt, kommt es zur Verschärfung der Repression zwecks Sicherung der Freiheit. Was das bedeutet hat der Ökonom und Theologe Franz Hinkelammert im Blick auf Chile, das unter Pinochet versuchte, mit Hilfe der ‚Chicago Schule‘ um Milton Friedman ein neoliberales Modell par exellence zu kreieren, auf die Formel gebracht: ‚Sozialstaat versklavt. Polizeistaat macht frei.‘
Gegen die mit dem Markt verbundenen ‚Ungerechtigkeiten‘ wird in der Ethik zum einen die ‚Gerechtigkeitsfrage‘ in Stellung gebracht. Sie soll einen Beitrag leisten, gegen die Freiheit des Marktes und die mit ihr verbundenen Prozesse sozialer Spaltung, also ‚Gerechtigkeit‘ durchzusetzen. Als politische Ethik klagt sie den Primat der Politik gegenüber den Kategorien des Marktes ein. Unter ihrem Primat soll Gerechtigkeit als re-regulierende Einbettung des entbetteten Marktes durchgesetzt werden. In diesen Zusammenhang gehört John Rawls ‚Theorie der Gerechtigkeit‘. Aus allgemeinen Prinzipien, sog. ‚Gerechtigkeitsgrundsätzen‘ wie dem Zugang aller zu Rechten und Freiheiten, Chancen und Macht, Einkommen und Wohlstand, leitet er Perspektiven für eine Gerechtigkeitsordnung ab. Felder, in denen Gerechtigkeitsethik danach sucht, gesellschaftlich wirksam zu werden, sind sowohl Politikberatung sowie die Begleitung sozialer Bewegungen, in denen vielfach Gerechtigkeit von den Menschenrechten her stark gemacht wird.
Zum anderen soll sich Ethik nicht nur auf der Ebene der Politik zur Geltung bringen, sondern auch als sog. Wirtschaftsethik Gewicht bekommen (vgl. Schuster/Ulrich 2004, Integrative Wirtschaftsethik). Sie soll sich also im Rahmen der Marktkategorien selbst über die sich an ihnen orientierenden wirtschaftlichen Akteure wirksam werden. Absurderweise kommt die Gerechtigkeitsethik umso mehr Bedeutung zu je mehr sich die Forderung nach Gerechtigkeit mit ihrem Fokus auf die Politik als unwirksam erweist bzw. an den Verhältnissen scheitert. Je mehr die Zerstörung der ökologischen Grundlagen bewusst wird, soll auch hier Ethik helfen, diesmal als Umweltethik – politisch wie in der Ethisierung des Verhaltens von Konsumenten. Schließlich – darauf läuft das Scheitern des Primats der Politik hinaus – sind alle eigenverantwortlich und ethisch zur Quadratur des Kreises verpflichtet, also etwas zu lösen, das mit Ethik nicht zu lösen ist. Nur am Rande sei das Phänomen der Inflationierung von Ethik vermerkt. Von der Arbeits-, Wirtschafts- und Umweltethik über politische Ethik breitet sie sich bis hinein in allen möglichen Konfliktkonstellationen aus. So soll sie auch Abhilfe schaffen bei der Korruption sowie klären helfen, inwieweit rassistisches, sexistisches, antisemitisches und antiziganistisches Reden und Verhalten von Funktionären ‚noch‘ tragbar ist.
