Predigt am 4. Fastensonntag zu Joh 3,14-21 (10. März 2024)

Joh 3,14-21

14 Und wie Mose die Schlange in der Wüste erhöht hat, so muss der Menschensohn erhöht werden, 15 damit jeder, der glaubt, in ihm ewiges Leben hat. 16 Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren geht, sondern ewiges Leben hat. 17 Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, damit er die Welt richtet, sondern damit die Welt durch ihn gerettet wird. 18 Wer an ihn glaubt, wird nicht gerichtet; wer nicht glaubt, ist schon gerichtet, weil er nicht an den Namen des einzigen Sohnes Gottes geglaubt hat. 19 Denn darin besteht das Gericht: Das Licht kam in die Welt, doch die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht; denn ihre Taten waren böse. 20 Jeder, der Böses tut, hasst das Licht und kommt nicht zum Licht, damit seine Taten nicht aufgedeckt werden. 21 Wer aber die Wahrheit tut, kommt zum Licht, damit offenbar wird, dass seine Taten in Gott vollbracht sind.

Unser Evangelium ist aus dem Gespräch Jesu mit Nikodemus genommen, einem führenden Pharisäer, der viel Sympathie für die Botschaft Jesu empfand. Während das rabbinische Judentum nach der Zerstörung Jerusalems mit der römischen Weltmacht kooperierte, damit die Synagogengemeinde überleben konnte, war das für die Messianer – die junge Christengemeinde – unmöglich. Genau um diesen Konflikt geht es im Johannes-Evangelium.

„Wenn jemand nicht von neuem geboren wird, kann er das Reich Gottes nicht sehen.“ Das ist eine Aussage, die Nikodemus nicht verstehen will und vielleicht auch nicht kann. So bleibt er bei der Biologie. „Wie kann ein Mensch, der schon alt ist, wieder geboren werden. Er kann doch nicht in den Schoß seiner Mutter zurückkehren und ein zweites Mal geboren werden.“

Neu geboren werden ist bei Johannes kein biologischer Vorgang, sondern markiert die Zugehörigkeit zu einer neuen sozialen Wirklichkeit. Er benennt sie mit dem Begriff des Reiches Gottes. Wer neu geboren wird, der wird in die Wirklichkeit des Reiches Gottes hineingeboren. Dort weht ein anderer Wind, ein anderer Geist. Es ist die Welt die charakterisiert wird durch die Weigerung zu töten. Jesus spricht denen, die ihn töten wollen, ab, Kinder Abrahams zu sein. „Wenn ihr Kinder Abrahams wärt, würdet ihr so handeln wie Abraham. Jetzt aber wollt ihr mich töten. So hat Abraham nicht gehandelt. Der Jesus des Johannesevangeliums knüpft daran an, dass Abraham Isaak nicht getötet hat. Er hat das Gesetz, das zu töten befahl, nicht erfüllt und hat darin seine Treue zum Gott Israels gezeigt, der ein Gott des Lebens und der Befreiung ist. Deshalb kann er nicht das Opfer menschlichen Lebens verlangen.

Die Welt derer, die sich weigern zu töten, steht die Welt gegenüber, die den Tod exekutiert. Sie verkünden im Blick auf Jesus: Wir haben ein Gesetz und nach diesem Gesetz muss er sterben, weil er sich als Sohn Gottes ausgegeben hat. Sich als Sohn Gottes auszugeben, ist keine harmlose religiöse Spinnerei. Im römischen Reich darf sich nur einer zum Sohn Gottes machen: der römische Kaiser. Wenn Jesus sich als Sohn Gottes ausgibt, bestreitet er die Machtansprüche des Kaisers. Er ist illoyal gegenüber dem römischen Imperium und damit ein Hochverräter. Im Namen des Gesetzes wird Jesus getötet. Genau das stellt Johannes heraus. Der Tod Jesu war nicht gegen das Gesetz, sondern die Erfüllung des Gesetzes. Und das ist die Welt des Fleisches; der Geist, wo es um die Erfüllung des Gesetzes geht. Für Johannes gibt es den Vorrang des Lebens vor dem Gesetz. Deshalb dürfen Gesetze – welcher Art auch immer – nicht zum Tod von Menschen führen. Das ist der Geist in der Welt Gottes, der in einer Messias-Gemeinde leben muss, weil Gott Garant des Lebens ist. Das ist der Geist, der in Jesus lebt. In ihm kann man erkennen, wer Gott in der Tradition des jüdischen Volkes ist.

