Eine ‚Vision‘ als Einspruch gegen Herrschaft
Das Bild von der Wallfahrt der Völker zum „Berg des Hauses des Herrn“, dem Berg Zion, auf dem Gott in seinem Tempel ‚wohnt‘, ist eine gern genommene ‚Vision‘. Als Vision aber bleibt es ein abstraktes Idealbild, das für alle Zeiten gültig zu sein scheint. Es soll ‚umgesetzt‘ werden in eine Praxis, die sich dem Ideal nähert. Daraus wird dann ein scheinbar unendlicher asymptotischer Prozess, der auf eine Affirmation der herrschenden Verhältnisse hinausläuft, die ja das Ideal nie erreichen werden.
Bereits der Blick in den Zusammenhang, in dem der Text beim Propheten Jesaja steht, macht eine andere Logik deutlich. Er unterbricht die Mahnungen Jesajas angesichts des kommenden Gerichts über Unrecht und Gewalt, das die Verhältnisse prägt (vgl. Jes 1 und dann weiter Jes 2,6ff.). Die Vision eines universalen Friedens fällt also nicht einfach vom Himmel, sondern ist eingebunden in die Reflexion des herrschenden Unfriedens. Sie entsteht aus der Reflexion der geschichtlichen Verhältnisse, flieht dabei nicht in ‚Überzeitliches‘ und ‚Immer Gültiges‘, sondern formuliert Gottes Einspruch gegen die Verhältnisse. Sie stammt nicht aus der Zeit, in dem der Erste Jesaja seine Kritik gegen die wesentlich durch das Königtum verursachte Gewalt gegen Arme und Schwache, seine Kritik an Verschuldung und Schuldknechtschaft formuliert, sondern aus der Zeit nach dem Exil, also aus der Zeit der selbstkritischen Reflexion der eigenen Geschichte. Erst hier, als das Königtum am Ende ist, kommt die Vorstellung, dass Israels Gott der Gott aller Menschen und Völker ist zum Durchbruch.
„Am Ende der Tage wird es geschehen…“ (V. 2a)
Die Übersetzung „am Ende der Tage“ ist der Septuaginta- (der griechischen) wie der Vulgata- (der lateinischen) Übersetzung des Ersten Testaments geschuldet und legt eine eschatologische Interpretation nahe. Sie setzt das Ende der raumzeitlichen Welt voraus. Vom hebräischen Denken her läge es näher, von einer anderen oder künftigen Zeit innerhalb der Geschichte auszugehen.
„Der Berg des Hauses des Herrn steht fest gegründet als höchster der Berge…“ (V. 2b)
Gemeint ist der Tempelberg. Er steht als Symbol für Gottes Treue zu seinem Volk und dessen Treue gegenüber seinem Gott. Dieser Bund ist verwurzelt in der Geschichte der Befreiung, die ihre grundlegende Wurzel in der Befreiung aus Ägypten hat. Aus dieser Geschichte wird ‚ersichtlich‘, was Psalm 48,9 so formuliert: „Wie wir es gehört, so haben wir es gesehen in der Stadt des HERRN der Heerscharen, der Stadt unseres Gottes. Gott macht sie fest auf ewig.“ Im Bild vom Gottesberg sind mythische Vorstellungen aufgenommen: die vom Gottesberg, auf dem ein Wettergott wohnt und das Land gegen die Fluten des Meeres sichert oder jene vom Wolkenpalast Baals (vgl. auch Ps 68,16f.). Entscheidend ist hier wieder, dass Mythisches der Geschichte untergeordnet ist. Nicht Mythos, sondern die Geschichte und Erinnerung an das, was in ihr geschieht, prägt das Denken Israels.
