Zuerst erschienen in: Ökumenisches Netz Rhein-Mosel-Saar (Hrsg): Die Frage nach dem Ganzen – Zum gesellschaftskritischen Weg des Ökumenischen Netzes anlässlich seines 25jährigen Bestehens, Koblenz 2018, 65-85. Erweitert und ergänzt im November 2021.
1. Antijudaismus, Antisemitismus und Moderne
Antisemitismus gehört zur Geschichte der Moderne. Sie beginnt mit der frühen Neuzeit und geht einher mit der Durchsetzung des Kapitalismus als Gesellschaftsform. Er ist jedoch nicht voraussetzungslos, sondern greift auf die antike Diffamierung der Juden als Feinde von Fremden und letztlich aller, des ganzen Menschengeschlechts ebenso zurück wie den christlichen Antijudaismus1. Letzter findet sich bereits im Zweiten Testament. Er geht zurück auf einen Konflikt, der zunächst als innerjüdischer Konflikt im Streit um das Verständnis des jüdischen Messias Jesus von Nazaret und die Konsequenzen, die sich daraus für die Konfliktparteien nicht zuletzt im Blick auf ihr Verhältnis zu römischer Herrschaft ergeben. Diese Frage gewinnt mit der Zerstörung des Tempels durch die Römer und der Zerstreuung der Juden im römischen Reich ihr entscheidendes Gewicht. In antijudaistischen Ausfällen der Kirchenväter wird aus einem innerjüdischen Konflikt ein ausgrenzendes und diffamierendes Konkurrenzverhältnis, das von christlicher Seite auf die Subordination des Judentums unter das Christentum oder auch dessen Ablösung durch die christliche Kirche hinausläuft. Der neue Bund löst den alten Bund ab und die Kirche tritt an die Stelle Israels. Als roter Faden der Auseinandersetzung mit Folgen über die Zeit der Kirchenväter hinaus zeigt sich dabei die oft unbewusste Angst vor der Überlegenheit des Judentums gegenüber dem Christentum, die zu abwertender Diffamierung sowie zu ideologischer Abgrenzung und gleichzeitig zur Ausgrenzung der Juden aus der nun vermeintlich christlichen Gesellschaft drängt. Das Verhältnis von Christen und Juden im Mittelalter ist geprägt durch „die Janusköpfigkeit von Schutz und Unterdrückung/Verfolgung“2. Die Juden sollen zwar durch die kirchliche Gesetzgebung geschützt werden, sind aber zugleich Besitz des Herrschers. In diesem Konstrukt wird deutlich, dass der Schutz der Juden sich mit dem Zweck ihrer Ausbeutung verbindet. Zu Judenverfolgungen und zu Pogromen kommt es im Zusammenhang der Kreuzzüge. In diesen Zusammenhängen entstehen Legenden von jüdischen Ritualmorden und Hostienfrevel ebenso wie das Motiv der Judensau. Die große Pest um 1348 befeuert Legenden jüdischer Brunnenvergiftung. Hier werden die Juden zu Schuldigen für eine nicht erklärbare Krankheit. Mit ihrer Verfolgung und Vertreibung soll die Pest verfolgt und vertrieben werden. Dabei spielten auch wirtschaftliche Gründe insofern eine Rolle als sich mit der Vertreibung der Juden die Schulden ihnen gegenüber erledigt hatten und das bare Geld an den Rat bzw. an die Zünfte fiel. An der Schwelle zur Moderne steht Martin Luther. Ihn treibt die Angst „vor judaisierenden Tendenzen im Christentum“3. Wirksam ist hier die alte christliche Angst vor jüdischer Überlegenheit. Vor diesem Hintergrund werden Juden diffamiert und ausgegrenzt. Der Hass gegenüber den Juden treibt bis hin zum Aufruf zur Vernichtung der Juden. „Mit seiner Mystifizierung, Dämonisierung, Verteufelung und schließlich Entmenschlichung der Juden vereint Luther in unvergleichlicher Weise alles, was vor ihm an religiösen, sozialen und protorassistischen Vorurteilen über und gegen Juden vorgebracht wurde…“4 Zugleich bildet er eine Brücke zur Moderne. Sie kommt in seiner Neubewertung der Arbeit als Berufung zum Ausdruck. Das Gegenbild zu denjenigen, die dem Ruf Gottes folgen und fleißig arbeiten ist der Müßiggänger. Luther konkretisiert ihn „im Juden, der müßig dasitzt, Geld für sich arbeiten lässt und Gott die Zeit stiehlt“5. Den Müßiggang können sich die Juden leisten, weil sie nicht durch ‚ehrliche Arbeit‘, sondern durch Geldgeschäfte und Wucher zu Reichtum gekommen seien. Nachdem der Wucher verboten und jüdischer von Christen gestohlener und geraubter Reichtum konfisziert ist, sollen die Juden sich endlich ‚im Schweiße ihres Angesichts‘ (Gen 3,19) ernähren statt vom Schweiß der Christen zu profitieren. Arbeit als Disziplinierung meldet sich als Vorbote moderner Arbeitshäuser, in denen Arme in Arbeit ‚eingeübt‘ wurden.
Der Antisemitismus kann zwar auf Stereotypen des antiken und christlich verwurzelten Antijudaismus zurückgreifen, der auch im Unterbewussten tradiert wird. Dennoch ist er als Phänomen der Moderne davon zu unterscheiden. Der christliche Antijudaismus ist – auch wenn er sich mit kulturellen, sozialen und ökonomischen Motiven verbindet – vor allem religiös begründet.
Seine Bedeutung gewinnt der Antisemitismus im 19. Jahrhundert. Von der historischen Forschung wird er „als Reflex in der Modernisierungskrise erklärt“6. Mit der Durchsetzung der Moderne verbundene Um- und Einbrüche, soziale Verwerfungen und Zerfall traditioneller Orientierungen infolge von Urbanisierung und Industrialisierung mussten von Menschen verarbeitet werden. Diejenigen, die unter den gesellschaftlichen Veränderungen zu leiden hatten, konnten im Antisemitismus eine Möglichkeit finden, ihre Verzweiflung und Wut auf ‚die Juden’ zu projizieren. Nach Wolfgang Benz ist der Zusammenhang von Antisemitismus und Krisen „anwendbar auf verschiedene Epochen, auf die Industrialisierung ebenso wie auf die Periode nach dem Ersten Weltkrieg und – partiell – auch auf die Zeit der Wende in Deutschland“7. Das einschränkende ‚partiell’ trägt der Tatsache Rechnung, dass in den Krisen nach der Wende vor allem Ausländer in die Rolle des Aggressionsobjekts gerieten, auf das die sozialen Spannungen und Frustrationen abgeleitet wurden.
Dabei liegen die Ursachen für Vorbehalte und Feindschaft nicht in einer Eigenschaft derer begründet, auf die sie projiziert werden. Die Inhalte der Projektion sind vielmehr Konstrukte der Mehrheitsgesellschaft bzw. von Gruppen, die durch Projektionen unbegriffene und mit Ängsten verbundene Krisen zu verarbeiten und sich so zu stabilisieren suchen. Antisemitismus als gesellschaftliches Phänomen kann daher nicht aus seinem gesellschaftlichen Kontext isoliert werden. Zu fragen ist daher, welche Krisen und welche Bedürfnisse werden im Antisemitismus verarbeitet.
2. Moderne als kapitalistische Moderne
2.1 Der Kapitalismus als Real-Abstraktion
Die Moderne ist keine andere als kapitalistische Moderne. Diese Selbstverständlichkeit verbirgt sich dem Bewusstsein, wenn von Prozessen der Modernisierung in Gestalt von Industrialisierung und Globalisierung, von Individualisierung und Autonomie gesprochen wird. Verborgen – aber unreflektiert vorausgesetzt – bleibt damit das von der Moderne nicht zu trennende Herrschaftsverhältnis. Die Moderne erscheint zwar gegenüber dem Feudalismus als Befreiung von personalen Verhältnissen der Abhängigkeit und Unterwerfung. Sie konstituiert aber ein neues, nicht personales, sondern sachliches Herrschaftsverhältnis, die abstrakte Herrschaft der Verwertung des Kapitals. Sie geht einher mit der Abspaltung der weiblich konnotierten Reproduktion. Diese bildet die stumme Voraussetzung der Unterwerfung unter das Sachgesetz der Verwertung von Kapital.