Gegen die Basisformen der Wert-Abspaltungsvergesellschaftung hat die Ethik der Gerechtigkeit nicht nur nichts einzuwenden. Sie ist auch ihre unreflektierte Voraussetzung. Die ethische Forderung nach Gerechtigkeit zielt auf den Anwendungsbereich innerhalb dieser Basisformen. Insofern ist die Gerechtigkeitsethik eine demokratische Ethik. Sie versucht, „zwischen den einender widersprechenden Interessen des partikularen, nackten Geldinteressen einerseits und eines sozial wie juridisch geregelten gesellschaftlichen Zusammenlebens dieser Partikularsubjekte andererseits humpelnd zu vermitteln“ (Kurz 2013, Die Aufhebung der Gerechtigkeit, in: Weltkrise und Ignoranz, 17). Je mehr die Wert-Abspaltungsvergesellschaftung zerbricht, desto obsoleter und zugleich lauter wird der Ruf nach Gerechtigkeit. Mit der Krise dieser Vergesellschaftung brechen die Subjekte ein, deren Basis bekanntlich die Verausgabung von Arbeit ist, und mit ihr die Rechtsform. Wer aber kein Subjekt mehr sein kann, kann auch kein Rechtssubjekt mehr sein, das ‚Rechte‘ auf Nahrung, Wohnung, Gesundheit, Leben etc. einfordern könnte. Wenn immer mehr Menschen aufhören, Wirtschaftssubjekte dieses Systems zu sein, hören sie auf Rechtssubjekte und damit überhaupt Menschen qua Systemdefinition zu sein. Daran scheitert der Ruf nach Gerechtigkeit einschließlich dem nach universalen Menschenrechten und alle Rhetorik von der Würde ‚des‘ Menschen. Als letzte ethische Illusion blamiert sich die Vorstellung, mit Ethik ließen sich dann wenigstens die Prozesse der Barbarisierung bremsen. Das Scheitern der Ethik ist dadurch vorprogrammiert, dass die gesellschaftlichen Basiskategorien unangetastet bleiben.
2.2 Diskursethik als Zaubermittel
Als demokratisches Zaubermittel für das Aushandeln von demokratischem Konsens hat sich die Diskursethik herauskristallisiert. Sie knüpft an die Problematik an, dass sich Werte, Normen, Institutionen, ethische Urteile nicht mehr allgemeinverbindlich in ontologischen Wesens- und Ordnungsvorstellungen begründen lassen. Ethik darf also nicht – darin an Kant anknüpfend – heteronom sein, sondern muss im Einklang mit der Freiheit der Subjekte und ihrem freien Willen stehen. Im Unterschied zu Kant soll die Ethik aber nicht in einer ‚Metaphysik der Sitten‘, sondern metaphysikfrei und damit radikal säkular begründet werden. Dennoch braucht die Ethik ein Allgemeines, über das sie universal werden kann. Die diskursethischen Ansätze meinen dies in den Wahrheits- und Geltungsansprüchen gefunden zu haben, die Kommunikationspartner in Diskursen gegenseitig erheben. Wer die eigenen Ansprüche nicht den anderen zubilligt gerät in einen ‚performativen Widerspruch‘. Grundlage für die Begründung von Normen ist also eine ideale, herrschaftsfreie, weil gleichberechtigte Sprechsituation, in der sich die am Diskurs Beteiligten als gleiche und gleichberechtigte PartnerInnen anerkennen. Kants Metaphysik der Sitten ist dabei jedoch nicht verschwunden, sondern in eine idealisierte Sprechsituation und ihren transzendentalen Idealismus eingewandert. Von den idealen Diskursen sind die realen Diskurse zu unterscheiden. Letztere können sich dem Ideal immer nur annähern, ohne es zu erreichen. Es ist kein Zufall, dass die Diskursethik als besonders kompatibel mit der Demokratie angesehen wird, insofern sie eine Grundlage für das demokratische Aushandeln gegensätzlicher Optionen und Interessen zu sein scheint. Dabei entsteht der Eindruck, alle könnten zumindest über StellvertreterInnen am Diskurs partizipieren.