„Zu ihm strömen alle Völker… (V. 2b.3)
Dieser Berg wird „Haus des Gottes Jakobs“ (V. 3) genannt. Am Ende steht die Aufforderung an das „Haus Jakob … im Licht des Herrn“ (V. 5) zu gehen. Die Formulierung erinnert an die Anfänge des Volkes Israel. Sie sind in den Völkern zu suchen. Zu ihnen gehört der Stammvater Jakob und seine Söhne (Gen 27ff.). Israels Geschichte beginnt vor dem Exodus. Sie hat ihre Wurzeln in den Völkern. Israels Berufung, Wege der Befreiung zu gehen, ist eine Berufung, die auf die Völker ausgerichtet ist. Auch ihnen gilt die Verheißung der Befreiung. Der „Berg des Herren“ als „Haus des Gottes Jakobs“ ist nicht mit Vorstellungen imperialer Herrschaft verbunden, nach der sich die Völker auch noch sehnen und sich ihr dankbar unterwerfen. Seine Faszination macht „die Weisung aus und das Wort des Herrn von Jerusalem“. Es ist „das Wort des Herrn“, das in der Geschichte als Befreiung ‚geschieht‘, und die darin verwurzelten „Weisungen“ für geschichtliche Wege der Befreiung wie sie sich in der Tora niedergeschlagen haben und niedergeschrieben wurden. Unser Text, der in der nachexilischen Zeit entstanden ist, kann auch auf Aufzeichnungen der Tora zurückgreifen. Diese Weisung ist kein ‚überzeitliches‘ Ideal, sondern eine Weisung, die geschichtlich erinnert und in neuen geschichtlichen Konstellationen neu buchstabiert werden muss. Genau das macht die Tora als Lehre aus, die in Lehrhäusern gelehrt und interpretiert wird.
Die Lehre der Tora zielt darauf, dass Israel den Wegen der Befreiung und darin seinem Gott treu bleiben kann. Sie lehrt Israels Gott der Befreiung zu unterscheiden von Götzen, die Herrschaft legitimieren und so fetischisieren. Mit den Weisungen der Tora kann Israel sich als Gottes „heiliges Volk“ erweisen, dessen Heiligkeit in der Zugehörigkeit zu dem Heiligen Gott und der Absage an Götzen der Unterdrückung wurzelt. Gerade darin ist Israel „unter allen Völkern“ Gottes „besonderes Eigentum“ (Ex 19,5), „ein heiliges Volk“ (Ex 19,6). Dies ist es nicht für sich selbst, sondern um den Völkern Zeugnis zu geben von Gottes Wegen und Weisungen der Befreiung. Ihnen wird der Zugang zu Gottes Wegen und Verheißungen der Befreiung eröffnet. Es ist gerade nicht so – wie der Exeget Otto Kaiser schreibt – , dass das „auf eine Einbeziehung der Völker in die Jerusalemer Theokratie“1 honausläuft. Gegen vor allem in der christlichen Geschichte mit dem Monotheismus immer wieder verbundene Absolutheits- und Herrschaftsansprüche „ist es um so wichtiger auf die sozialgeschichtliche Tatsache hinzuweisen, daß Israel zum Monotheismus in einer absoluten politischen Ohnmacht durchgestoßen ist“2. Es ist die Zeit des babylonischen Exils und die darin und die darauf folgende Zeit. Im babylonischen Exil hat – so die Botschaft des zweiten Jesaja – sich Israel als ohnmächtiger „Knecht Gottes“ verstanden und darin seine Erwählung zum Zeugnis für die Völker gesehen.
„… Dann werden sie Schwerter zu Pflugscharen umschmieden…“ (V. 4)
Nicht auf eine Theokratie gründet sich der Zugang der Völker zu Israels Gott, sondern im „Recht“ (V. 4). Das inmitten der Katastrophen ersehnte universale Friedensreich wird allein durch das Wort aufgerichtet. Darin ist das Recht begründet als eine Gerechtigkeit, die den Armen zuerst gilt und darin allen (vgl. Jes 9,1-6; 11,1-9). Nicht eine neue theokratische Herrschaft, sondern Gerechtigkeit, die den Inspirationen der Tora folgt, schafft Frieden. Das ist das Erbe der Verheißungen für den „Thron Davids“ (Jes 9,6). Dann können Waffen zu Ackergeräten, „Schwerter zu Pflugscharen und Lanzen zu Winzermessern“ (V. 4) umgeschmiedet werden und die Nationen brauchen nicht mehr für den Krieg zu lernen.