Das Sachgesetz der Verwertung von Kapital hat Karl Marx in die Kurzformel G-W-G’ gefasst. Geld (G) wird als Kapital eingesetzt, um mittels der Verausgabung von Arbeit Waren zu produzieren. Der in den Waren dargestellte Wert – gemessen in der zu seiner Produktion im gesellschaftlichen Durchschnitt verausgabten Arbeitszeit – wird auf dem Markt, der Sphäre der Zirkulation bzw. des Tausches, wieder in Geld zurückverwandelt. Aufgrund der verausgabten menschlichen Arbeitskraft ist aus dem eingesetzten Geld (G) Mehr-Wert, Mehr-Geld geworden. Ein Teil des Geldes wird immer wieder neu in den vermeintlich unendlichen Prozess von G-W-G’ eingespeist. Das Ziel des Prozesses ist es, aus Geld mehr Geld zu machen. Genau dies ist der abstrakte Selbstzweck kapitalistischer Produktion.
Dass es um einen abstrakten Selbstzweck geht, ist nicht zufällig. Waren können nur getauscht, d.h. in Geld zurück verwandelt werden, weil sie bei aller stofflichen Verschiedenheit etwas Gemeinsames haben: die verausgabte Arbeit, die sich in ihnen darstellt. Auf den Tausch und damit auf ihre Tauschbarkeit hin werden Waren produziert. Deshalb brauchen sie zwar eine stoffliche Inhaltlichkeit, einen konkreten Gebrauchswert. Er ist aber nur wichtig als stofflicher Träger von etwas Abstraktem, dem Tauschwert. Dem konkreten Gebrauchswert entspricht die konkrete Arbeit. Aber auch sie ist lediglich als Träger abstrakter Arbeit wichtig. Was im Kapitalismus zählt, ist nicht der stoffliche Reichtum, sondern die abstrakte Form des Reichtums, also der Reichtum, der in Geld ausgedrückt werden kann. Entsprechend wird stofflicher Reichtum vernichtet, wenn er nicht mehr in Geld zurückverwandelt werden kann. Die abstrakte Form des Reichtums opfert das konkrete Leben, die menschlichen Grundbedürfnisse nach Nahrung und Kleidung, nach einem Dach über dem Kopf etc. und letztlich den Menschen selbst dem abstrakten und irrationalen Selbstzweck der Vermehrung des Geldes als Ausdruck abstrakten Reichtums.
Im Prozess der Verwandlung von Geld in Ware (Produktion) und der Rückverwandlung von Ware in Geld (Zirkulation) sind Ware und Geld unterschiedliche Erscheinungsformen des in der Ware dargestellten Werts. Der Wert „geht beständig von der einen Form in die andere über, ohne sich in die andere zu verlieren, und verwandelt sich so in ein automatisches Subjekt“8. Mit dem paradoxen Begriff des ‚automatischen Subjekts’ beschreibt Marx die widersprüchliche Wirklichkeit gesellschaftlicher Verhältnisse, die dem Gesetz der Verwertung von Kapital und damit der Form abstrakten Reichtums unterworfen sind. Sie sind Ausdruck eines blinden Automatismus, der jedoch eines mit Bewusstsein ausgestatteten Trägers bedarf. Schließlich produzieren die Waren sich nicht selbst, sondern werden durch die Handlungen von ProduzentInnen hergestellt, die Handlungsträger abstrakter Arbeit sind. Die Waren gehen auch nicht von selbst auf den Markt, sondern müssen von bewussten Akteuren dorthin ‚getragen’ werden. Zum Bewusstsein der Subjekte als Handlungsträger im Verwertungsprozess gehört jedoch gerade nicht das Bewusstsein von dem gesellschaftlichen Rahmen, in dem sie handeln. Dieser wird nicht zum Gegenstand kritischer Reflexion. Das handelnde Subjekt handelt im vorgegebenen Rahmen eines blinden Automatismus. Es bleibt auf die Binnenrationalität des Verwertungsprozesses beschränkt. Dann aber ist „das ‚automatische Subjekt’ … nichts anderes als Selbstbewegung der kapitalistischen Realkategorien, die von den Menschen unbewusst geschaffen wurden und sich gerade dadurch verselbständigt bewegen, dass die Individuen in diesen Kategorien ihr Leben vollziehen.“9
Wert- und Subjektform erscheinen als universelle und gleichsam monistische Bestimmungen gesellschaftlicher Verhältnisse. Ausgeblendet bleibt dabei jedoch der abgespaltene und weiblich konnotierte Bereich der Reproduktion. Ohne diesen Bereich kann das System der abstrakten Arbeit nicht funktionieren, schließlich müssen Kinder versorgt und erzogen, Alte gepflegt und Haushaltstätigkeiten verrichtet werden. Wird der abgespaltene Bereich in der Reflexion ausgeblendet, kann gesellschaftliche Totalität nur in positivistischer Verkürzung zur Sprache kommen. Zudem bleibt unsichtbar, dass das Subjekt männlich, weiß und westlich bestimmt ist10.
2.2 Vom „Fetischismus des Geldes“
Papst Franziskus kritisiert in seinem Apostolischen Schreiben ‚Evangelii Gaudium’ die „Vergötterung des Geldes“. Sie komme zum Ausdruck „im Fetischismus des Geldes und in der Diktatur einer Wirtschaft ohne Gesicht und ohne menschliches Ziel“11. Die Rede vom „Fetischismus des Geldes“ wäre gefährlich verkürzt, wenn sie nur auf den Umgang mit Geld oder auf die Sphäre der Zirkulation verkürzt würde. Sie wird erst dann zu einem kritischen Begriff, wenn sie auf den abstrakten und irrationalen Selbstzweck der gesamten kapitalistischen Vergesellschaftung zielt. Diese Gesellschaft ist als ganzes der Diktatur des Wertgesetzes unterworfen. Deshalb muss sie blind bleiben für ein „menschliches Ziel“12. Geld ist dabei der abstrakteste Ausdruck für Arbeit, Ware und Wert, Warenproduktion, also für Formen, die zur Konstitution der kapitalistischen Gesellschaft gehören.
Moishe Postone sieht in der mit der Fetischkonstitution des Kapitalverhältnisses verbundenen Antinomie von Konkretem und Abstraktem den Hintergrund antisemitischen Denkens13. Diese Antinomie drückt sich aus in den Unterscheidungen des (sichtbaren) Gebrauchswerts und des (unsichtbaren) Tauschwerts der Ware, der (sichtbaren) konkreten Arbeit und der (unsichtbaren) abstrakten Arbeit, dem (sichtbaren) stofflichen Reichtum und dem (unsichtbaren) abstrakten Reichtum. Analog zum Doppelcharakter von Ware, Arbeit und Reichtum ist die bürgerliche Gesellschaft auf der politischen Ebene durch die Trennung von Staat und bürgerlicher Gesellschaft, von ‚homo politicus’ und ‚homo oeconomicus’ charakterisiert. Als StaatsbürgerInnen sind alle Individuen abstrakt gleich und dem abstrakten Recht unterworfen, als Privatpersonen sind sie konkret handelnde, d.h. ihre (ökonomischen) Einzelinteressen verfolgende Individuen.