Auch die Diskursethik bleibt formal. Sie kennt kein inhaltliches Kriterium. Die von ihr entwickelten normativen Orientierungen können Geltung beanspruchen, wenn das Verfahren des Diskurses unter den Bedingungen möglichst idealer, d.h. gleicher und herrschaftsfreier Kommunikation stattgefunden hat. Die Geltung ethischer Normen hängt nicht an Inhalten, sondern an einem formal korrekten Verfahren, unter denen ein Konsens zustande gekommen ist. Die in dem Verfahren vorausgesetzte ideale Kommunikation ist blind für ihre reale Verzerrung durch die herrschenden Verhältnisse – sowohl im Blick auf gesellschaftliche Asymmetrien als auch auf das Ganze der Herrschaftsverhältnisse, in die alle am Diskurs Beteiligte eingebunden sind. Im vermeintlich ideal und herrschaftsfrei oder herrschaftsarm zustande gekommenen Konsens sind also die gesellschaftlichen Asymmetrien ebenso wie die gesellschaftlichen Fetischverhältnisse immer schon gegenwärtig. Damit aber wird der Diskurs zu einer Verträglichkeitsprüfung ethischer Normen mit den herrschenden Verhältnissen, also der herrschenden Demokratie und des ihr entsprechenden Verständnisses von Verpflichtung und Freiheit. Ihr Kriterium der Universalisierbarkeit und damit der Geltung bleibt – entsprechend dem ‚kategorischen Imperativ‘ – ein formales: der formal korrekt im Diskurs ausgehandelte Konsens.
Mit Kant ist die Diskursethik darin verbunden, dass die ‚Metaphysik der Sitten‘ eingewandert ist in die transzendental-idealistischen Voraussetzungen des Diskurses und der ‚kategorische Imperativ‘ in die Universalisierbarkeit der mit dem Konsens legitimierten Normierungen. Der kant‘sche Formalismus findet seine Fortsetzung darin, dass die im Konsens ausgehandelten Normen Geltung beanspruchen können, nicht aufgrund inhaltlicher Evidenz, sondern aufgrund eines formal korrekten Verfahrens.
2.3 Eigen-Verantwortung als Ethik der Selbstunterwerfung
Der Begriff der Verantwortung macht bereits deutlich, dass die Rede von der ‚Eigen-Verantwortung Anleihen bei der Ethik macht. Die politisch verstandene Ethik der Gerechtigkeit dementiert sich angesichts der einbrechenden politisch-ökonomischen Formen. Die auf das Handeln einzelner Unternehmer bzw. Unternehmen zielende Wirtschaftsethik scheitert an den Systemzwängen, denen die Akteure ausgeliefert sind. Wer ethisch handeln will, wird nicht mit ‚Glückseligkeit‘ belohnt, sondern droht aus dem Rennen geworfen zu werden. Nicht Ethik, eher bietet Korruption Auswege an. Ethische Verantwortung zerbricht an den Grenzen politischer und ökonomischer Systemzusammenhänge. Nun sollen es die in der Subjektform ebenfalls einbrechenden Individuen selbst richten. Die ökonomisch und politisch gescheiterte Eigenverantwortung sollen sie nun selbst übernehmen – als Eigen-Verantwortung.
Unter dem Schein versprochener Emanzipation finden Autonomie und Freiheit in der Eigen- bzw. Selbstverantwortung zusammen. Die auf Autonomie und Freiheit basierende Ethik findet ihre Vollendung in der eigenverantwortlich zu leistenden Selbstunterwerfung des ‚unternehmerischen Selbst‘. Die ethischen Implikationen des ‚unternehmerischen Selbst‘ werden in seiner Beschreibung von Ulrich Bröckling deutlich: „Das unternehmerische Selbst … steht für ein Bündel aus Deutungsschemata … mit denen Menschen sich selbst und ihre Existenzweisen verstehen, aus normativen Anforderungen und Rollenangaben, sowie aus institutionellen Arrangements, Sozial- und Selbsttechnologien, die und mit denen sie ihr Verhalten regulieren sollen (!). Anders ausgedrückt…: Das unternehmerische Selbst ist ein Leitbild“ (Bröckling 2007, Das unternehmerische Selbst, 7).
