Adventsvesper 2023 (Jes 2, Jes 62, Offb 21) – Gegen die Vernichtung Israels


Gl 230

Kyrie:

Herr, Jesus Christus,

du Menschensohn zur rechten des Vaters, Richter der Lebenden und der Toten, Schöpfer eines neuen Himmels und einer neuen Erde.

Gl 158

Oration

Herr, unser Gott, alles steht in deiner Macht; du schenkst das Wollen und das Vollbringen. Hilf uns, dass wir auf dem Weg der Gerechtigkeit Christus entgegengehen und uns durch Taten der Liebe auf seine Ankunft vorbereiten, damit wir den Platz zu deiner Rechten erhalten, wenn er wiederkommt in Herrlichkeit. Er, der in der Einheit des Heiligen Geistes mit dir lebt und herrscht in Ewigkeit.

Impuls 1:

Solidarität mit Israel und allen Juden ist das Gebot der Stunde angesichts des Terroranschlags der Hamas vom 7. Okt. dieses Jahres. Wir lassen ihn in diesem Gottesdienst lebendig werden mit den Worten des Zentralrates der Juden:

Der Terrorkrieg der Hamas gegen Israel und vor allem die Brutalität gegen die Zivilbevölkerung übertrifft alles Vorstellbare. Unschuldige Menschen, ob jung oder alt, werden dahin geschlachtet, kaltblütig erschossen, entführt und gedemütigt. … Niemals dürfen wir vergessen, wie dieser Krieg an einem Samstagmorgen begann. An einem Samstag, an dem so viele Juden ermordet wurden wie an keinem Tag seit der Schoa.“

Dieser Anschlag löst nicht weltweites Entsetzen und Solidarität mit Israel und allen Jüdinnen und Juden aus. Stattdessen ergießt sich eine Welle an Israel- und Judenhass über die Welt. Darin wird der Anschlag der Hamas, wenn nicht als Befreiungsschlag bejubelt, so doch schnell eingeordnet in den Nah-Ost-Konflikt. Dabei wird Israel für den Anschlag mitverantwortlich gemacht. So werden Opfer und Täter vertauscht. Der Zusammenhang, in dem der Anschlag der Hamas steht, ist aber nicht einfach der Nah-Ost-Konflikt, sondern ein Vernichtungswahn, der auf Israel und alle Juden zielt.

Dieser Antisemitismus speist sich aus Mythen, die von einer jüdischen Weltverschwörung erzählen, von jüdischem Geld, das die Welt regiert, von jüdischem Intellekt, der fähig ist, die Welt den Juden zu unterwerfen. Darauf fließen alle möglichen Mythen von Verschwörung zu – ob sie nun von der Herrschaft der Pharmaindustrie, der Herrschaft der Banker, der Herrschaft Amerikas oder Russlands phantasieren oder von Plänen einer Umvolkung schwadronieren. Sie haben in Krisenzeiten Konjunktur, weil sie Ursachen von Krisen auf vermeintlich Schuldige konkretisieren und sich die theoretische Anstrengung der Analyse der Verhältnisse ersparen. Wer ihnen folgt, braucht sich auch nicht ohnmächtig zu fühlen, sondern scheint handlungsfähig zu sein, weil er einen konkreten Feind hat, gegen den der Kampf des vermeintlich Guten gegen das vermeintlich Böse geführt werden kann.

In der Charta der Hamas heißt es:

Juden waren die Hintermänner der Französischen und Kommunistischen Revolution und sie standen hinter den meisten Revolutionen … Sie nutzten das Geld, um geheime Organisationen rund um die Welt zu gründen, um Gesellschaften zu zerstören und zionistische Absichten durchzusetzen … Niemand hat widersprochen, dass die Juden den Ersten Weltkrieg ausgelöst haben, um das islamische Kalifat auszulöschen. Sie verursachten auch den Zweiten Weltkrieg, an dem sie durch Handel mit Kriegsmaterial ungeheuer verdient und die Gründung ihres Staates vorbereitet haben. Sie haben die Gründung der Vereinten Nationen und des Sicherheitsrates angeregt, um den Völkerbund zu ersetzten, damit sie die Welt unmittelbar regieren können.“1

Lied: Gl 747

Erste Lesung: Jes 62,1-6

Hinführung:

Nach der Zerstörung durch Babylon und der Rückkehr aus dem Exil entwirft der Prophet Jesaja das Bild eines neu errichteten Jerusalem. Die Stadt Jerusalem wird zum Bild für Israels Hoffnungen auf Gerechtigkeit und Frieden. In ihr finden Gott und sein Volk zusammen.

