Gal 3,26-4,3
26 Denn alle seid ihr durch den Glauben Söhne Gottes in Christus Jesus. 27 Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen. 28 Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht männlich und weiblich; denn ihr alle seid einer in Christus Jesus. 29 Wenn ihr aber Christus gehört, dann seid ihr Abrahams Nachkommen, Erben gemäß der Verheißung. 1 Ich sage aber: Solange der Erbe unmündig ist, unterscheidet er sich in keiner Hinsicht von einem Sklaven, obwohl er Herr ist über alles; 2 er steht unter Vormundschaft und sein Erbe wird verwaltet bis zu der Zeit, die sein Vater festgesetzt hat. 3 So waren auch wir, solange wir unmündig waren, Sklaven der Elementarmächte dieser Welt.
Die Osternacht ist mit der Erneuerung des Taufbekenntnisses verbunden, vom erneuten Bekenntnis der Zugehörigkeit zu dem von Rom gekreuzigten, von Gott aber auferweckten Messias geprägt. Mit ihm ist ein Wechsel der Zugehörigkeit verbunden wie er im Ablegen der ‚normalen‘ Kleiderordnung und dem Anlegen des Taufkleides als Gewand Christi symbolisch zum Ausdruck kommt. Was dieser Wechsel beinhaltet macht Paulus in einem dreifachen Nein deutlich. Bei einem gesellschafts- und selbstkritischen Nachdenken als Ausdruck der Umkehr könnten die Reflexionen des Paulus zur Taufe ein hilfreicher ‚Buß- und Beichtspiegel‘ sein. Die gesellschafts- und selbstkritische Dimension kommen da zusammen, wo wir uns bewusst werden, dass wir nicht nur einem abstrakten System ohnmächtig gegenüber stehen, sondern dessen abstrakte Herrschaft in „Gedanken, Worten und Werken“ auch reproduzieren, also uns seine Normalität bewusst und unbewusst ‚zu eigen‘ machen.
1. „nicht mehr Juden und Griechen“
Es gilt nicht mehr Juden und Griechen. Dieses Nein richtet sich gegen Bestrebungen, nicht-jüdischen Menschen, die zu Christus gehören wollen, Beschneidung und Speisegebote aufzuerlegen. Diese Abgrenzungen sind überwunden.
In den messianischen Gemeinden des 1. Jahrhunderts hat sich Paulus dafür eingesetzt, dass alle, d.h. auch Menschen, die nicht aus dem Judentum kommen, Zugang zum Glauben an den jüdischen Messias und darin zu den Israel gegebenen Verheißungen der Befreiung bekommen konnten. Er musste dies gegen jüdische Menschen in den Gemeinden durchsetzen, die darauf bestanden, dass auch Nicht-Juden, die zu Christus gehören wollten, beschnitten werden und sich an die Speisegesetze halten sollten. In diesem Sinn sollte es keine Überordnung „der Juden“ über „die Griechen“ geben.
Je mehr sich das Christentum griechische Kultur und Denkweise in sich aufnahm, kehrte sich das Verhältnis um. Die Kirche tritt als das vermeintlich neue Volk Gottes an die Stelle Israels und löst sich mehr und mehr von seinen jüdischen Wurzeln. Damit verschwanden größtenteils Israels auf die Geschichte hin orientierten Traditionen der Befreiung. Nicht mehr im Blick auf die Geschichte, sondern auf ein zeit- und geschichtsloses Sein hin wurde theologisch nachgedacht und der Glaube verkündet. Im Zentrum stand nicht mehr Jesus als der Messias aus Israel mit seinem Widerstand gegen Herrschaft und Hoffnung auf Befreiung. In den Mittelpunkt rückte Jesus als der Sohn Gottes. Worum es ihm in seiner Geschichte ging, war nicht mehr so wichtig. Entscheidend wurde die Einheit in seiner göttlichen und menschlichen Natur.
Diese Kehrtwende wurde für die Juden und Jüdinnen tödlich, gerieten sie doch mehr und mehr in die Rolle von Gottesmördern, während die Kirche zu religiöser und weltlicher Macht ‚aufstieg‘. So waren wesentliche Grundlagen dafür gelegt, dass die Kirche die Juden als ‚Gottesmörder‘ verfolgen konnten – befeuert von einem Antijudaismus, der bis in unsere Tage das Evangelium gegen die Tora in Stellung bringt. Dabei steht das Evangelium für eine frohe Botschaft sowie für einen liebenden Gott, während die Tora als Ausdruck einer unmenschlichen Gesetzesreligion und Gott als rächender und strafender Gott gesehen wird. Vor allem das antijudaistische Stereotyp der Gottesmörder konnte immer dann bis hin zu Pogromen mobilisiert werden, wenn es zu Krisen wie z.B. der Pest kam. Dann waren die vermeintlichen Gottesmörder schnell zu Schuldigen gestempelt, an denen sich der Volkszorn entladen konnte.
