Wer bietet mehr (Lockerungen)? – Irrer geht‘s kaum noch…

Bei den Lockerungen zwecks Rückkehr zur kapitalistischen Normalität gibt es kein Halten mehr. Die Ministerpräsidenten in den einzelnen Bundesländern überbieten sich mit Lockerungsübungen. Politiker_innen geben wirtschaftlichem und psychologischem Druck nach und/oder bauen welchen auf. Mit der pauschalen Diskreditierung von Virolog_innen hat sich offensichtlich eine inhaltliche Auseinandersetzung mit virologischer Expertise erledigt. Aus der FDP war zu hören, dass nicht ausgelastete Krankenhäuser der Beweis dafür seien, dass ‚die Virologen‘ Horrorszenarien an die Wand gemalt hätten. Da braucht kein Gedanke mehr darauf verschwendet zu werden, dass die Horrorszenarien vermieden werden konnten, weil die Politik – auch unter dem Druck der Bilder aus Italien und Spanien – aus Erkenntnissen von Virolog_innen richtige Schlüsse gezogen hatte. Bei manchen wird der Wirrsinn noch gemixt mit verschwörungstheoretischen Annahmen. Reflexions- und Theoriefeindlichkeit treiben immer neue Blüten.

An die Stelle einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit unterschiedlichen wissenschaftlichen Erkenntnissen treten Bauchgefühl und ein vermeintlich ‚gesunder Menschenverstand‘. Das Publikum will Freiheit, ‚freie Fahrt für freie Bürger‘ in kapitalistischer Normalität. Dazu gehören gehören Geschäfte, Shoppingmalls, Möbelhäuser … und nicht zuletzt die Angebote der Unterhaltungs- und Eventindustrie, einschließlich der von den Ministerpräsidenten besonders umsorgten Fußballbundesliga. Über den Verkauf ihrer Spiele an das Bezahlfernsehen hat sie viele Fans ausgeschlossen, jetzt aber hebt sie ihre soziale Bedeutung für den Zusammenhalt der Gesellschaft hervor.

Das alles kann nicht mehr warten, weil die Wirtschaft wieder losgehen soll, aber auch weil viele es bei dem esoterisch so hochgelobten Selbst nicht aushalten und vor der eigenen Leere flüchten. Das ‚autonome Subjekt‘ hält die Kränkungen durch die Einschränkungen nicht mehr aus und drängt in narzisstischem Größenwahn darauf auszubrechen, um zur Normalität der ‚autonomen‘ Unterwerfung unter den kapitalistischen Normalzustand zurückkehren zu können. Dafür sollen Lehrerinnen und Lehrer und vor allem Erzieherinnen und Erzieher wieder ihre Job machen, und ausgerechnet die FDP sorgt sich um soziale Benachteiligung bei der Bildung. Und wenn pädagogische Berufsorganisationen vor gesundheitlichen Gefahren warnen und die Fürsorgepflicht der Arbeitgeber einklagen, laufen sie Gefahr, dass ihre Klientel als unflexibel, asozial und unsolidarisch diskreditiert wird. Das Chaos, das mit dem Hochfahren von Schulen und Kitas angerichtet wird, spielt keine Rolle. In Rheinland-Pfalz wurde inzwischen von den beiden ersten Corona-Fällen in den geöffneten Schulen berichtet.

Orte, wo Lockerungen am dringendsten wären, stehen auf der politischen Agenda auf den Abstiegsplätzen. Es fehlt an Konzepten, Tests und Material wie Mundschutz und Kittel für sichere Besuche in Alten-, Pflegeheime und auf den Intensivstationen. Und bis jetzt haben wir noch keinen Gedanken verloren über die Widersprüche zwischen der Ignoranz gegenüber den armen Ländern und dem Anstieg der deutschen Kriegswaffenexporte, zwischen dem Rückgang der Stickoxide und dem Drängen der Autoindustrie auf Kaufprämien und Konjunkturhilfen.

Nicht das Leben ist absolut, wie Bundestagspräsident Schäuble – assistiert von Sarrazin bis hin zu den Grünen – zu berichten wusste, wohl aber die Rückkehr zur kapitalistischen Normalität. Wohin sie führt, zeigt als Beispiel auch dieser Text auf spiegel.de sowie weitere Texte unter https://www.oekumenisches-netz.de/2020/05/links-zu-corona/.

Herbert Böttcher