Willy Schottroff hat deutlich gemacht, dass diese Sicht „das Ergebnis eines langen, leidvollen Lernprozesses“ ist, „den Israel im Verlauf seiner Geschichte vom Auszug aus Ägypten bis zum Beginn der nachexilischen Zeit durchgemacht hat“3. Dabei hat es den Weg beschritten von der Bejahung des Krieges, einschließlich des Ausrottungsgebots ganzer Bevölkerungen (Dtn 20,16-18) bis hin zu einem Verständnis von Gerechtigkeit und Frieden, das alle Volker einbezieht. Die treibende Kraft dazu war der sich durchsetzende Monotheismus, der Glaube an den einen Gott, dem es um die Befreiung aller Völker geht. Das ist nicht der teleologische Endpunkt einer kontinuierlichen Entwicklung ‚zum Positiven‘. Die geschichtliche Wirklichkeit, die Israel erfahren und erleiden muss, steht dem entgegen. Auch darauf hat Willy Schottroff hingewiesen: „In seiner Wirklichkeit hat das jüdische Volk in Palästina wie in der Diaspora immer wieder verzweifelt um seinen Fortbestand kämpfen müssen und war vielfach von der physischen Auslöschung bedroht.“4 Zu dieser Erfahrung gehört die in Joel 4,9f. zitierte Aufforderung an die Völker, „sich unter Aufbietung aller Reserven zum Kampf zu rüsten“5: „… Ruft einen Krieg aus! Lasst eure Kämpfer aufbrechen! Alle Krieger sollen anrücken und heraufziehen. Der Schwache soll sagen: Ich bin ein Kämpfer!“ Willy Schottroff: „Hier kehren also die Völker … das Friedenswort von Jes 2/Mi 4 um. Verblendet bieten sie die letzten Reserven an Material und Menschen auf, um in die Entscheidungsschlacht gegen Jahwe und sein Volk zu ziehen. Sogar ihre Ackergeräte schmieden sie um zu Waffen.“6
Eine Vernichtung, die den ganzen Globus bedroht…
Wir lesen den Text vom Weg der Völker zum Berg der Verheißung einer Gerechtigkeit und eines Friedens, der alle einbezieht und von den ‚Letzten‘ her denkt, in einer Situation, in der das heutige Israel und die heute lebenden Juden von Vernichtung bedroht sind. Elfriede Jelinek spricht – inspiriert von Emanuel Levinas – von einer Leere, die dann droht, wenn der andere zum Feind wird, der vernichtet werden soll7. Nach Levinas begegnet im Angesicht des anderen die unhintergehbare Aufforderung: Töte mich nicht! Der Andere begegnet von außen, gehört also nicht zur Immanenz des eigenen Selbst. Er ist unverfügbar, beugt sich also nicht einem auf sich selbst zentrierten Subjekt, das sich selbst vergegenständlicht und die Welt verdinglicht. Mit der Exteriorität des Anderen verbindet Levinas den Versuch, von Transzendenz zu sprechen8. Sie leuchtet auf im Angesicht des Anderen, das seiner Verfügbarkeit und Vergegenständlichung entgegensteht. Der Andere, der sich nicht in die herrschende Totalität, also in die herrschende Normalität einordnen lässt, überschreitet, transzendiert deren Grenzen. Jelinek macht deutlich, dass mit der Vernichtungsdrohung der Hamas, der Andere zu einem zu vernichtenden Feind wird. Der Andere wird in die Immanenz eingeordnet und als sie bedrohender Feind vernichtet. Wo dies geschieht, droht der Sog einer Leere, der alles in den Abgrund der Vernichtung reißt. Die Vernichtung des/der Anderen wird zur Selbstvernichtung und zur Vernichtung der Welt.
Robert Kurz reflektiert auf die kapitalistischen Verhältnisse, die alles in den Abgrund ziehen9: Die Verwertung des Kapitals läuft ins Leere, weil es nicht mehr möglich ist über die Verausgabung menschlicher Arbeit hinreichend Wert und Mehrwert zu schaffen. Das bedeutet für die auf Konkurrenz konditionierten Subjekte, dass deren Hüllen fallen und deutlich wird, „dass sich unter diesen Hüllen NICHTS verbirgt: dass der Kern dieses Subjekts ein Vakuum ist, dass es sich um eine Form handelt, die ‚an sich‘ keinen Inhalt hat“10. Es geht um „das metaphysische Vakuum des Werts“, um die „vollkommene Leere des sich verwertenden ‚automatischen Subjekts‘ (Marx) der Moderne“11. Diese Leere setzt einen diffusen Vernichtungswillen frei. Sie treibt zur Vernichtung des Anderen ebenso wie zur Selbst- und Weltvernichtung.