Mit dem Leitbild des Individuums „als Unternehmer seiner Arbeitskraft und Daseinsvorsorge“ – wie es die sächsisch-bayrische Zukunftskommission formuliert hatte2 – ist eine Norm gesetzt und ein Sollen, eine Pflicht formuliert, dem sich das Handeln zu unterwerfen hat. Mit den Sozial- und Selbsttechnologien von Kreativität, Empowerment, Qualität und Projekt werden die Mittel, mit denen die Pflichten des ‚unternehmerischen Selbst‘ zu erfüllen sind, als zu ergreifende Angebote gleich mitgeliefert. Voraussetzung dafür ist Individualisierung als Form der Vergesellschaftung. In deren Rahmen wird – so Luhmann – „Individuum sein … zur Pflicht“ (Luhmann 1989, Individuum, Individualität, Individualismus, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 3, 252), wohl auch zur Pflicht, von den angebotenen Sozial- und Selbsttechnologien privaten Gebrauch zu machen.
Im Anschluss an Foucault versteht Bröckling die mit dem ‚unternehmerischen Selbst‘ verbundene Subjektivierung „als einen Formungsprozess, bei dem gesellschaftliche Zurichtung und Selbstmodellierung in eins gehen“ (Bröckling 2007, Unternehmerisches Selbst, 31), mithin als „Subjektivierungsregime“ (ebd., 39). Darin werden die Individuen zur Freiheit verpflichtet. Es die Freiheit, sich selbst den nicht thematisierten Verhältnissen zu unterwerfen, genau dafür ‚Eigen-Verantwortung‘ zu unternehmen. Dem entspricht der imperativische Ton in Leitbildern wie in Sozial- und Selbsttechnologien. Er verbindet sich mit der Drohung: Wer dieser kategorischen Verpflichtung nicht nachkommt, trägt dafür selbst die Verantwortung und wird mit dem gesellschaftlichen Absturz bestraft.
Das Tückische an dieser Konstellation von Verpflichtung und Versprechen bzw. Drohung mit Bestrafung ist die „Unabschließbarkeit der Optimierungszwänge“ (ebd., 17). Angesichts der sich – erst recht mit der Krise – verschärfenden Konkurrenz, ist das ‚unternehmerische Selbst‘ nie gut genug. Es muss immer besser werden und sich von den KonkurrentInnen unterscheiden. Analog zu den in der Konkurrenz produzierenden Unternehmen hat es dann einen Vorteil, wenn es etwas anders macht als die Konkurrenten. Es ist konfrontiert mit der Norm, nicht konformistisch zu sein, anders zu sein als die anderen, sich durch sein Alleinstellungsmerkmal von ihnen zu unterscheiden.
Wenn das ‚unternemerische Selbst‘ angesichts der aufgeladenen Verpflichtungen scheitert, ist das kein Impuls zur Unterbrechung zwecks individueller und gesellschaftlicher Reflexion, sondern verpflichtet zu einem neuen Anfang. Die Pleite wird zur Herausforderung, es – mit Hilfe von Schuldner- und Selbstmanagementberatung – wieder von neuem zu versuchen. Auf jedes Scheitern folgt ein neues Projekt. Der unabschließbare und so gleichsam unendliche Imperativ bleibt sich gleich: „Sei aktiv! Nimm dein Leben in die Hand. Sei dein eigener Chairman!“ (ebd., 282).