Das Entstehen des neuzeitlichen Antisemitismus geht mit den Krisen einher, in deren Rahmen sich der Kapitalismus durchsetzt: mit der massenhaften Verarmung und Landflucht, die mit der ursprüngliche Akkumulation ab dem 16. Jahrhundert verbunden war ebenso wie mit der Gewalt, mit der die Bildung von Nationen durchgesetzt wurde. Krisen wurden projektiv auf die Juden hin ‚verarbeitet‘. Dabei wurden die ‚Gottesmörder‘ zu ‚Geldmonstern‘. Jüdisches Geld und jüdischer Geist wurde hinter Erscheinungen gewittert, die sich als krisenhaft darstellten. Seinen drastischsten und immer noch wirkmächtigen Ausdruck findet dies in Imaginationen einer jüdischen Weltverschwörung. Bei den Nazis verdichtete sich dies in dem Wahn, die Welt, d.h. den Kapitalismus, der nicht auf raffendem Geld, sondern auf schaffender Arbeit aufgebaut sein soll, durch die Vernichtung der Juden retten zu wollen.
Vor diesem Hintergrund ist es kein Zufall, dass in den aktuellen Krisen, in denen der Kapitalismus auf immanent nicht mehr zu überwindende Schranken stößt, Antisemitismus aus dem Unter- und Unbewussten, das sich in einer langen Geschichte bilden konnte, aufsteigt und sich im Hass auf Juden und auf den Staat Israel entlädt. Wie virulent die Vorstellungen von der jüdischen Weltverschwörung sind, wird in der Charta der Hamas von 1988 deutlich, in der es heißt:
„Juden waren die Hintermänner der französischen Revolution und sie standen hinter den meisten Revolutionen … Sie nutzten das Geld, um geheime Organisationen rund um die Welt zu gründen, um Gesellschaften zu zerstören und zionistische Aktionen durchzusetzen … Niemand hat widersprochen, dass die Juden den Ersten Weltkrieg ausgelöst haben, um das Islamische Kalifat auszulöschen. Sie verursachten auch den Zweiten Weltkrieg, an dem sie durch Handel und Kriegsmaterial ungeheuer verdient und die Gründung des Staates Israel vorbereitet haben. Sie haben die Gründung der Vereinten Nationen und des Sicherheitsrates angeregt, um den Völkerbund zu ersetzen, damit sie die Welt unmittelbar regieren können.“1
Antisemitismus ist aber kein Problem, das allein mit der Hamas in Verbindung gebracht werden kann. Nach dem Anschlag der Hamas am 7. Oktober 2023 ergoss sich eine Welle des Antisemitismus über den Globus, in dem der Anschlag von Linken als Befreiung bejubelt, von anderen so ‚kontextualisiert‘ wurde, dass die Juden von Opfern zu Schuldigen wurden. In Deutschland ist es – schon seit einigen Jahren und verschärft durch den Anschlag – wieder so weit, dass Juden mit Hass überzogen, und tätlich angegriffen werden, so dass viele Juden Angst haben, im öffentlichen Raum als Juden erkannt zu werden.
2. „nicht mehr Sklaven und Freie“
Es gilt nicht mehr Sklaven und Freie. Dieses Nein richtet sich gegen die römischen Herrschaftsverhältnisse, unter denen wenige frei und viele bis hin zu anderen Völkern arm und versklavt sind.
Die Herrschaft Roms war wesentlich von der Spaltung in Sklaven/Sklavinnen und Freie bestimmt. Sklaven hatten dafür zu sorgen, dass durch ihre mühseligen und anstrengenden Tätigkeiten das Leben der Freien als Muße genossen werden konnte. Wenn sie Glück hatten und gebildet waren, konnten sie auch als Lehrer von Kindern in den Familien der Freien gebraucht werden. Sie waren unmündiges Eigentum ihrer Herren und hatten auf deren Befehl hin zu gehorchen, ohne irgendwelche Rechte geltend machen zu können.
