Auslegung zum Sonntagsevangelium des 3. Sonntags der Osterzeit

Lk 24,13-35: Die Flucht vor der Katastrophe

Die beiden Jünger fliehen von dem Ort, an dem sich die Katastrophe ereignet hatte. Zurzeit Jesu ist es die Kreuzigung des Messias; zur Zeit des Lukas (ca. 80 n. Chr.) ist es die Zerstörung Jerusalems durch den jüdisch-römischen Krieg, der zur Zerstörung Jerusalems und zu  Vertreibung und Flucht der Juden geführt hatte. Beide Zeiten sind in der Geschichte miteinander verbunden. Jerusalem ist zu einem solchen Ort des Schreckens geworden, dass auch Jesu Jüngerinnen und Jünger vor diesem Ort nur die Flucht ergreifen können. Auch auf der Flucht können sie jedoch die schrecklichen Ereignisse nicht einfach hinter sich lassen. Sie halten sie in ihrem Bann. Und so können sie nicht anders, als miteinander über die schrecklichen Ereignisse zu sprechen und ihre Gedanken auszutauschen (V. 14f).

Eine überraschende Unterbrechung: die Schrift (VV. 15ff)

Dabei geschieht jedoch etwas, das sie überrascht: Ein Fremder taucht auf und mischt sich fragend in ihr Gespräch. Vor dem Fremden können sie die Katastrophe, die sie erlebt hatten, noch einmal zur Sprache bringen: die Kreuzigung des Messias und das Scheitern aller messianischen Hoffnungen. Eine unterbrechende Wende bekommt das Gespräch mit dem Hinweis auf die Schrift, d.h. auf die Bibel der Juden. Sie besteht aus der Tora, dem Gesetz als Weisung Gottes für die Wege der Befreiung, den Propheten, die immer wieder Abwege zu Unrecht und Gewalt kritisieren und auf den Weg der Befreiung zurückrufen, sowie aus den geschichtlichen Büchern, die Ereignisse aus der Geschichte Israels erzählen. Der Fremde verweist vor allem auf Mose und die Propheten. Mose steht für den Weg der Befreiung und die Gabe der Tora, die Propheten für die Unterscheidung zwischen dem Gott der Befreiung und den Götzen des Unrechts und der Gewalt.

Aus der Schrift, d.h. aus den Erfahrungen, die sie erzählt, hätten sie sehen können, dass der Messias nicht ein siegreicher Triumphator, ein erfolgreicher und strahlender Held ist. Wer Wege der Befreiung geht, gerät unweigerlich in Konflikte mit denen, die die herrschende Ordnung aufrecht und die Menschen, vor allem die Armen, klein halten wollen. Das hatten vor allem die Propheten, die sich als ‚Knechte Gottes’ in den Dienst des Gottes der Befreiung gestellt hatten, erfahren. Sie wurden Opfer der Verfolgung durch die eigene und fremde politische Macht. In der ‚Logik’ dieser Geschichte ‚musste’ auch der Messias leiden.

Aber es gab auch bereits die Hoffnung auf die Auferstehung der Toten. Sie hatte sich am Schicksal derer entzündet, die zur Zeit der griechischen Herrschaft (ca. 150 Jahre v. Chr.) den Machthabern die Stirn geboten hatten und hingerichtet worden waren. Für gläubige Juden, die darüber nachdachten, konnte es nicht sein, dass Gott denen seine Treue und Solidarität verweigert, die ihm und seinen Wegen der Befreiung bis in den Tod die Treue gehalten hatten. An diesem Nachdenken entzündete sich die Hoffnung auf die Auferstehung derer am Ende der Tage, die Gott im Einsatz für Gerechtigkeit und Befreiung bis in den Tod treu geblieben waren. Wenn dem so ist, dann hält Israels Gott erst recht seinem gekreuzigten Messias die Treue und befreit ihn zum Leben – nicht erst am Ende der Tage, sondern jetzt. So kann er zum Zeichen dafür werden, dass Gerechtigkeit und Befreiung jetzt schon mitten in einer Geschichte voller Katastrophen einbrechen und messianische Wege der Befreiung eröffnen. Dass Gott das ‚letzte Wort’ behält, zeigt sich darin, dass er den Gekreuzigten aufrichtet und ihn zum Anfang eines neuen Lebens macht, das in der messianischen Praxis der Christengemeinden jetzt schon Wirklichkeit werden will und allen offen steht, die nach Auswegen aus Unrecht und Gewalt suchen. Aber soweit waren die flüchtenden und verstörten Jüngerinnen und Jünger noch nicht.