Eingebunden in diese Form beruhte der nationalsozialistische Antikapitalismus „auf dem einseitigen Angriff auf das Abstrakte: Abstraktes und Konkretes werden nicht in ihrer Einheit als begründende Teile einer Antinomie verstanden, für die gilt, dass die wirkliche Überwindung des Abstrakten – der Wertseite – die geschichtlich-praktische Aufhebung des Gegensatzes selbst sowie jeder seiner Seiten einschließt. Stattdessen findet sich lediglich der einseitige Angriff gegen die abstrakte Vernunft, das abstrakte Recht und, auf anderer Ebene; gegen das Geld- und Finanzkapital.“14
Während die stofflich konkrete Seite in der arischen Rasse naturalisiert und biologisiert wird, wird im Antisemitismus sogar die abstrakte Seite des Kapitalismus konkret: Sie wird auf ‚die Juden´ projiziert. So werden die ‚Gottesmörder’ des christlichen Antijudaismus im modernen Antisemitismus zu Geldmonstern. Im Zusammenhang der kapitalistischen Transformationskrise im Umbruch zur zweiten industriellen Revolution finden sich z.B. Projektionen der „negativen und zerstörerischen Eigenschaften des postfordistischen Kapitalismus“15 auf das kosmopolitische Geldkapital mit den Juden als kulturell-biologischen Trägern. Als Beispiel sei Henry Ford zitiert:
„Der internationale jüdische Bankier, der kein Vaterland hat, sondern alle Länder gegeneinander ausspielt, und das internationale jüdische Proletariat, das von Land zu Land streicht, um die ihm genehmen wirtschaftlichen Bedingungen zu suchen, sind hinter allen Problemen zu finden, die heutzutage die Welt beunruhigen.“16
Die Juden werden aber nicht nur mit dem Geld, also mit der Zirkulationssphäre, „sondern mit dem Kapitalismus überhaupt gleichgesetzt“17. Im Rahmen dieser Projektion werden ‚die Juden’ „zu Personifikationen der unfassbaren zerstörerischen, unendlich mächtigen Herrschaft des Kapitals“. Nun kann „die ‚antikapitalistische’ Revolte zur Revolte gegen die Juden“18 werden. Und „die Überwindung des Kapitalismus und seiner negativen Auswirkungen wurde mit der Überwindung der Juden gleichgesetzt“19. Solche Projektionen können an die Imaginationen jüdischer Weltverschwörung anknüpfen, wie sie vor allem in den „Protokollen der Weisen vom Zion“ ihren Ausdruck fanden. In ihrem Kern gehen sie zurück auf eine Fiktion der zaristischen Geheimpolizei von 1903. Mit ihr sollte eine ‚jüdische Weltverschwörung‘ belegt werden20. Es soll deutlich werden: ‚Die Juden’ stehen als Drahtzieher hinter der Moderne – sowohl in ihrer liberalen als auch in ihrer kommunistischen Variante. In der katholischen Kirche wird in den 1920er Jahren unterschieden zwischen einem verurteilten biologisch begründeten Rassismus und einem wachsamen Antisemitismus „als moderne Bewegung zur politischen oder wirtschaftlichen Bekämpfung des Judentums“21. In der Gegenwart greift die ‚Charta der Islamischen Widerstandsbewegung’ verschwörungstheoretische Vorstellungen von der jüdischen Weltherrschaft auf und legitimiert damit die Zerstörung Israels im Interesse der Befreiung Palästinas22. Sie werden auf Konferenzen gegen Rassismus oder in NGO-Foren immer wieder neu zur Verunglimpfung Israels bemüht23.
Die mit dem modernen Antisemitismus verbundene Macht und Gefahr liegt vor allem darin begründet, dass er eine Welterklärung anbietet, mit der Krisen und damit verbundene Unzufriedenheiten und Existenzängste scheinbar eine Erklärung und Lösung finden. In letzter Konsequenz bietet er die „Erlösung der Welt von der Quelle allen Übels in Gestalt der Juden“24 an. Der vermeintlich konkrete Kapitalismus kann weiter bestehen, aufblühen und gedeihen, wenn er von der Personifizierung seiner abstrakten gesellschaftlichen Formen befreit ist.
2.3. Zur Fetischisierung der Arbeit
Dem Fetischismus des Geldes entspricht die Fetischisierung der Arbeit. In einer fetischismuskritischen Lesart der Marx’schen Theorie ist mit der Arbeit – im Unterschied zum traditionellen Marxismus – kein emanzipatorisches Potential verbunden. Arbeit ist nicht der emanzipatorische Gegenpol zum Kapital, die gleichsam im Klassenkampf von der Herrschaft des Kapitals befreit werden könnte. Sie ist nicht emanzipatorische Gegenmacht, sondern Substanz des Kapitals und damit eingebunden in das Ganze der kapitalistischen Fetischkonstitution. Sie ist auch keine anthropologisch-ontologische Konstante, sondern musste im Rahmen der Modernisierungsgeschichte – nicht zuletzt in den berüchtigten Armen- und Arbeitshäusern – in die Menschen eingeprügelt werden. Die ‚edlere’ Variante in der Verallgemeinerung der Arbeit war die protestantische Arbeitsethik, in der Arbeit zur Pflicht gemacht und mit Heilsversprechen verbunden wurde. Sie findet ihre Fortsetzung im liberalen Leistungswahn und seinen abstrakten Sekundärtugenden wie Fleiß und Disziplin, Ordnung und Sauberkeit, Pünktlichkeit und Korrektheit bis hin zur Pflicht der Selbstoptimierung als eigenverantwortlich zu leistende Unterwerfung des zum Unternehmer seiner selbst gewordenen Individuums unter die Verwertung seines Humankapitals bzw. für die Selbstunterwerfung unter die nicht begriffene Herrschaft der Arbeit.
Die Fetischisierung der Arbeit spiegelt sich wider in der Kritik der Nicht-Arbeit bzw. in der Diffamierung der MüßiggängerInnen. In dieser Tradition steht die Kritik an ‚arbeitsscheuen Sozialschmarotzern‘ ebenso wie die Unterscheidung zwischen ‚schaffendem‘ und ‚raffendem Kapital‘. Die Diffamierung arbeitsscheuer MüßiggängerInnen artikuliert sich in der Logik eines ‚strukturellen Antiziganismus’, insofern ‚ZigeunerInnen‘ als vermeintlich genetisch ‚Arbeitsscheue’ sich der auf Arbeit gründenden Moderne verweigern. Sie galten als ‚Fremde’, weil sie „die Anforderungen der Neuzeit an die unteren Klassen verweigerten – abhängige Arbeit und sesshafte Untertänigkeit“25.
Auch die Diffamierung der Juden ist über die Arbeit vermittelt. Sie lebten nicht von ‚ehrlicher Arbeit’ (‚arisches Prinzip‘), sondern kämen über Geldgeschäfte zu Geld. Sie seien die treibenden Kräfte der Modernisierung und zugleich ihre Nutznießer. Dem entspricht die Unterscheidung zwischen ‚schaffendem‘ und ‚raffendem Kapital‘, also produktiver Geldvermehrung durch ‚ehrliche Arbeit‘ und unproduktiver Geldvermehrung durch Handel mit Waren und Geld. Auf dieser Folie wird „der ‚unproduktive’ und müßiggängerische ‚jüdische Flaneur’ oder ‚elegante jüdische Lebemann’ … nahezu gleichbedeutend mit der Figur des ‚zersetzenden jüdischen Intellektuellen’, in dem sich die negative Kraft der Abstraktion reflexiv gegen das ‚gute’ Prinzip der ‚Arbeit’ wendet“26.
2.4 Weltherrschaft und Rassismus
In der Moderne löst sich zwar der religiös motivierte Judenhass nicht einfach auf. Im Unterbewusstsein ist er latent weiter wirksam. In den Vordergrund treten – wie angedeutet – nicht mehr die Juden als ‚Gottesmörder‘, sondern als ‚Geldmonster‘. Zudem wird der moderne Antisemitismus rassistisch aufgeladen. Es geht nicht mehr einfach um die Religion, sondern um die Rasse. In seinem 1897 veröffentlichten „Antisemiten-Katechismus“, einer wie es im Untertitel heißt, „Zusammenstellung des wichtigsten Materials zum Verständnis der Judenfrage“ schreibt Theodor Fritsch (unter dem Namen Thomas Frey): „Es fällt niemandem ein, die Juden ihrer Religion wegen zu bekämpfen. … Wie schon der Name sagt, richtet sich der Antisemitismus gegen die ‚Semiten‘, also gegen eine Rasse, nicht gegen eine Religion.“27
Mit der Ausbreitung des rassistischen Antisemitismus wurden auch Juden, die sich von ihrem Glauben abgewandt hatten, ausgegrenzt und verfolgt. Entsprechend wurde die Entfernung der Juden aus öffentlichen Ämtern im Deutschen Reich sowie ihre Eliminierung aus allen gesellschaftlichen Bereichen nicht mehr religiös, sondern rassistisch begründet28.
Bei Houston Steward Chamberlain verbinden sich der darwinistische ‚Kampf ums Dasein‘ mit dem Gedanken der Reinheit der Rasse29. Dabei stellt er „die Einzigartigkeit der jüdischen Rasse“30 heraus. Sie könne es mit der germanischen Rasse aufnehmen. Genau das macht die ‚jüdische Rasse‘ umso gefährlicher. Und so kann dieser Rassismus mit den Imaginationen von der jüdischen Weltverschwörung aufgeladen werden wie sie in den ‚Protokollen der Weisen vom Zion‘ verbreitet wurden und in der Konkurrenz um imperiale Vorherrschaft in Stellung gebracht werden. „Darwinismus, Sozialbiologismus, Rassenwahn und Antisemitismus“ zeigen sich als „ein genuines Produkt der Modernisierung“, also eine … irrationale Reflexionsform der Konkurrenz und … eine geradezu gesetzmäßig entstehende Erscheinungsform des Massenbewusstseins“31.