Dieses „Ethos individueller Verantwortung und Autonomie“ – wie es Bröckling nennt – treibt in die Depression (vgl. Ehrenberg 2008, Das erschöpfte Selbst). Nicht mehr der für die Neurose charakteristische Konflikt zwischen eigenem Wollen – oder psychoanalytisch genauer zwischen Es (Trieb) und Ich – und von außen gefordertem Sollen steht im Vordergrund, sondern die Kluft zwischen den geforderten Anstrengungen, die sich die Individuen frei und autonom ‚zu eigen‘ machen sollen, und den nie ausreichenden, nie abzuschließenden, ‚unendlichen‘ Bemühungen. Hinter dem ‚unternehmerischen Selbst‘, das alles kann, wenn es nur will, verbirgt sich sein Gegenteil: das unzulängliche depressive Individuum, das nicht mehr kann, was es soll. Die Katastrophe kommt noch einmal verschärft in den Blick, wenn wir dieses zum Scheitern verurteile Individuum im Zusammenhang postmoderner Krisenprozesse als „narzisstischen Sozialtypus“ (vgl. Wissen 2017, Die sozialpsychische Matrix der bürgerlichen Subjekts in der Krise, in exit! 14, 29ff) verstehen, dem es zunehmend unmöglicher wird, Objektbeziehungen aufzubauen und so auf sich selbst, seinen Größenwahn, mit dem Versagensängste und Kleinheitsgefühle abgewehrt werden, und sein ganzes Elend zurück geworfen ist. Diese ‚Vorerkrankungen‘ wurden aus der kapitalistischen Normalität als Erkrankungen mitgenommen, über die sich verschärfend noch einmal das Virus legt.
3. Mal solidarisch – mal liberal
3.1 Zur Normativität der Demokratie als ‚offene Gesellschaft‘
In der Corona-Krise standen sich zwei auf den ersten Blick konkurrierende normative Orientierungen gegenüber, die sich als Ruf nach Solidarität und nach Freiheit Gehör verschaffen wollten. In der ersten Phase der Pandemie wurde politisch Solidarität eingefordert, um die Maßnahmen zur Eindämmung zu legitimieren und durchzusetzen. Genau das aber stieß auf die Grenzen der staatlich finanzierten Absicherungen wie auf die recht begrenzten sozialen und emotionalen Ressourcen, ohne die kapitalistische Normalität leben zu können.
Schon bald wurde die Rhetorik der Solidarität durch die krisenvertraute Rhetorik der Eigenverantwortung überlagert. Kapitalistische Normalität und freiheitliche Demokratie können mal mehr ‚solidarisch-verantwortlich‘, mal mehr ‚selbstbezüglich‘ und ‚eigen-verantwortlich‘ agieren, mal mit mehr Staat, mal mit mehr Markt. Dabei sind Demokratie und Rechtsstaat normativ gesetzt. Im Rahmen demokratischer Normalität sollen demokratische Prozesse ausgehandelt werden. Die Diskursethik bietet sich dafür als ‚idealer‘ Rahmen an. An diesen Rahmen ist die Freiheit gebunden bzw. ihm unterworfen. Alles kann frei und demokratisch verhandelt werden, nur nicht der demokratische Rahmen. Die Normativität dieses Rahmens muss auch angesichts der Corona-Maßnahmen gewahrt bleiben. Entsprechend gilt das, was Demirović offenherzig ausgeplaudert hat: „Wir behalten unsere Freiheit und treffen Entscheidungen, die entweder autoritär, liberal, sozialdarwinistisch oder autonom sozialistisch sein können“ (Demirović 2021: Warum die Forderung nach einem harten Shutdown falsch ist,
www.akweb.de/bewegung/zerocovid-warum-die-forderung-nach-einem-harten-shut-down-falsch-ist/). Solchem Aushandeln aber ist eine objektive Grenze gesetzt: die aus dem Schwinden der Arbeit resultierende Grenze der Kapitalverwertung.
