Von Gerd Bedszent (Quelle: junge Welt)
Es ist eher selten, dass sich anerkannte Naturwissenschaftler auf das vergleichsweise schwierige Gebiet der Ökonomiekritik wagen. Und dass ein namhafter Mathematiker als Fortführer marxistischer Theorieansätze Aufsehen erregt, dürfte zu den ganz großen Ausnahmen gehören. Claus Peter Ortlieb (1947–2019) war von 1985 bis 2011 Professor für Mathematik an der Universität Hamburg. Ortlieb gehörte dem vom marxistischen Philosophen und Publizisten Robert Kurz maßgeblich geprägten Diskussionszirkel »Exit!« an und war lange Zeit Redakteur der gleichnamigen Theoriezeitschrift. Seine wichtigsten Texte hat der Schmetterling-Verlag kürzlich unter dem Titel »Zur Kritik des modernen Fetischismus« in Buchform herausgebracht.
Der Sammelband ist eine thematisch geordnete und kommentierte Zusammenstellung von Essays, Kommentaren und Interviews, von denen die meisten zwischen 1997 und 2015 in verschiedenen Zeitungen, Zeitschriften und Theoriebänden erschienen sind. In der kurzen, aber lesenswerten Einleitung vertritt der Autor die These, dass der ganz alltägliche Wahnsinn der kapitalistischen Gesellschaft letztlich fetischistisch geprägt ist.
Ortlieb liefert in mehreren Beiträgen Belege dafür, dass die bürgerliche Volkswirtschaftslehre auf einer Mogelpackung beruht. Diese klassische Ökonomie – welche Ortlieb unter Bezug auf Karl Marx als »Vulgärökonomie« bezeichnet – galt bereits in den 1930er Jahren als gescheitert. Letztlich beruht sie nämlich ausschließlich auf Modellannahmen, die die realen gesellschaftlichen Verhältnisse nur unzureichend widerspiegeln, auch nicht vollständig widerspiegeln können und sich zudem häufig auch noch widersprechen.
Die Ursache für den vermeintlichen Siegeszug der bürgerlichen Neoklassik nach dem Niedergang des Keynesianismus liege, so Ortlieb, ausschließlich in dessen scheinbarer Perspektivlosigkeit begründet. Die längst bekannten und kritisierten Defizite der klassischen Volkswirtschaftslehre würden von deren Protagonisten nämlich nicht nach wissenschaftlichen Kriterien aufgearbeitet, sondern schlicht ignoriert. Es handelt sich somit nicht um eine ernstzunehmende Wissenschaft, sondern um reine Ideologieproduktion. Ortlieb charakterisiert die Neoklassik daher in einem seiner Beiträge als »Weltreligion« oder auch als »Wahnsystem«. Sie würde an den Universitäten von einer eingefleischten Bruderschaft von Gläubigen gelehrt, die jede Art von Kritik als Ketzerei verdammten.
In weiteren Beiträgen des Bandes analysiert Ortlieb den Begriff »Fetisch«. Karl Marx habe die Bezeichnung »Fetischcharakter der Ware« zwar nur geprägt, um die komplizierten Verhältnisse der Warengesellschaft verständlich darstellen zu können, mit dieser Metapher aber gleichzeitig den Begriff ungeheuer ausgedehnt. Der Fetischcharakter einer Gesellschaft zeige sich darin, dass die Menschen die Regelung ihrer ureigenen Angelegenheiten äußeren, wenn auch von ihnen selbst geschaffenen Instanzen überließen. Und in der modernen kapitalistischen Gesellschaft sei dies eben primär die Instanz »Ware«. Der Unterschied zwischen frühen und der modernen kapitalistischen Gesellschaft besteht darin, dass die frühen, religiös bestimmten Fetischverhältnisse durch diesen alles bestimmenden Warenfetisch abgelöst wurden.
In mehreren Texten beschäftigte sich der Autor auch mit der Zerstörung der globalen Umwelt. Die ökonomische und die ökologische Krise unserer modernen Gesellschaft können nur im Zusammenhang betrachtet werden. Der Warenfetisch erzeuge einen permanenten Wachstumszwang der Wirtschaft, welcher sich nicht um naturwissenschaftlich bedingte Grenzen schere. Und bei einem erzwungenen Stillstand drohe ein Auseinanderbrechen der gesamten Gesellschaft. Genau diese ökonomischen Ursachen des Wachstumszwanges und damit der zunehmenden Umweltzerstörung würden auch von der Mehrheit ihrer Kritiker aber systematisch ausgeblendet. Bei den Maßnahmen diverser Regierungen handele es sich meist um bloße Simulation von Umweltschutz. Und die Bevölkerungsmehrheit könne sich eher einen Weltuntergang vorstellen als den Zusammenbruch einer Gesellschaft, die auf den Kategorien Arbeit, Ware, Geld, Lohn Profit, Markt und Staat beruhe. Um den Beginn genau dieses Zusammenbruchs handele es sich bei den mittlerweile unübersehbaren Krisenerscheinungen. Bewahrt uns nun der ökonomische Kollaps vor dem ökologischen – oder umgekehrt? Wie Ortlieb abschließend meint, wird der gern beschworene »Frieden mit der Natur« nur jenseits des Kapitalismus zu haben sein.
Der Autor hat die Fertigstellung des Sammelbandes noch erlebt, nicht aber dessen Auslieferung an den Buchhandel. Claus Peter Ortlieb verstarb am 15. September 2019 in Hamburg. Die Linke verlor in ihm einen bedeutenden Denker.
Claus Peter Ortlieb: Zur Kritik des modernen Fetischismus. Die Grenzen bürgerlichen Denkens. Schmetterling-Verlag, Stuttgart 2019, 343 Seiten, 22,90 Euro
Erschienen in junge Welt vom 28.10.2019 (S. 15, Politisches Buch)