Der Kapitalismus rühmt sich in seinem politischen Gewand der Demokratie, Verhältnisse der Über- und Unterordnung beendet zu haben. Alle gelten als gleich an Würde und Rechten. Beendet ist eine Herrschaft, die nach Befehl und Gehorsam funktioniert und nach feudalen Ständen organisiert ist. Damit aber ist Herrschaft als Über- und Unterordnung keineswegs überwunden. Sie ist abstrakt geworden. Unterworfen sind Menschen nicht mehr einfach den Befehlen einzelner Herren, sondern einem abstrakten Gesetz, nach dem die kapitalistische Gesellschaft funktioniert: Es müssen Waren produziert werden, um über den Einsatz menschlicher Arbeit Kapital zu vermehren. Nur auf dieser Grundlage gelten Menschen als gleich und frei. Produziert wird in der Konkurrenz. Nur wer hier mithalten kann, also konkurrenzfähig ist, hat eine Chance. Nur wer seine Arbeitskraft, sein ‚Humankapital‘ zur Verfügung stellen und optimieren kann, wird nicht aus dem Rennen geworfen. Entsprechend dieser Grenze verlaufen die Linien der Über- und Unterordnung in der modernen Gesellschaft. Sie zieht die spaltenden Linien zwischen Menschen, deren Arbeit verwertbar ist, solchen, die dafür ‚überflüssig‘ sind. Sie spaltet also zwischen Nützlichen und Nutzlosen und damit zwischen Erfolgreichen und Verlierern, zwischen Leistungsträgern und solchen, die zur Last fallen und durchgeschleppt werden müssen – oder rechtsstaatlich ganz korrekt in Elend und Tod abgeschoben werden.
Ökonomisches und politisches Handeln funktioniert aber nur solange es gelingt, hinreichend Kapital zu vermehren. Das aber stößt auf eine Grenze, die nicht mehr überwunden werden kann; denn aufgrund der Konkurrenz muss tendenziell immer mehr Arbeit durch Technologie ersetzt werden. Damit entzieht sich das Kapital selbst die Grundlagen seiner Vermehrung. Dies hat zur Konsequenz, dass das Geld knapp wird, um diejenigen durchzuschleppen, für die kein Platz ist in einer Gesellschaft, die auf der irrationalen Grundlage funktioniert, Kapital um seiner selbst willen zu vermehren.
Statt zu erkennen, dass eine solche Gesellschaft in Frage zu stellen ist, werden die Grenzen neu gezogen. Verwertbare Arbeitskräfte werden in prekäre Beschäftigungsverhältnisse gedrängt, von denen sie nicht leben können. Das befeuert Spaltungen zwischen arm und reich. Noch schärfere Grenzen werden wischen Verwertbaren und Überflüssigen neu gezogen. Für Letztere werden die Mittel gekürzt, der Sozialstaat abgebaut. Zudem werden sie unter den Verdacht gestellt, faul und arbeitsunwillig zu sein und sollen unter Androhung des Entzugs der Lebensgrundlagen zur Arbeit gezwungen werden – legitimiert von einem Lohnabstandsgebot, was angesichts von Löhnen, von denen Menschen kaum leben können, nur zynisch ist. Agiert wird in der ‚Logik‘: Wer nicht arbeitet soll auch nicht essen. Vor allem aber werden Grenzen gegen Menschen errichtet, die fliehen müssen, weil ihre Grundlagen des Lebens durch ökologische, soziale und politische Katastrophen zerstört sind. Der Kapitalismus, dessen irrationaler Wachstumszwang sich selbst sowie die Schöpfung ruiniert, macht die Grenzen gegenüber seinen Opfern dicht, schiebt in Terrorregime ab und lässt das Mittelmeer zum Massengrab für Fliehende werden.