Diese objektive Grenze kann immer wieder dadurch unsichtbar gemacht werden, dass sowohl die Demokratie als auch die Diskurse des Aushandelns sich in einem transzendental-idealistischen Horizont bewegen. Transzendental meint – im Unterschied zu Ontologien, die von substantialistisch bzw. essentialistisch zu bestimmenden Inhalten ausgehen – den immer offenen Horizont von Demokratie und diskursethisch bestimmten Aushandlungsprozessen. Er macht die sog. ‚offene Gesellschaft‘ aus. Idealistisch ist dieser Horizont, weil er mit Idealismen verbunden ist: dem Horizont einer idealen Demokratie ebenso wie dem Aushandeln in idealen Diskursen. Es kommt darauf an, sich diesen Idealen gleichsam asymptotisch anzunähern, ohne sie real erreichen zu können. Das impliziert eine falsche oder schlechte Unendlichkeit – falsch oder schlecht, weil sie sich im Rahmen der Endlichkeit bewegt. Unter dem Strich lässt sie Demokratie und Diskurs zu einer ‚ewigen‘, d.h. zeitlosen Angelegenheit werden. Die Ideale sind nie erreicht, also muss der Prozess der Annäherung im transzendental gesetzten Horizont von Demokratie und Diskurs unendlich weitergehen und immer wieder von neuem beginnen. Genau das macht blind für die ‚Zeitlichkeit‘ der kapitalistischen Entwicklung und die ‚Zeitlichkeit‘ ihrer objektiven Grenze. Je mehr sich die Krisenverhältnisse zuspitzen, desto mehr legt sich ein Diskus nahe, der ethisch zu sozialdarwinistischen Ergebnissen des Aushandelns führt, die Demirović als Möglichkeit in den Prozess demokratischen Aushandelns einschließt. Abgesehen davon, dass mit der Krise der Kapitalverwertung sich auch die Demokratie in einem Prozess der Auflösung befindet, wäre denkbar, dass ein Sozialdarwinismus die vorherrschende Variante der Demokratie wird. Dabei ist Sozialdarwinismus der Demokratie keineswegs ‚wesensfremd‘, sondern ist ihr mit ihrer Orientierung auf Konkurrenz und Selektion inhärent.
In dieser Situation wird deutlich, was ‚unbedingte‘ Freiheit bedeutet. In ihrer Formalität ist sie eine inhaltlich leere Freiheit, die sich mit beliebigem materiellem Gehalt verbinden kann. Wie Kants formale Freiheit und ihr Sollensanspruch das geltende Sittengesetz voraussetzt, ist im Ruf nach Freiheit immer schon die in die kapitalistische Normalität gebannte Freiheit vorausgesetzt – eine Freiheit, die als Demokratie über Leichen geht und ihre Kinder frisst (vgl. Scholz 2019).
3.2 Subjekt und Normalität
Mit dem Einbrechen der Arbeit brechen die Grundlagen für das sich autonom und frei dünkende Subjekt ein. Es wird zu einem leeren Subjekt mit Null-Identität (vgl. Kurz 2018, Null-Identität, in: exit! 15, 157ff). Damit, dass seine Hüllen fallen, ist das Subjekt aber nicht einfach verschwunden. Als bodenloses und leeres Subjekt muss es die Krise verarbeiten. Eine Facette dieser Verarbeitung artikuliert sich in Corona-Zeiten verstärkt im Ruf nach der Normalität der kapitalistischen Verhältnisse. Sie verspricht Freiheiten, die angesichts ihrer Einschränkungen noch einmal idealisiert werden, eine Normalität, die dem Leben der Einzelnen Halt und normative Orientierung bietet. Die mit dieser Normalität bereits verbundenen sozialen und psycho-sozialen Probleme können den Corona-Maßnahmen angelastet werden, ohne zu sehen, dass Corona nicht deren Ursache, sondern deren Verschärfung ist.
Überlagert oder verdrängt werden kann, dass bereits in der kapitalistischen Krisen-Normalität die Subjekte halt- und orientierungslos werden und im Leeren zu versinken drohen. Genau das ist die ‚Vollendung‘ einer Freiheit, die frei ist von somatischer und inhaltlicher Materialität sowie die ‚Vollendung‘ einer Autonomie, die frei ist von sozialen Beziehungen. Aber auch das ist nichts ‚prinzipiell‘ Neues, sondern geht damit einher, dass die inhaltlich substanzlosen Subjekteauf ihr Funktionieren konditioniert und so ersetzbar werden. Robert Kurz hat darauf hingewiesen, dass in der ‚Dialektik der Aufklärung‘ schon ahnungsvoll zu lesen war: „Jeder ist nur noch, wodurch er jeden anderen ersetzen kann: fungibel, ein Exemplar. Er selbst, das Individuum, ist das absolut ersetzbare, das reine Nichts“ (Kurz 2012, Kulturindustrie im 21. Jahrhundert, in exit! 9, 79). In der Krise der Selbstentleerung des Kapitals soll er eigenverantwortlich zum Kapitalisten seiner selbst, zum sich selbst verwertenden ‚Humankapital‘ werden – und das als Ausdruck einer Freiheit und Selbstverwirklichung, die mit Unfreiheit und Selbstunterwerfung verschmelzen.