Im Nationalsozialismus wird die rassistische Reinheit des Blutes zur Voraussetzung für die deutsche Staatsbürgerschaft. Auch hier schwingt eine gewisse Bewunderung für die Juden mit, genauer für ihren unbändigen Willen zum Leben. Er gewinnt – so die Vorstellung – seine Kraft aus der Erhaltung der Art. Aber auch hier gilt wieder: Es kommt darauf an, die Abwehr in Stellung zu bringen. Bei den Juden geht es um nackten Selbsterhaltungstrieb, nicht um Gemeinschaft und Kultur. Die anderen Völker benutzen sie als Parasiten. Insofern gehören die Juden ‚eigentlich‘ einer minderwertigen und unterlegenen Rasse an. Vor ihnen und ihrem Parasitentum muss sich das deutsche Volk schützen, damit sie nicht doch als Minderwertige zur Weltherrschaft kommen. Diesem Bestreben dienen jüdische Presse, jüdische Weltfinanz und jüdischer Bolschewismus32.
3. Der deutsche Antisemitismus
Antisemitismus gehört zur Geschichte kapitalistischer Modernisierung und der mit ihr verbundenen Krisen und Verwerfungen. Dennoch kommt dem deutschen Antisemitismus eine singuläre Bedeutung zu. Er ist zum eliminatorischen Antisemitismus geworden mit dem Ziel, die Juden gänzlich zu vernichten. Zu diesem spezifisch deutschen Antisemitismus haben eine Reihe Faktoren der deutschen Nationalgeschichte beigetragen: die Herausbildung der Nation nicht im Kontext der bürgerlichen Revolution, sondern ökonomisch im Zusammenhang mit der großen Transformationskrise der Industrialisierung33 und politisch ‚von oben’ im Rahmen autoritärer Staatlichkeit verbunden mit Gehorsam und Drill34 sowie ideologisch begleitet von Romantik und Gegenaufklärung sowie der Überhöhung der Nation als Kultur-, Abstammungs- und Blutsgemeinschaft (Herder, Fichte)35.
Das Singuläre des deutschen eliminatorischen Antisemitismus ist darin zu sehen, dass in ihm Vernichtung als Selbstzweck exekutiert wurde. Es fehlt ein benennbarer Interessenstandpunkt, wie er bei anderen Genoziden und Massenmorden in der Modernisierungsgeschichte ausgemacht werden kann. Beim Gulag war die Vernichtung von Menschen nicht Ziel an sich, sondern wurde zum Zweck der Unterwerfung unter die Arbeit utilitaristisch ‚in Kauf genommen’. Die Vernichtung der Juden in den deutschen Vernichtungslagern „war ein fanatisch vollstreckter Selbstzweck (sogar kriegswichtige Ressourcen wurden dafür geopfert), um den Selbstzweck des Kapitals loszuwerden“36. Diese Absurdität hat Moishe Postone in der Formulierung zum Ausdruck gebracht: „Auschwitz war eine Fabrik zur ‚Vernichtung des Werts’, zur Vernichtung der Personifizierung des Abstrakten.“37 In Auschwitz sollte also – so führt Robert Kurz Postone weiter – „nichts produziert werden, sondern die gesellschaftliche Realabstraktion der Moderne fabrikmäßig eliminiert werden, ohne sie emanzipatorisch aufzuheben“38. Deshalb beschreibt Kurz Auschwitz als „eine negative Fabrik. Dort wurde nichts produziert, sondern etwas ‚entsorgt’ – nämlich die phantasmatische Verkörperung des gesellschaftlichen Abstraktionsvorgangs in einem warenproduzierenden System.“39
In der in Auschwitz exekutierten Vernichtungslogik zeigt sich die Gleichgültigkeit des Verwertungsprozesses gegenüber der physisch-stofflichen Welt. Alles soll in die Form abstrakten Reichtums – ausgedrückt in Geld als abstraktestem Ausdruck des Werts von Arbeit und Ware – gepresst werden oder untergehen. In Auschwitz wurde negativ exekutiert, was den Kapitalismus prägt: die Verwertung des Kapitals als abstrakter und irrationaler Selbstzweck, die Verwertung des Werts um seiner selbst willen. In der Durchsetzung dieses Selbstzwecks werden alle Qualitäten (Inhalte) zu abstrakten Quantitäten der Verwertung. Damit ist der Verwertungsprozess (inhalts-)leer. Mit ihm geht die Abspaltung des Bereichs der weiblich konnotierten Reproduktion einher. Mit der inneren Schranke des Kapitals ist die der Wert-Abspaltungsdynamik innewohnende Tendenz zur (Selbst-)Vernichtung verbunden. „Die Welt soll restlos in der Totalität des Werts aufgehen und darstellbar sein oder eben untergehen.“40 Der Widerspruch zwischen der metaphysischen Leere des Werts und seinem Darstellungszwang in der äußeren Welt (seiner Selbstentäußerung) enthält ein Potential der Vernichtung: ein gewöhnliches, weil der Verwertungsprozess immer Opfer fordert, und ein finales, wenn der Prozess an seine absolute Grenze stößt41.
Insofern entfernt das Insistieren auf der Singularität von Auschwitz die mit diesem Namen verbundenen Verbrechen nicht aus der Geschichte des Kapitalismus. Es waren keine Verbrechen, die aus einem vermeintlichen irrationalen ‚Jenseits’ der Geschichte der Modernisierung und ihrer Vernunft eingebrochen sind. Auschwitz wurde exekutiert auf den Grundlagen der kapitalistischen Modernisierung einschließlich ihrer Vernunft, die als Binnenrationalität an den Rahmen ihres irrationalen Selbstzwecks gebunden bleibt, und auf dem Boden der spezifisch deutschen Geschichte kapitalistischer Modernisierung. Deshalb kann die Singularität von Auschwitz nicht einer fremden Macht oder einem fremden Irrationalismus zugeordnet werden, die mit dem Kapitalismus angeblich nichts zu tun habe, sondern ist verwurzelt im bürgerlich-liberalen und aufgeklärten Denken.
4. Antisemitismus als Krisenverarbeitung
Antisemitismus ist also nicht zufällig ein steter Begleiter der Entstehungs-, Durchsetzungs- und Verlaufsgeschichte kapitalistischer Vergesellschaftung. Er kocht vor allem hoch in den Krisen, mit denen die Geschichte des Kapitalismus verbunden ist. So kommt es in der Depression von 1873-7942 zu verstärkten antisemitischen Entladungen43 und auch gegenwärtig zeigt sich antisemitische Agitation deutlich in krisengeschüttelten Ländern wie etwa in Ungarn44. Auf die Juden wurden die Züge der Moderne projiziert, die gerade in der Krise als bedrohlich erlebt wurden: „Kapitalismus, Sozialismus, Demokratie, Atheismus, Militarismus, Kosmopolitismus, Entsittlichung usw. Mit dieser Generalisierung der ‚Judenfrage’ wurden politische, soziale und ökonomische Interessengegensätze aus ihrem Kontext gelöst und zu einem prinzipiellen Gegensatz von Deutsch-Germanentum vs. Judentum gemacht.“45
Das Erstarken des Faschismus sowie der deutsche eliminatorische Antisemitismus stehen im Zusammenhang der kapitalistischen Transformationskrise im Umbruch zur Zweiten industriellen Revolution auf der Grundlage von Massenproduktion, Masseneinkommen und Massenkonsum. Sie führte zu Massenarbeitslosigkeit, da die noch nicht konkurrenzfähigen Zweige der Industrie gezwungen waren, Arbeitskräfte ‚frei zu setzen’. Aufgrund der Staatsverschuldung und des Platzens von Spekulationsblasen war es nicht möglich, die Kluft zwischen den fordistischen Innovationen an der Spitze der Entwicklung neuer Industrien und einer gesamtgesellschaftlich greifenden Durchsetzung des Fordismus zu schließen. Unter den spezifisch deutschen Bedingungen verbanden sich die Strategien der Krisenbewältigung und Durchsetzung des Fordismus mit der nationalsozialistischen Krisendiktatur, in der die Vernichtung der Juden zum Staatszweck wurde. So wurde Auschwitz „die äußerste Konsequenz des Fordismus als kapitalistischer Arbeits- und Industriereligion: die industrielle Erlösung der deutschen Blutsdemokratie durch die Vernichtung der Juden. … ‚Arbeit’ macht frei …, wenn sie von den Juden und damit von der Abstraktion ‚befreit’ ist.“46
Die aktuelle Krise des Kapitalismus besteht im Kern darin – dass infolge der mikroelektronischen Revolution – immer mehr wertschaffende Arbeit überflüssig gemacht wird und damit dem Kapital die zu seiner Akkumulation notwendige Substanz in einem Umfang entzogen wird, der – z.B. durch Ausweitung der Märkte – nicht mehr kompensiert werden kann. Die Reproduktion der kapitalistischen Gesellschaft hängt am Tropf der Finanzblasenökonomie. Aufgrund ihrer Entkoppelung von der Arbeit als realer Wertsubstanz kann sie die Akkumulation von Kapital lediglich simulieren. Sie schafft ‚Geld ohne Wert’, also Blasen, die jederzeit platzen können.