Befeuert werden die Spaltungen durch einen rechten Wahn, der keineswegs ein ‚Alleinstellungsmerkmal‘ der AfD ist, sondern alle Parteien durchzieht. Angesichts sich katastrophal zuspitzender Krisen sucht dieser Wahn das Heil in ‚Identitärem‘: in der Zugehörigkeit zu Nation und Kultur, im Bekenntnis von Freiheit und Demokratie, die als allgemeine und leere Formeln benutzt werden, mit denen die ins Leere laufende Form der Verwertung von Kapital noch einmal legitimiert werden soll, im Militarismus als Ausdruck der Stärke und als Kompensation für Ohnmacht und in der Krise auch einbrechender Männlichkeit, im Antisemitismus als letzter krisenideologischer Reserve, in dem wieder einmal die Juden und Israel am Elend des Scheiterns des Kapitalismus und kapitalistischer Modernisierung (nicht zuletzt im Nahen Osten) als Schuldige imaginiert werden…
Der Wahnsinn der Verhältnisse treibt in den sich zuspitzenden Krisen Wahnvorstellungen hervor, in denen sich die der Irrationalität des kapitalistischen Selbstzwecks inhärente zweckrationalausgerichtete Vernichtung dessen, was seinem Wachstum im Weg steht, amalgamiert mit dem Wahn eines Todestriebs, der in die Selbstvernichtung treibt. Der Wahn des Antisemitismus ist Teil des Wahns, der in den kapitalistischen Verhältnissen ‚schläft‘, aber jederzeit aktiviert werden kann, wenn es projektiver Krisenverarbeitung bedarf. Am Ende könnte der Trieb, Juden und Jüdinnen zu vernichten, um den Kapitalismus zu retten, angesichts der Aussichtslosigkeit einer Rettung des Kapitalismus einhergehen mit dem Trieb, sich selbst und den Globus als ganzen zu vernichten.
„Die Überzeugung, Rationalität sei das Normale, ist falsch. Unterm Bann der zähen Irrationalität des Ganzen ist normal auch die Irrationalität der Menschen. Sie und die Zweckrationalität ihres praktischen Handelns klaffen weit auseinander, aber auch diese Irrationalität ist stets auf dem Sprung, diese Zweckrationalität, im politischen Verhalten, zu überfluten.“2
3. „nicht männlich und weiblich“
Es gilt nicht mehr männlich und weiblich. Dieses Nein richtet sich gegen den patriarchalen Charakter der römischen Herrschaft, in der Frauen den Männern untergeordnet sind und sich in der Herrschaft der Väter in den Familien die Herrschaft des Kaisers widerspiegeln soll.
Der Terror der Hamas vom 7. Oktober war mit sexualisierter Gewalt gegen Frauen verbunden – nicht als Taten von Einzelnen, sondern strategisch. Sie war ein systematischer Teil des Anschlags. Sie wurde sichtbar in vergewaltigten und verstümmelten Leichen, in Körpern, die kaum noch zu erkennen waren, in Überresten getöteter Frauen, die nicht mehr zugeordnet werden konnten. Über zwei Monate brauchte die UNO, um diese Gewalttaten anzuerkennen. Dabei ist die Anerkennung der Verbrechen wesentlich für eine mögliche Heilung von Überlebenden. Ob Frauen über ihre Erfahrungen sprechen können, hängt wesentlich davon ob, ob sie darauf vertrauen können, dass ihnen geglaubt wird. In der Öffentlichkeit wird dieses Verbrechen kaum wahrgenommen, obwohl sich die moderne Gesellschaft doch so emanzipatorisch gibt und stolz ist auf die erreichte Gleichstellung der Geschlechter. Offensichtlich geht es bei dieser Gleichstellung um Frauen aus den eigenen Reihen, um Frauen, die in der kapitalistischen Gesellschaft einen Platz, genauer einen Arbeitsplatz gefunden haben, während besser gestellte Frauen bzw. Familien die leidigen Reproduktionsaufgaben in Haushalt und Pflege von Frauen aus Niedriglohnländern erledigen lassen.
Wie es mit der Gleichstellung von Frauen im modernen Europa real aussieht, zeigt ein Blick auf eine europäische Grenze. An der europäischen Peripherie, im spanischen Andalusien, werden Frauen für die Erdbeerernte gebraucht. Dazu bekommen verheiratete Frauen unter 39 Jahren mit Kindern ein Einreisevisum für drei bis vier Monate. Jährlich werden 20.000 Marokanerinnen angeworben. Zielgruppe sind vor allem Frauen aus ländlichen Gebieten mit geringem Einkommen und Bildungschancen. Frauen berichten, dass sie auf den Erdbeerfarmen anhaltenden sexuellen Missbrauch bis hin zu mehrfacher Vergewaltigung durch einen Vorgesetzten erfahren haben. Investigative Journalisten haben Arbeitsausbeutung wie sexuellen Missbrauch von Frauen aufgedeckt. „Regierungsbehörden und NGOs leugnen die Kenntnis des Problems, und nur wenige Frauen wagen es sich zu äußern – wegen der Drohungen ihrer Vergewaltiger, aber auch aus Angst, von ihren Familien zu Hause verstoßen zu werden.“3
Erfahrungen von Frauen lassen deutlich werden: ‚Gleichstellung‘ ist an Lohnarbeit gebunden. Und auch da, wo Frauen über Arbeit ‚gleichgestellt‘ sind, werden sie untergeordnet und abgewertet. Das reicht von schlechter bezahlter Arbeit für Frauen, ihrer doppelten Zuständigkeit für Beruf und Familie als Mutter und Managerin bis hin zu Erfahrung sexueller Gewalt und deren gesellschaftlicher Ignoranz. In den voranschreitenden Krisen werden Frauen aus armen Ländern ‚importiert‘, nicht nur um Erdbeeren zu pflücken, sondern vor allem um Haushalts- und Pflegedienste zu leisten. In Ländern, in denen soziale und staatliche Strukturen einbrechen, sind Frauen oft diejenigen, die allein für das Überleben in verwildernden sozialen und politischen Zusammenhängen kämpfen. Zugleich untergräbt die Krise des Kapitalismus die Grundlagen dafür, dass Menschen als selbstbewusstes, autonomes und freies Subjekt agieren können. Das treibt vor allem Halluzinationen von männlicher Größe und Stärke in die Krise, bedroht männliche Identität und ebnet toxischer Männlichkeit den Weg, die sich in Exzessen von Gewalt entlädt.