Zu Haltepunkten der kapitalistischen Normalität gehören nicht unwesentlich der Event- und Kulturbetrieb. Entsprechend stark ertönte der Ruf nach Kultur, ohne die eine demokratische Gesellschaft nicht leben könne. Dabei war zuweilen der Eindruck zu gewinnen, bei der Kultur gehe es trotz aller postmodernen Zurichtungen auf Unterhaltung doch um etwas ‚Höheres‘, nicht um Unterhaltung, sondern um die Darstellung inhaltlicher Auseinandersetzungen, deren eine offene Gesellschaft bedarf. Aber bereits die sog. bürgerliche Elitekultur war keineswegs ‚autonom‘, sondern vermittelt über die Warenproduktion und ihre kompensatorische Bedeutung in der Durchsetzung der Warenform. Hatten Horkheimer und Adorno schon davon gesprochen, die Kulturindustrie stelle „das empfindsamste Instrument sozialer Kontrolle“ (zit. nach ebd., 63) dar, wäre mit Robert Kurzangesichts der postmodernen Inszenierungen inhaltsloser Accessoires Kultur zu charakterisieren „als eine kompensatorische Kultur der demokratischen Beschäftigungstherapie, die nichts anders ist als ein hybrider Kontrollmechanismus“ (ebd.). Dabei gehen Event- und Kulturbetrieb ineinander über. Roswitha Scholz‘ – von Robert Kurz im genannten Zusammenhang aufgegriffene – Bemerkung über den postmodernen Kostümball als Maskerade des Todes wie zu Zeiten der Pest (Scholz 1994, Die Maske des roten Todes, in Krisis 17) trifft gegenwärtig eine zynische Realität.
Selbst wenn der Ruf nach Rückkehr zur kapitalistischen Normalität vor allem von KritikerInnen der Corona-Maßnahmen zu hören ist, stimmen KritikerInnen und BefürworterInnen der Maßnahmen in der Affirmation kapitalistischer Normalität überein. Heftig gestritten wird über die Wege der Rückkehr zur Normalität. Dabei können sich das Insistieren auf Solidarität und auf Freiheit zeitweilig gegenüberstehen. Bei den einen geht es um Solidarität im Durchhalten der Maßnahmen, um zur Unterwerfung unter die kapitalistische Normalität bei möglichst hohem Schutz der Gesundheit, die Verschärfung psycho-sozialer Schäden in Kauf zu nehmen, und ohne den – ja auch auch für die Wirtschaft besseren – Wechsel von Lockdown undLockerungen zur Normalität zurückzukehren. Demgegenüber streitet die liberale Fraktion für die demokratischen Grundrechte und ist eher bereit, Kranke und Tote in Kauf zu nehmen, die mit den demokratischen Freiheiten nun einmal verbunden sind.
4. Was das mit Kant zu tun hat?
Als Oberlehrer der Moral hat Kant die Prinzipien von Freiheit und Autonomie so mit dem Handeln verbunden, dass alles ethisch korrekte Handeln in diesen metaphysischen bzw. transzendentalen Prinzipien ihre Grundlagen hat. Um als überzeitliche Prinzipien gesetzt und einen Sollensanspruch als absolute moralische Verpflichtung formulieren zu können, müssen sie formal, also frei von materialer Inhaltlichkeit bleiben.