Die Verwertung von Kapital stößt auf eine logische und historische Schranke. Sie zeigt sich im weltweiten Scheitern nachholender kapitalistischer Modernisierung in zunehmenden Zusammenbruchsregionen rund um den Globus. In den Zentren erscheint die Krise vor allem in wachsender Armut, prekären Beschäftigungsverhältnissen, Sozialabbau, Finanzierungsproblemen der öffentlichen Haushalte und nicht zuletzt im (drohenden) Absturz der Mittelschichten.
In dieser Situation erweist sich der Antisemitismus wieder einmal als Instrument, die Krise und die mit ihr verbundenen Ängste vor dem eigenen Absturz zu verdrängen bzw. projektiv zu verarbeiten. Sie müssen von Menschen verarbeitet werden, die in die Form von konkurrierenden Arbeitssubjekten gepresst sind. Die Konkurrenz entscheidet, wer sein Leben nicht mehr als Arbeitssubjekt fristen kann und damit die materiellen Grundlagen seines Lebens verliert. Konkurrenz ist insofern rassistisch besetzt, als sie zwischen Verwertbaren und Nicht-Verwertbaren Menschen unterscheidet. Mit dem Antisemitismus ist sie verbunden, insofern in der Krise als ‚ultima ratio’ antisemitische Verarbeitungsmuster der Krise aktualisiert werden können.
Wirksam ist dabei wieder die Unterscheidung zwischen ‚Konkretem’ und ‚Abstraktem’. In der Krise scheinen Menschen mehr denn je mit dem System zu verschmelzen. Statt auf die gesellschaftliche Konstitution als den auch die Krise konstituierenden abstrakten Zusammenhang zu reflektieren, suchen sie ihr Heil in der falschen Unmittelbarkeit des vermeintlichen Konkreten, das aus seinem gesellschaftlichen Zusammenhang gelöst wird. Der Hass auf das ‚Abstrakte’ zeigt sich strukturell in einer Theoriefeindlichkeit, in der das ‚Konkrete’ gegen das ‚Abstrakte’ ausgespielt wird. Solche Theoriefeindlichkeit ist strukturell antisemitisch. Auch wenn sie nicht mit Juden in Verbindung gebracht wird, ist hier die antisemitische Struktur des Hasses auf das ‚Abstrakte’ und der Wille, das ‚Konkrete’ vom ‚Abstrakten’ zu befreien, wirksam.
In ähnlicher Weise kann von ‚strukturellem Antisemitismus’ da gesprochen werden, wo die Kritik des Kapitalismus auf die Kritik des Casinokapitalismus verkürzt wird. Als Folge unzureichender theoretischer Analyse werden Ursache und Wirkung verkehrt. Die Spekulationen des Finanzkapitals, die aus der Krise des Produktivkapitals, d.h. aus nicht zu verwertendem Kapital erwächst, wird zur Ursache der Krise erklärt. In falscher Unmittelbarkeit werden die Spekulanten zu den habgierigen und deshalb bösartigen Akteuren der Krise. Auch wenn von Juden nicht die Rede ist, ist hier struktureller Antisemitismus insofern wirksam, als die auf das Casino verkürzte Kapitalismuskritik an das Stereotyp vom schaffenden, konkreten und guten Kapital auf der einen und dem raffenden, abstrakten und bösen Kapital auf der anderen Seite anknüpfen kann.
Der strukturelle Antisemitismus ist begleitet von strukturellem Antiziganismus. Er erscheint in Ressentiments und im Hass auf Nicht-Arbeitende. Auch wenn von ZigeunerInnen keine Rede ist, knüpft er an die gegenüber ihnen wirksam gewordenen projektiven Mechanismen an. In gewisser Weise ist die antiziganistische komplementär zur antisemitischen Projektion: „Während ‚die Juden’ als die Exponenten und Urheber der gesellschaftlichen Modernisierung, vor allem jedoch als unverschämte Nutznießer entsprechender Emanzipationsgeschichte galten …, fungierten die so genannten Zigeuner ‚als Repräsentanten der untergegangenen Welt der Vormoderne’.“47 Als „romantischer Rassismus“48 kann er dazu dienen, ein untergegangenes Leben ohne Arbeit zu verklären. Da er aber auch „mit Vorstellungen von sozialem Elend und Verfolgung“ verbunden ist, kann er „gerade auch den einfachen Leuten“ signalisieren: „Ihr seht schon, wohin ihr kommt, wenn ihr nicht nachgebt. Es droht der Fall in die ‚Asozialität’, die Nichtintegration, den Ausschluss. In gewisser Weise könnte man vielleicht sagen: Der ‚Jude’ ist der Zigeuner der Oberschicht, und der ‚Zigeuner’ ist der ‚Jude’ der Unterschicht.“49
5. Der Staat Israel als Gegenstand antisemitischer Projektionen
Der Begriff des ‚struktureller Antisemitismus’ macht deutlich, dass antisemitische Projektionen in der gegenwärtigen Krise des Kapitalismus keineswegs erledigt sind. Sie wirken ‚strukturell’ weiter, d.h. auch ohne einen offenen Bezug auf ‚die Juden’ herzustellen.50 Die alten Phantasmata und Schuldzuweisungen richten sich unter dem Eindruck der Krise neu aus. Die Krisendynamik wirkt global. Sie wirkt sich im Zusammenbruch von Staaten und Regionen aus, die an der Integration in den Weltmarkt bzw. in ihren Projekten der Modernisierung gescheitert sind. Hinzu kommt, dass gegen die Forderung ‚politischer Korrektheit’ verstößt, wer sich ‚nach Auschwitz’ unbeschwert antisemitisch geriert. Globale Krise und Neuausrichtung des Antisemitismus rückt den Staat Israel in den Fokus antisemitischer Projektionen. Monika Schwarz-Friesel und Jehuda Reinharz konstatieren im Rahmen ihrer Untersuchung judenfeindlicher Sprache im 21. Jahrhundert:
„Im 21. Jahrhundert ist die als Israel-Kritik deklarierte, tatsächlich aber antisemitisch fundierte Umwegkommunikation, die auf Israel referiert, aber Juden allgemein meint, die dominante Verbalisierungsmanifestation für die Artikulation und Verbreitung von Judenfeindlichem Gedankengut.“51
Während ‚die Juden’ in der Zeit der Durchsetzung des Kapitalismus und der mit ihm verbundenen Nationalstaaten für die negativen Auswirkungen der Moderne verantwortlich gemacht wurden, soll nun angesichts der Krise des Kapitalismus und des Zerfalls von Staaten der Staat Israel der Grund des Übels sein:
„Tatsache ist, dass in vielen Ländern Europas die Sympathie des Publikums und in erheblichem Maße ebenso der Medien sich von Israel abgewendet hat und die Ursachen der Gewaltspirale nicht mehr in das negative Urteil über Israel einbezieht. Wenn die Rede davon ist, dass Israel mit dem Abwehrzaun gegen palästinensisches Territorium ‚das größte KZ der Welt’ errichtete, wenn das Schicksal schwangerer Frauen beklagt wird, die bei stundenlangen Grenzkontrollen des israelischen Militärs leiden müssen, wenn die Wahrnehmung auf das individuelle Leid palästinischer Familien reduziert, der Terror palästinensischer Guerillas und Selbstmordattentäter gegen ebenso unschuldige israelische Familien in den Straßen von Tel Aviv oder Jerusalem ausgeblendet wird, dann ist die Vermutung einseitiger Parteinahme wohl berechtigt.“52
Diese Zusammenhänge dürften die Feststellung von Roswitha Scholz unterstreichen, dass der Nahost-Konflikt längst „eine Stellvertreterposition im Kontext eines Unbehagens an der entpersonalisierten Globalisierung“53 eingenommen hat:
„Die Diskriminierung der Palästinenser wird dabei zur Projektionsfläche genommen, um scheinbar legitim ‚beherzt’ antizionistisch/antisemitisch sein zu dürfen und zugleich gutmenschig die Auswüchse der Globalisierung anzuprangern.“54
An Israel werden dabei besonders strenge Maßstäbe angelegt. Dies gilt im Blick auf die selektive Wahrnehmung des Nahost-Konflikts im Vergleich zu anderen Krisenherden, aber auch im Blick auf die moralische Beurteilung. In positiver Variante lässt sich als vermeintlich moralische Norm formulieren: Gerade aus ihrer Erfahrung als Opfer von Gewalt dürfen die Juden nicht selbst zu Tätern werden. In negativer Variante lässt sich eine moralische Verurteilung formulieren: Im Blick auf die Palästinenser praktiziert Israel die Selektion (Apartheid), Verfolgung, Diskriminierung und Tötung, die den Juden widerfahren ist. So werden die Opfer zu Tätern. Israel wird zur Projektionsfläche für antijüdische Emotionen, die sich im Zusammenhang mit der Parteinahme für die Feinde Israels entladen. Israel bekommt eine Stellvertreterfunktion für ein diffuses Leiden am unbegriffenen Zustand der globalisierten Welt und nicht zuletzt für die unbegriffene Krisenbedrohung, die sich in den Weltordnungskriegen ausagiert, die in den Zerfallsregionen geführt werden.55
In solchen Urteilen und Zuschreibungen agiert sich eine falsche Unmittelbarkeit von Betroffenheit und Aktionismus aus. Sie haben den Charakter moralischer Abreaktionen und gehen mit dem Verzicht auf eine kapitalismuskritische Analyse einher. Insofern zeigt sich hier wieder die Problematik von Konkretem und Abstraktem. Das Leiden der PalästinenserInnen wird vom Abstrakten, d.h. von seinen politisch-ökonomischen Zusammenhängen – von der globalen Krise des Kapitalismus und dem Zerfall von Staaten – getrennt und zum Gegenstand moralischer Empörung. Auffällig ist auch, dass das Leid der Palästinenser besonders dann moralische Empörung auslöst, wenn Israel dafür verantwortlich gemacht werden kann.56 Auch Israel wird in falscher Unmittelbarkeit ‚konkretisiert’, d.h. von abstrakter theoretischer Reflexion auf seine Geschichte und der damit verbundenen Singularität getrennt. So steht Israel – je nach Positionierung der KritikerInnen zum einen für imperialistische Machtpolitik im Kontext der Globalisierung. Zum anderen wird es – im Zusammenhang einer verkürzten Kapitalismuskritik – als Statthalter des Kapitalismus im Nahen Osten gesehen. In dieser Unmittelbarkeit bietet sich Israel als Projektionsfläche antisemitischer Stereotype geradezu an. So bewegt sich auch der Aufruf der Globalisierungskritikerin Naomi Klein, Waren aus Israel weltweit zu boykottieren, in der Nähe der Nazi-Parole ‚Kauft nicht bei Juden!’.
6. Der Doppelcharakter des Staates Israel
Möglich werden solche Projektionen, wenn der Doppelcharakter des Staates Israel konkretistisch ausgeblendet wird. Der Staat Israel ist ein kapitalistischer Staat mit allen Widersprüchen und negativen Auswirkungen, die ein kapitalistischer Staat mit sich bringt. Er unterscheidet sich jedoch von anderen kapitalistischen Staaten dadurch, dass er ein Not- und Rettungsprojekt angesichts antisemitischer Vernichtung darstellt. Er wurde gegründet als Reaktion der Juden auf den weltweiten, in Deutschland mit der Vernichtung der Juden verbundenen, Antisemitismus. Als solcher steht er „gegen den mit der kapitalistischen Reproduktionsform untrennbar verbundenen Antisemitismus“, der als Krisenverarbeitung „die letzte krisenideologische Reserve des Weltkapitals“57 darstellt. Israels Existenz steht gegen den Weg, der den Krisenkapitalismus in die Barbarei führt.
Das Paradox, eine „absolute Alterität“ darzustellen und gleichzeitig ein kapitalistischer Staat zu sein, kennzeichnet Israel als Staat. Als kapitalistischer Staat ist Israel den denselben Krisenprozessen ausgesetzt wie die übrigen kapitalistischen Staaten. Der Ausweg des Antisemitismus als Krisenverarbeitung ist jedoch verwehrt. Der antiarabische Rassismus wird zum „Notbehelf und Ersatz für die … nicht mögliche antisemitische Krisenform kapitalistischer Subjektivität“58.
6.1 Israel in der Krise des Kapitalismus
Als kapitalistischer Staat ist auch Israel im Kontext von Globalisierung und kapitalistischer Weltkrise sozialen Krisen und staatlichen Zerfallsprozessen ausgesetzt und muss diese verarbeiten. Unter dem Druck neoliberaler Globalisierung büßten die sozialen bzw. sozialistischen Elemente des Zionismus ihre Bindekraft ein. Der Verfall sozialer Zusammenhänge musste – wie auch in anderen kapitalistischen Regionen – kompensiert werden durch die Ausrichtung auf eine abstrakte Individualisierung im Kontext von Markt- und Konkurrenzzwängen. Diese Prozesse sind auch in Israel begleitet von der Suche nach Identität in religiösem und nationalem Kulturalismus. Nach innen verdrängen religiös und nationalistisch ausgerichtete Parteien und Gruppierungen den säkularen mit der Arbeiterbewegung verbundenen Zionismus. Nach außen erstarken „militante Feindseligkeit, kulturalistische Arroganz und aggressive Eroberungsideen“59, die sich in der Siedlungspolitik niederschlagen. Inzwischen organisieren sich Siedler in privaten Milizen und verselbständigen sich von der politischen Ebene. Darin spiegeln sie die Prozesse der Warlordisierung und Paramilitarisierung wider, die charakteristisch für den Zerfall von Staaten im Kapitalismus sind. In Analogie dazu kann auch das Vorgehen von Teilen der israelischen Armee in den Palästinensergebieten im Zusammenhang der weltweiten Plünderungsökonomien verstanden werden.
Verschärft werden die innergesellschaftlichen Probleme einer kapitalistischen Krisengesellschaft durch Einwanderungsschübe von asiatisch-afrikanischen Immigranten und vor allem aus den GUS-Staaten mit wirklicher oder gefälschter jüdischer Herkunft. „Was sie mitbringen und neu orientieren, ist der ganz gewöhnliche säkulare Rassismus kapitalistischer Unterschichten.“60 Der mitgebrachte Hass speiste sich aus dem Hass auf ‚Schwarze’ aus den mittelasiatischen und transkaukasischen südlichen Republiken. Nun richtet er sich auf PalästinenserInnen und Muslime.
Rassismus, säkularer Nationalismus sowie religiöser Fundamentalismus verschmelzen miteinander zu neo-messianischen und theokratischen Bewegungen für ein halluziniertes Groß-Israel. Deren Gewaltpotentiale richten sich auch gegen die säkulare Linke in Israel. Sie erreichten einen Höhepunkt in der Ermordung Rabins, dem eine lange Hetzkampagne vorausgegangen war. „Analog zur globalen Amok-Kultur mit ihrer Verbindung von Aggression und Selbstvernichtung brütete die theokratisch-nationalistische Rechte auch dieselbe Rechtfertigung des Selbstmordattentats aus wie die Islamisten“61. Dabei wurden religiöse Begriffe militant umgedeutet und das ‚Selbstopfer’ als höchster Ausdruck religiöser Überzeugung gepriesen.