Das Brechen des Brotes

Erst beim Brechen des Brotes „gingen ihnen die Augen auf, und sie erkannten ihn“ (V. 30). Das ist kein Zufall; denn das Brechen des Brotes ist ein Zeichen, in dem deutlich wird, worum es dem Messias Jesus geht, wofür er sein Leben eingesetzt hat: Alle sollen satt und des Lebens froh werden. Niemand darf hungrig und traurig bleiben. Alle sollen im Teilen des Brotes erfahren können, dass sie angesehen und anerkannt sind. Niemand soll am Rand oder über den anderen stehen. Deshalb hatte Jesus am Abend vor seinem Tod sein Leben im Zeichen des Brotes gedeutet und gesagt: Das ist mein Leib. D.h. Im Teilen des Brotes bin ich bei euch und unter euch lebendig. Wo Menschen sich dafür einsetzen, dass alle Zugang zu dem haben, was sie zum Leben brauchen; wo Menschen für eine Gesellschaft kämpfen, in der sich Menschen als freie und gleiche begegnen, da ist die messianische Welt jetzt schon lebendig. Als sie diese Zusammenhänge und damit den Sinn der Schrift zu erkennen beginnen, da brennt ihr Herz (V. 32). So kann es möglich werden, dass sie Feuer und Flamme für den Messias Jesus und für Gottes messianische Welt werden. Aber so weit ist es immer noch nicht.

Umkehr: Zurück nach Jerusalem

Sie brachen zwar noch „in derselben Stunde … auf und kehrten nach Jerusalem zurück“ (V. 33); sie finden auch schon zum Bekenntnis der Auferstehung des Gekreuzigten: „Der Herr ist wirklich auferstanden…“ (V. 34). Aber die Umkehr hat noch nicht ihr Ziel erreicht. Es muss noch einiges geschehen, damit sie aufstehen können und die messianische Praxis der Befreiung in einer Gemeinschaft aus Juden und Nicht-Juden, d.h. aus Menschen aller Völker Wirklichkeit werden kann.

Ihre Trauer und Niedergeschlagenheit ist noch nicht überwunden. Auch mit der Auferstehung des Gekreuzigten ist „das Reich für Israel“ noch nicht wieder hergestellt (Apg 1,6). Im Gegenteil: Die neue Katastrophe des Krieges der Römer gegen die Juden, die um Befreiung von der römischen Herrschaft kämpfen, bricht herein. Und da erfahren die Anhänger des Messias schmerzlich, dass sie trotz Jesu Auferstehung vom Messias Jesus getrennt sind. Er ist „in den Himmel aufgenommen“ (Apg 1,11) worden. Damit scheint er ihnen entzogen. Wie können sie dann Zeugen von Gottes neuer Welt sein, Zeugen des Messias „in Jerusalem und in ganz Judäa und Samarien bis an die Grenzen der Erde“ (Apg 1,8)? Wie soll angesichts der Katastrophe noch ‚geschehen’, was der Name Gottes versprochen und im Messias Jesus hatte Wirklichkeit werden lassen?

Und noch einmal zurück nach Jerusalem

Vom Ölberg, von dem Jesus den Jüngern in den Himmel weg genommen worden war, müssen sie noch einmal zurück nach Jerusalem. Noch haben sich die Tage nicht erfüllt. Gemeint sind die 50 Tage, bis Pfingsten ist, das Fest der Tora, das 50 Tage nach Pascha, dem Fest der Befreiung, gefeiert wird. In Jerusalem sind sie im „Obergemach“ versammelt (Apg 1,13), dem Ort, an dem sie das Paschafest gefeiert und an dem Jesus im Brechen des Brotes sein Leben gedeutet hatte. „Sie alle verharrten dort einmütig im Gebet…“ (Apg 1,14)

Beten beinhaltet Unterbrechung und Umkehr. Unterbrochen wird der sog. Lauf der Dinge und seine Selbstverständlichkeiten und eingetaucht wird in die Welt Gottes. Im Gebet wird sie ‚verinnerlicht’. Wer betet, den soll nicht mehr die Welt des Unrechts und der Gewalt, der Verzweiflung und Resignation bestimmen. Er will sich Gottes Welt der Gerechtigkeit und Befreiung ‚zu eigen’ machen. Die Leidenschaft für diese Welt soll in ihm brennen. Genau dies öffnet die Augen für die Realitäten des Unrechts und der Gewalt, macht empfindsam für das, was Menschen zu erleiden haben, treibt zum Denken, zur Erkenntnis von Ursachen und Zusammenhängen von Unrecht und Gewalt, von Leid und Tod. Dann wird es möglich, sich den Katastrophen zu stellen, den Mund auf zu machen statt ängstlich zu schweigen, aufzustehen, zu widerstehen, statt resigniert vor der Wirklichkeit zu fliehen. Es wird möglich, Wege der Befreiung zu gehen – in der Hoffnung, dass „dieser Jesus, der von euch ging und in den Himmel aufgenommen wurde“, ebenso wiederkommen wird, „wie ihr ihn habt hingehen sehen“ (Apg 1,11). Und mit ihm wird Gottes neue Welt endgültig zum Durchbruch kommen. Dieser Welt gilt es entgegenzugehen, sie mitten in all den Katastrophen jetzt schon ‚geschehen’ zu lassen. Das wird erst mit Pfingsten möglich sein. Vorher gilt es, in Jerusalem zu bleiben, sich mit der Schrift auseinander zu setzen und zu beten. Dann erst kann von Jerusalem, von Israels Gott, den die Schrift bezeugt und mit dessen Geist der Messias gesalbt ist, die Praxis und Botschaft messianischer Befreiung ausgehen, die alle Menschen erfassen und deren Frucht allen Menschengeschwistern zuteil werden soll.