Moralische Verpflichtung muss aber in einer nicht-absoluten, sondern kontingenten Welt zur Geltung kommen. Sie muss sich also mit dem verbinden, was als Sittlichkeit im Rahmen der herrschenden Verhältnisse anerkannt und dem ‚gesunden Menschenverstand‘, der im Einklang mit den Verhältnissen funktioniert, einsichtig erscheint. Eine kritische, notwendig inhaltliche Reflexion der Verhältnisse bleibt außerhalb der auf formaler Autonomie und Freiheit, formalen Verpflichtungen und Rechten konstituierten Ethik.
Entsprechend haben ethische Diskurse zu prüfen, ob eine Forderung mit den vorausgesetzten Verhältnissen zu vermitteln ist. Ethikkommissionen messen politische Entscheidungen daran, inwieweit sie mit der kapitalistischen Normalität in Übereinstimmung zu bringen sind. Im Rahmen demokratische Diskurse gewinnt das Geltung, was unabhängig vom Inhalt im Rahmen der Verhältnisse im gefundenen Konsens Zustimmung findet. Das Kriterium der Geltung bleibt formal und tastet die Verhältnisse nicht an. Zudem können die Ergebnisse solchen Aushandelns die Asymmetrien und Widersprüchlichkeiten zwischen den Diskurspartnern nicht überwinden. Das Ergebnis ist oft dass sie sich, wenn ihnen die ethisch gebotenen Pflichten unerträglich erscheinen, unterschiedliche Einschätzungen, Befindlichkeiten, Wertorientierungen, Interessen etc. als ethisch geboten um die Ohren schlagen und mit den entsprechenden Moralkeulen aufeinander losgehen. Dies könnte sich angesichts des Einbrechens kapitalistischer Normalität insofern verschärfen, als damit auch die kapitalistische Normalität samt ihrer normierenden Gemeinsamkeiten einbricht, bis schließlich alle Ethik übergeht in unmittelbare Impulse, das Überleben in barbarisierendem Sozialdarwinismus zu sichern. Ein Vorgeschmack davon ist angesichts von Corona in Strategien der Entseuchung oder mit und ohne Corona in der Asyl und Flüchtlingspolitik zu kosten, deren Exekution demokratischer Ausnahmezustände diejenigen nicht irritiert, die so oder so auf die Rückkehr der kapitalistischen Normalität aus sind.
Was bleibt als Alternative? „Der Inhalt muss wieder in sein vorrangiges Recht gesetzt werden“ (Kurz 2012, Kulturindustrie, 100), schreibt Robert Kurz am Ende seines Textes zur Kulturindustrie im 21. Jahrhundert. Er formuliert es im Blick auf die Inhaltsleere postmoderner Inszenierungen. In ihnen spiegelt sich – wie er beschreibt – das Kapitalverhältnis, das mit der Arbeit seine substantielle Grundlage verliert und das sich auf Dauer nicht in simulierte Akkumulation retten kann. Entsprechend ist der Primat des Inhalts als kategoriale Kritik der Verhältnisse und deren unterschiedlichen Ebenen gesellschaftlicher Vermittlungen zur Geltung zu bringen – von der Kritik der Wert-Abspaltung als Basisverhältnis über die Kritik der demokratischen Normalität und ihrer ethischen Diskurse bis hin zu den psychosozialen und symbolischen Vermittlungen, in denen das Subjekt seine Leere und Haltlosigkeit zu verarbeiten gezwungen ist.
Herbert Böttcher
1Im Folgenden werden Ethik und Moral synonym verwandt. Ethik ist die griechische, Moral die lateinische Bezeichnung für das, was als ‚sittliches‘ Verhalten in Übereinstimmung mit den geltenden Sitten/Normen steht.
2Kommission für Zukunftsfragen Bayern – Sachsen (Hg.), Erwerbstätigkeit und Arbeitslosigkeit in Deutschland. Entwicklung, Ursachen und Maßnahmen, Teil III: Maßnahmen zur Beschäftigungslage, Bonn 1997, 36.