6.2 Die besondere Bedrohung Israels
Die sich verschlechternde Sicherheitslage Israels nach außen wird in den Kriegen deutlich, die Israel gegen die Hisbollah im Libanon und wenige Jahre später gegen die Hamas im Gaza-Streifen führte62. Bei beiden Bewegungen geht es nicht einfach um territoriale Ansprüche oder definierbare politische Interessen. Vielmehr verbindet sich die Selbstlegitimation dieser Bewegungen mit einem militanten Antisemitismus. Ihr offen erklärtes oberstes Ziel ist die Vernichtung Israels. Zu diesem Zweck haben sie sich aufgerüstet. Unterstützt wurden sie vom Iran, der seinerseits Israel durch sein Atomwaffenprogramm bedroht63 und der die Milizen von Hisbollah und Hamas auch mit präzisen Waffen, Boden-Luft-Raketen etc. ausgerüstet hat, die immer größere Teile Israels erreichen können. Sie operieren im Rahmen einer nur schwachen Souveränität des Libanon und der palästinensischen Autonomiebehörde. Gegen diese Bedrohungen setzt sich Israel im Krieg militärisch zur Wehr.64
Wer angesichts dieser Situation Israel die Schuld für diese prekäre Lage zuweist, bedient antisemitische Stereotypen, z.B. das Stereotyp, Israel sei selbst am Antisemitismus schuld. Er verkennt die für Israel gefährliche Machtverschiebung im Nahen Osten. Die aufgerüsteten Hisbollah und Hamas und die Feindseligkeit der Staaten rund um Israel im Nahen und Mittleren Osten – z.T. verbunden mit der offenen Vernichtungsdrohung – stellen eine neue Bedrohungsqualität dar gegenüber den Ansprüchen und Aktionen der Fatah bzw. PLO. In die Gefahren antisemitischer Stereotypen gerät, wer den zu kritisierenden Rechtsruck in Israel für das militärische Vorgehen Israels verantwortlich macht. Er weist einer zu kritisierenden innergesellschaftlichen Entwicklung die Schuld an einer Situation zu, die nicht Israel zu verantworten hat, sondern diejenigen, die Israel mit Vernichtung bedrohen. Ähnlich verhält es sich mit der Kritik an rassistisch motivierten Gräueltaten, die im Rahmen der Kriegführung verübt wurden. Wer sie – zu Recht – verurteilt, darf nicht übersehen, dass es sich dabei um eine Kritik an der Art der Kriegführung handelt, nicht um eine Infragestellung des Kriegsgrundes.
7. Versuch eines Fazits
Der Doppelcharakter des Staates Israel besteht darin, dass er einerseits kapitalistischer Staat mit allen Krisen und Zerfallserscheinungen im Kontext der Globalisierung ist, andererseits aber den immanenten Gegensatz zum Antisemitismus der Moderne darstellt, verbunden damit, dass Israel zum Zufluchtsort vom Antisemitismus bedrohter Juden und Jüdinnen wird. Letzteres ist nach Robert Kurz in zweifacher Weise bedroht:
Zum einen machen Selbstmordattentate, Raketenüberfälle, das Bewusstsein, von Feinden umgeben zu sein, aus einem Zufluchtsort einen Ort existentieller Unsicherheit. Zum anderen erschüttern innere Verhärtungen das gesellschaftliche Zusammenleben: der Einfluss nationalistischer und ultra-orthodoxer Fanatiker im Kontext der Weltkrise und ihren verschärfenden sozialen und ökonomischen Folgen sowie der Verteidigung in einer feindlichen Umwelt nimmt zu.65
So dürfte sich das Phänomen weiter verschärfen, das Robert Kurz bereits im ‚Weltordnungskrieg’ beschrieben hatte: der Auszug säkularer Juden aus dem vermeintlichen Zufluchtsort – „davongetrieben sowohl von palästinensischen Terrorkommandos als auch von der unheimlichen Allianz aus religiösen Fanatikern, Ultra-Nationalisten, Ethnopolitikern und säkularen Rassisten“66.
Nur wenn es gelingt, vor dem Hintergrund des Antisemitismus den Doppelcharakter des Staates Israel im Kontext der Weltkrise des Kapitals zum Gegenstand der Reflexion und zur Grundlage der Beurteilung wirtschaftlicher, politischer und militärischer Situationen zu machen, kann es gelingen, einen Standpunkt jenseits von Antizionismus und Antideutschtum zu entwickeln67. Es käme auf die Reflexion des Ganzen, d.h. des Konflikts im Rahmen des Kapitalverhältnisses angesichts der logischen und historischen Schranke der Verwertung an. Nur aus dieser Reflexion heraus lassen sich emanzipatorische Perspektiven gewinnen, d.h. Perspektiven, die den Formzusammenhang kapitalistischer Vergesellschaftung sprengen.
Dabei darf das Existenzrecht des Staates Israel nicht zur Disposition gestellt werden. Dies ergibt sich aus seinem Doppelcharakter: Auch als kapitalistischer Staat mit all seinen Widersprüchen bleibt Israel Zufluchtsort gegen Antisemitismus und gegen das mit ihm verbundene Vernichtungspotential. Notwendig ist eine Verteidigung des säkularen Israel – trotz aller Widersprüche – gegen die theokratischen und rassistischen Ultras.
Im Blick auf das Leiden der palästinensischen Bevölkerung käme es darauf an, Lebens- und Überlebensperspektiven zu fordern wie Zugang zu Wasser, Freizügigkeit der Bevölkerung etc. und emanzipatorische Perspektiven jenseits der zerfallenden Staatsform zu entwickeln. Entsprechende Forderungen müssten in die Richtung einer genossenschaftlichen Selbstverwaltung auf gesamtgesellschaftlicher Ebene ‚jenseits von Markt und Staat’ zielen. Dies impliziert auch eine Kritik nationalistisch ausgerichteter israelischer Siedlungspolitik.
Null-Toleranz und Null-Verständnis kann es für islamistische Terrororganisationen und ihre Selbstmordattentate geben. Sie stellen keine Notwehr der Unterlegenen dar. Noch weniger ist in ihnen auch nur der Hauch einer emanzipatorischen Perspektive zu erkennen. Dies impliziert die Kritik barbarischer Terroraktionen und aller Versuche, einen barbarischen Terrorstaat zu errichten. Dabei ist jede Verharmlosung islamistischen Terrors aufs Schärfste zu verurteilen. Eine Kritik islamistischen Terrors muss aber untrennbar einhergehen mit einer Kritik der perspektivlosen westlichen Versuche, die Krise des Kapitalismus zu verwalten – sei es durch Sozialabbau, dem Kampf gegen Flüchtlinge als Opfer der Krise einschließlich deren Internierung in Lagern bis bin zu all den Kriegen, die mit der sinnlosen Perspektive und in der Illusion geführt werden, dem Zerfall des Weltsystems ‚Herr’ werden zu können.
8. Zu aktuellen Problemlagen
Zur aktuellen Situation drei Beispiele, die in einem Leitartikel des ‚Kölner Stadt-Anzeiger‘ vom 7. Oktober erwähnt werden: „Anfang September wurde ein jüdischer Student vor einer Hamburger Synagoge mit einem Spaten angegriffen und verletzt. Wenige Tage später kam es in Berlin beim Spiel des 1. FC Union Berlin gegen den israelischen Klub Maccabi Haifa zu antisemitischen Beleidigungen der Gäste. Am Dienstag sind in der NS-Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau neun historische Gebäude mit judenfeindlichen Parolen beschmiert worden…“68.
Der Antisemitismus wirkt latent und manifest. So wie er mit der Durchsetzungsgeschichte der Moderne verbunden ist so auch mit seiner Krise. In der Krise des Kapitalismus kommt es zu einem verschärften Konkurrenzkampf der Individuen, die sich in Prozessen der Selbstoptimierung den Krisenverhältnissen ‚eigenverantwortlich‘ anpassen sollen. Wer scheitert, wird aus dem Rennen geworfen. Scheitern und Ausgrenzung gehört zur Struktur des Kapitalismus. In der Krisengesellschaft reichen diese Erfahrungen bis weit hinein in die vom Absturz bedrohten Mittelschichten69. Von diesen Krisenerfahrungen ist der Antisemitismus nicht zu trennen.
Diese Situation wird aktuell dadurch zugespitzt, dass sich das Corona-Virus über die bereits existierenden Krisenverhältnisse legt und Ausschlusserfahrungen verschärft – sowohl von Kommunikation als auch von den Verhältnisse entlastenden Events. Dies bietet einen zusätzlichen Nährboden für antisemitische Wahnideen. Ausgrenzung kann nun auf die Maßnahmen gegen das Virus projiziert werden und ‚Juden‘ als Schuldige, sprich als Drahtzieher der Pandemie in Medien, Pharmakonzernen, Politik und Wissenschaft ausgemacht werden. Solche Verschwörungsphantasien reduzieren Komplexität, beseitigen Ungewissheit und binden Angst und Aggression. Dabei kommt es auch zu einer die Vernichtung der Juden verharmlosenden Verkehrung von Opfern und Tätern, wenn von Demonstranten gegen die Coronamaßnahmen der Davidstern mit der Aufschrift „ungeimpft“ getragen wird.
Nicht nur an den vermeintlichen Rändern der Gesellschaft sind antisemitische Problemlagen wirksam. Die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft stellte während des Wahlkampfs Analena Baerbock als Mose-Figur dar. Sie hält die 10-Gebote in der Hand. Den religiös fundierten Antijudaismus aufgreifend wird hier auf die angebliche jüdische Gebots- bzw. Verbotsmoral angespielt und dagegen die vermeintliche Freiheit in Stellung gebracht.