Nach Johannes erklärt nun Jesus dem Nikodemus, wo er diesen Geist erfahren kann – welche Bedeutung der Glaube an den Messias Jesus hat, für jeden Einzelnen und für eine messianische Gemeinde. Jesus tut das mit einer Geschichte aus dem Buch Numeri: „Wie Mose die Schlange in der Wüste erhöht hat“. Sie erzählt davon, dass die Israeliten den langen Weg durch die Wüste leid geworden waren und gegen Gott und Mose, seinen Propheten, aufbegehrten: Wie lange noch müssen wir aushalten? Warum sind wir überhaupt aus Ägypten losgezogen? Gott strafte sein Volk mit Feuerschlangen, deren Bisse tödlich sind. Viele Menschen starben, bis die Israeliten zur Umkehr bereit waren. Auf Geheiß Gottes fertigte Mose eine Statue mit einer Schlange daran. Diejenigen, die von einer Feuerschlange gebissen worden waren, blieben am Leben, wenn sie zu der erhöhten Schlange emporschauten. Diese Geschichte verknüpft das Johannes-Evangelium mit dem Kreuz Jesu. Im Angesicht des Todes erfahren die Menschen Rettung, wenn sie Gott und seinem Weg trauen. Das unbedingte Vertrauen auf Gott rettet und schenkt neues, ewiges Leben. Das erhöhte, aufgerichtete Kreuz wird zum Zeichen der Auferstehung. Es verweist auf Gott selbst, der das Leben des Menschen will, dem Gekreuzigten Recht gibt, ihm neues Leben schenkt. Am gekreuzigten und auferweckten Jesus erkennen wir, wer das ist, der Gott Abrahams, Isaaks, der Propheten und der Gott Jesu.

Im Kreuz ist Heil, im Kreuz ist Leben, im gekreuzigten Jesu erkennen wir, dass Gott sein Lebenswort nicht zurückgezogen hat, uns vielmehr Zukunft schenkt; Ostern schenkt – einen neuen Geist, der uns das Leben eröffnet.

Zu diesem Gott, der sein Lebenswort durch die Auferstehung Jesu bekräftigt hat, bekennen wir uns durch die Erneuerung des Taufbekenntnisses in der Osternacht; es ist eine andere Welt und Lebensgestaltung möglich; für diese andere Welt engagieren und kämpfen wir. Es ist eine Welt, wo es – wie Paulus in seinem Brief an die Galater sagt – weder Mann oder Frau gibt, wir sind alle eins in Jesus Christus. Diese Aussage richtet sich gegen den patriarchalen Charakter der römischen Herrschaft, in der Frauen den Männern untergeordnet sind und sich in der Herrschaft der Väter in der Familie die Herrschaft des Kaisers widerspiegeln soll.

Im Kapitalismus ist die Rolle von Frauen ebenfalls minderbewertet. Auch da, wo Frauen, über Arbeit gleichgestellt sind, werden sie untergeordnet und abgewertet. Das reicht von schlechter bezahlter Arbeit für Frauen, ihrer doppelten Zuständigkeit für Beruf und Familie, als Mütter und Managerin bis hin zu Erfahrung sexueller Gewalt und deren gesellschaftlicher Ignoranz. Das alles ist nicht zufällig, sondern durch unsere Gesellschaftsform, den Kapitalismus vermittelt. Sie ist geprägt durch die Produktion von Waren mit dem Ziel, durch die Verausgabung von Arbeit Kapital zu vermehren, und zeitgleich von der Abspaltung der Reproduktion, also der Sorge um Kinder, Kranke, Alte usw. Sie geht einher mit einem Verhältnis der Geschlechter, in dem Produktion, sprich Arbeit und Öffentlichkeit männlich, und Reproduktion, also Hausarbeit und Sorgetätigkeiten weiblich zugeordnet werden. Dies ist wiederum mit einem Verhältnis von Über- und Unterordnung verbunden. Die männliche Produktion und mit ihr das öffentliche politische Agieren ist der Reproduktion und dem weiblichen Hegen und Pflegen, Verstehen und Sorgen übergeordnet. Das paulinische „nicht männlich, nicht weiblich“ zielt heute auf die Überwindung der strukturellen Ungleichheiten unserer Gesellschaft und in unserer Kirche.

Ostern ist da, wo alle Herausforderungen überwunden werden: Die Verhältnisse der Über- und Unterordnung von Juden und Christen, von Freien und Sklaven, von Mann und Frau. Diese Umkehr soll geschehen in Gedanken, Worten und Werten; also im Denken, Reden und Tun.

Paul Freyaldenhoven