Im Antisemitismus werden Krisenerfahrungen durch Projektion auf Juden als deren Verursacher im Rahmen von Weltverschwörungsmythologien ‚verarbeitet‘. In den Juden lässt sich die abstrakte Herrschaft des Kapitalismus, die in der Verwertung des Kapitals als abstraktem Selbstzweck steckt, konkret greifen. Das Konkrete wird gegen das Abstrakte in Stellung gebracht, die jüdische Weltverschwörung gegen die kapitalistische Realmetaphysik12. Es legt sich der Eindruck nahe: Wenn die Juden vernichtet sind, lassen sich die Krisen des Kapitalismus ‚in den Griff‘ bekommen. Im eliminatorischen Antisemitismus der Nazis sollten die Juden vernichtet und damit der deutsche Kapitalismus und seine Überhöhung der Arbeit gerettet werden. Aus den Ruinen des Vernichtungsterrors der Nazis entstand durch den von den Nazis geförderten Fordismus ein neues kappitalistisches Akkumulationsmodell, dessen finale Krise sich seit den 1970er Jahren abzeichnet. Wir sprechen von finaler Krise, weil eine neue Akkumulation aufgrund der logischen und historischen Schranke des Kapitalismus und seines „prozessierenden Widerspruchs“ (Karl Marx) nicht mehr möglich erscheint. Der inmitten der Krisenerscheinungen des Kapitalismus um sich greifende Antisemitismus versucht diese Krisen zu verarbeiten. Er will offensichtlich den nicht mehr zu rettenden Kapitalismus durch die Vernichtung der Juden retten. Mit dem Willen, die Juden zu vernichten, ebnet er der Selbst- und Weltvernichtung den Weg.
In dieser Situation wäre ein Denken nötig, das zu begreifen sucht, was global vor sich geht. Es wäre ein Denken, das Geschichte zu denken versucht, statt in Mythen zu flüchten, das Erinnerung als subversives Gedächtnis begreift, das auf das Ganze ausgreift, statt im vermeintlich Konkreten das Heil zu suchen. Für all das steht die Denkform kritischer Theorie, die sich wesentlich jüdischen Denktraditionen verdankt. Mit den Juden soll all das vernichtet werden. Vernichtet wäre damit auch das, was sich als rettendes Denken in einer sich der Vernichtung widersetzenden Praxis Ausdruck verschaffen könnte.
Herbert Böttcher
1Otto Kaiser, Das Buch des Propheten Jesaja. Kapitel 1-12 in der Reihe Altes Testament Deutsch (ATD), 17, Göttingen 1981, 65.
2Rainer Albertz, Religionsgeschichte Israels, Göttingen 1992, 445.
3Willy Schottroff, Die Friedensfeier. Das Prophetenwort von der Umwandlung von Schwertern zu Pflugscharen (Jes 2,2-5/Mi 4,1-5, in: Luise und Willy Schottroff, Die Parteilichkeit Gottes. Biblische Orientierungen auf der Suche nach Frieden und Gerechtigkeit, München 1984, 78 -102, 81.
4Ebd., 99.
5Ebd.
6Ebd., 99f.
7Vgl. Elfriede Jelinek, Kein Einer und kein Anderer mehr
8Vgl. Emmanuel Lévinas, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, München 52014.
9Vgl. Robert Kurz, Weltordnungskrieg. Das Ende der Souveränität und die Wandlungen des Imperialismus im Zeitalter der Globalisierung, Springe 2021, vor allem 68ff.
10Ebd., 68.
11Ebd., 69.
12Vgl. Robert Kurz, Geld und Antisemitismus. Der strukturelle Wahn in der warenproduzierenden Moderne, in: ders.,Weltkrise und Ignoranz, Berlin 2013, 68-87.