Herbert Böttcher
1 Peter Schäfer, Kurze Geschichte des des Antisemitismus, München 2020, 19ff, 43ff, 121ff.
2 Ebd., 124
3 Ebd., 176.
4 Ebd., 182.
5 Herbert Böttcher, Emanzipation durch Befreiung der Arbeit vom Kapital? Kritik der positiven Bewertung von Arbeit in theologischem Denken, in: Theologie und Glaube, 1/2021, 52-69, 53.
6 Wolfgang Benz, Was ist Antisemitismus? München 2/2005, 239.
7 Ebd.
8 Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Bd. 1 (MEW 23), Berlin 1890, 168.
9 Robert Kurz, Die Substanz des Kapitals. Abstrakte Arbeit als gesellschaftliche Realmetaphysik und die absolute innere Schranke des Kapitals. Zweiter Teil, in: exit! Krise und Kritik der Warengesellschaft, 2/2005, 209f.
10 Vgl. Robert Kurz, Blutige Vernunft, Essays zur emanzipatorischen Kritik der kapitalistischen Moderne und ihrer westlichen Werte, Bad Honnef 2004, 23f.
11 Papst Franziskus, Die Freude des Evangeliums. Das Apostolische Schreiben ‚Evangelii gaudium’ über die Verkündigung des Evangeliums in der Welt von heute, Freiburg 2013, Nr. 55, S. 97.
12 Ebd.
13 Vgl. Moishe Postone, Antisemitismus und Nationalsozialismus, in: ders., Deutschland, die Linke und der Holocaust, Freiburg 2005, 165-194.
14 Ebd., 189.
15 Robert Kurz, Schwarzbuch Kapitalismus. Ein Abgesang auf die Marktwirtschaft, Frankfurt am Main 1999, 483.
16 Henry Ford, Der internationale Jude, Leipzig 1922, 152, zitiert nach Kurz, Schwarzbuch, 483.
17 Postone, Antisemitismus, 189.
18 Ebd., 190.
19 Ebd.
20 Vgl. Michael Mallmann, Martin Cüppers, Halbmond und Hakenkreuz. Das Dritte Reich, die Araber und Palästina, Darmstadt 3/2011, 20; vgl, auch Benz, Was ist Antisemitismus, 174ff
21 Gustav Gundlach, Antisemitismus, in LThK I, 1930.
22 Vgl. Benz, Was ist Antisemitismus? 187ff. Vgl. auch: Carmen Matussek, Der Glaube an die „jüdische Weltverschwörung“ – Die Rezeption der „Protokolle der Weisen von Zion“ in der arabischen Welt, Münster 2012, sowie: Robert S. Wistrich, Muslimischer Antisemitismus – Eine aktuelle Gefahr, Berlin 2011.
23 Vgl. Alex Feuerherdt, „Das bestgehütete Geheimnis“, in Konkret 1/2014,26f.
24 Postone, Antisemitismus, 192.
25 W. D. Hund, Das Zigeuner-Gen. Rassistische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: Ders. (Hg.), Zigeuner. Geschichte und Struktur einer rassistischen Konstruktion, Duisburg, 11-35.
26 Robert Kurz, Geld und Antisemitismus. Der strukturelle Wahn in der warenproduzierenden Moderne, in: ders., Weltkrise und Ignoranz. Kapitalismus im Niedergang, Berlin 2013, 68-87, 78.
27 Zitiert bei Schäfer (Anm. 1), 216.
28 Vgl. ebd., 244ff.
29 Vgl. Kurz, Schwarzbuch (Anm. 10), 294ff.
30 Schäfer (Anm. 1), 217.
31 Schwarzbuch (Anm. 10), 297f.
32 Vgl. Schäfer (Anm. 1), 236ff.
33 Vgl. Wolfgang Bergmann, Geschichte des Antisemitismus, München 4/2010, 40f.
34 Vgl. Robert Kurz, Geld und Antisemitismus. Der strukturelle Wahn in der warenproduzierenden Moderne, in: ders., Weltkrise und Ignoranz. Kapitalismus im Niedergang, Berlin 2013, 68-87, 83.
35 Vgl. Kurz, Schwarzbuch Kapitalismus, 488ff. Siehe auch: Peter, Alter; Claus-Ekkehard Bärsch; Peter Berghoff (Hrsg.), Die Konstruktion der Nation gegen die Juden, München 1999.
36 Ebd., 84.
37 Postone, Antisemitismus, 193.
38 Kurz, Geld und Antisemitismus, 84.
39 Kurz, Schwarzbuch, 570.
40 Robert Kurz, Blutige Vernunft, 33.
41 Vgl. Robert Kurz, Weltordnungskrieg. Das Ende der Souveränität und die Wandlungen des Imperialismus im Zeitalter der Globalisierung, Bad Honnef 2003, 68-74.
42 Zu deren ökonomischen Zusammenhängen vgl. Kurz, Schwarzbuch, 219-227.
43 Bergmann, Geschichte des Antisemitismus, 40ff.
44 Vgl. z.B Tomas Konicz, Der ewige Soros, Telepolis vom 1.4.2018, https://www.heise.de/tp/features/Der-ewige-Soros-4004513.html.
45 Ebd., 42f.
46 Kurz, Schwarzbuch, 493.
47 Holger Schatz, Andrea Woeldike, Freiheit und Wahn deutscher Arbeit. Zur historischen Aktualität einer folgenreichen antisemitischen Projektion, Hamburg/Münster 2001, 123.
48 Roswitha Scholz, Homo sacer und ‚die Zigeuner’. Antiziganismus. Überlegungen zu einer wesentlichen und deshalb vergessenen Variante des Rassismus, in: exit! Krise und Kritik der Warengesellschaft, 4/2007, 177-227, 197.
49 Ebd.
50 Vgl. Robert Kurz, Das Weltkapital. Globalisierung und innere Schranken des modernen warenproduzierenden Systems, Berlin 2005, 342ff.
51 Monika Schwarz-Friesel, Jehuda Reinharz, Die Sprache der Judenfeindschaft im 21. Jahrhundert. Europäisch-jüdische Studien Beiträge, herausgegeben vom Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien, Potsdam, in Verbindung mit dem Zentrum jüdische Studien Berlin Brandenburg, Berlin 2013, 195.
52 Bens, Was ist Antisemitismus? 201f.
53 Roswitha Scholz, Differenzen der Krise – Krise der Differenzen. Die neue Gesellschaftskritik im globalen Zeitalter und der Zusammenhang von ‚Rasse’, Klasse, Geschlecht und postmoderner Individualisierung, Bad Honnef 2005, 111.
54 Ebd.
55 Vgl. Kurz, Weltordnungskrieg.
56 Offensichtlich werden andere Maßstäbe der Empörung angelegt, wenn z.B. Assad Palästinenser nahe Damaskus bombardieren lässt, oder allerhand arabische Regime diese Menschen in sog. Flüchtlingslagern vegetieren lassen, anstatt sie zu integrieren, um sie so als Manövriermasse gegen Israel zu benutzen.
57 Vgl. Kurz, Weltordnungskrieg, 133.
58 Ebd., 139.
59 Ebd. 141.
60 Ebd., 140.
61 Ebd., 146.
62 Vgl. Robert Kurz, Die Kindermörder von Gaza. Eine Operation „Gegossenes Blei“ für die empfindsamen Herzen, in: exit! Krise und Kritik der Warengesellschaft 6/2009, 185-242, vor allem 203-207.
63 Zur Ideologie des Iran, siehe: Wahied Wahdat-Hagh, Der islamistische Totalitarismus. Über Antisemitismus, Anti-Bahaismus, Christenverfolgung und geschlechtsspezifische Apartheid in der „Islamischen Republik Iran“, Frankfurt 2012.
64 Auf die weitere Entwicklung der letzten Jahre (v. a. Syrien-Krieg und IS) kann hier nicht weiter eingegangen werden.
65 Kurz, Kindermörder von Gaza, 196f.
66 Kurz, Weltordnungskrieg, 153.
67Vgl. Robert Kurz, Die antideutsche Ideologie. Vom Antifaschismus zum Krisenimperialismus: Kritik des neuesten linksdeutschen Sektenwesens in seinen theoretischen Propheten, Münster 2003, 204ff.
68Kölner Stadt-Anzeiger vom 7. Oktober 2021.
69Vgl. Roswitha Scholz, Überflüssig sein und Mittelschicht Angst, in: EXIT! Krise und Kritik der Warengesellschaft 5/2008, 58-104, 88ff.