Dies alles ist nicht zufällig, sondern vermittelt mit der kapitalistischen Form der Gesellschaft. Sie ist nämlich geprägt durch die Produktion von Waren mit dem Ziel, durch die Verausgabung von Arbeit Kapital zu vermehren, und zugleich von der Abspaltung der Reproduktion, also der Sorge um Kinder, Kranke, Alte etc. Sie geht einher mit einem Verhältnis der Geschlechter, in dem Produktion (Arbeit, Öffentlichkeit…) männlich und Reproduktion (Haushalts– und Sorgetätigkeiten) weiblich zugeordnet werden. Dies wiederum ist mit einem Verhältnis von Über- und Unterordnung verbunden. Die männliche Produktion und mit ihr das öffentlich-politische Agieren (das männliche Schaffen und Organisieren) ist der Reproduktion (dem weiblichen Hegen und Pflegen, Lieben, Verstehen und Sorgen) übergeordnet. Dies spiegelt sich in der inferioren, unter- und abgewerteten Stellung von Frauen. Das paulinische „nicht männlich, nicht weiblich“ zielt heute auf die Überwindung der strukturellen kapitalistischen Ungleichheit und kann sich nicht mit einer scheinbaren (rechtlich-formalen) Gleichstellung von Frauen im Kapitalismus begnügen.
4. „Sklaven der Elementarmächte dieser Welt“
Paulus wirft Christen und Christinnen in der Gemeinde von Galatien vor, sie seien in der Gefahr, wieder unmündige „Sklaven der Elementarmächte dieser Welt“ zu werden. Mit den Elementarmächten verweist er auf den Kosmos und seine Gestirne. Nach antiker Vorstellung sind darin die Verhältnisse der Über- und Unterordnung von Freien und Sklaven, männlich und weiblich verankert, die irdischen Herrschaftsverhältnisse also ein irdisches Abbild des himmlischen Kosmos und so zeitlich und unverrückbar wie der Kosmos. Dagegen betont Paulus: Christus ist der Herr aller Mächte und Gewalten, der irdischen wie der himmlischen. Mit ihm sind auch die kosmischen Mächte, von heute aus interpretiert alle Ontologisierungen und Verewigungen von Herrschaftsordnungen, also auch die abstrakte Herrschaft des Kapitalismus entthront. Wenn Christus der ‚Herr‘ ist, dann sind Verhältnisse der Über- und Unterordnung überwunden bzw. zu überwinden. Zu erneuten „Sklaven der Elementarmächte“ werden diejenigen, die zurück wollen zur Unterordnung der Griechen unter die Gesetze von Beschneidung und trennenden Speisevorschriften, zur Überordnung der Freien über die Sklaven, des Männlichen über das Weibliche. Wer die heutigen ‚Elementarmächte‘ überwinden will, muss die Kategorien des globalen kapitalistisch-patriarchalen Fetischzusammenhangs radikal kritisieren und zu überwinden trachten.
Herbert Böttcher
1Zitiert nach: Wolfgang Benz, Was ist Antisemitismus? München 22005.
2Theodor W. Adorno, Meinung Wahn Gesellschaft, in: ders,: Kulturkritik und Gesellschaft II. Eingriffe Stichworte, Gesammelte Schriften 10.2, Frankfurt am Main 52015, 587.
3Vgl. Judith Gruber, Narrative von Frauen zur Rassifizierung. Europäische Perspektiven, in: Concilium 1/2023, 23 – 32, vor allem 26f.