Jes 62,1-6

1 Um Zions willen werde ich nicht schweigen, / um Jerusalems willen nicht still sein, bis hervorbricht wie ein helles Licht seine Gerechtigkeit / und sein Heil wie eine brennende Fackel. 2 Dann sehen die Nationen deine Gerechtigkeit / und alle Könige deine Herrlichkeit. Man ruft dich mit einem neuen Namen, / den der Mund des HERRN für dich bestimmt. 3 Du wirst zu einer prächtigen Krone / in der Hand des HERRN, zu einem königlichen Kopfschmuck / in der Hand deines Gottes. 4 Nicht länger nennt man dich Verlassene / und dein Land nicht mehr Verwüstung, sondern du wirst heißen: Ich habe Gefallen an dir / und dein Land wird Vermählte genannt. Denn der HERR hat an dir Gefallen / und dein Land wird vermählt. 5 Wie ein junger Mann sich mit einer Jungfrau vermählt, / so nehmen dich deine Söhne in Besitz. Wie der Bräutigam sich freut über die Braut, / so freut sich dein Gott über dich. 6 Auf deine Mauern, Jerusalem, habe ich Wächter gestellt. / Den ganzen Tag und die ganze Nacht, niemals sollen sie schweigen. Die ihr den HERRN erinnert, / gönnt euch keine Ruhe!

Psalm 147, Gl 78 A

Impuls 2:

Der Staat Israel wurde gegründet als Rettungsort für von Vernichtung bedrohte Juden, als „Haus gegen den Tod“2. Hier sollten alle Juden endlich sicher sein können. Seit der Zerstörung Jerusalems durch Rom hatten sie keinen Ort mehr, an dem sie gemeinsam sicher leben konnten. Immer hing ihr Leben von dem Schutz nicht-jüdischer Mächte ab, bis sie schließlich schutzlos der Vernichtung durch die Nazis ausgeliefert waren.

Bereits 1939 hatte der Philosoph Max Horkheimer gemahnt: „Wer … vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen“3. Es ging ihm darum, mit Verhältnissen zu brechen, die Nährboden für Antisemitismus sind. Weil im Kapitalismus Herrschaft nicht greifbar, sondern hinter der Produktion versteckt ist, entsteht in Krisenzeiten das Bedürfnis, Herrschaft greifbar und vor allem in den Juden dingfest zu machen.

Inzwischen treibt die abstrakte Herrschaft des Kapitalismus, die wir heute als Unterwerfung unter das Wertgesetz und die Abspaltung der Reproduktion verstehen, in ihren sich zuspitzenden Krisen den Globus in den Abgrund. Sie implodiert in ihrer Krise ökonomisch, politisch, ökologisch und ‚moralisch‘; sie wird erlitten, aber nicht erkannt und kritisiert, sondern wahnhaft projektiv verarbeitet. Die Juden sind schuld! Israel ist schuld. Und der Hass auf Israel als ‚dem Juden‘ unter den Staaten vereint dann Linke, Rechte und Islamisten.

Die ins Leere laufende Verwertung des Kapitals ist „ein saugendes Vakuum“4, eine saugende Leere, die in den Abgrund reißt. Vor diesem Abgrund soll der Antisemitismus wahnhaft bewahren. Analog zur Vernichtung der Juden im Nationalsozialismus könnte es letztlich darum gehen, durch Vernichtung der Juden den Kapitalismus zu retten, heute in Gestalt der Normalität der abstrakten kapitalistischen Fetischverhältnisse, von denen weder Linke noch Rechte lassen wollen.

Lied: Gl 231

Zweite Lesung: Jes 2,1-6

Hinführung:

Israel ist nicht nur für sich selbst aus der Knechtschaft Ägyptens befreit. Es ist erwählt, um Zeugnis davon zu geben, dass sein Gott der Befreier aller Völker sein will. Als „Haus gegen den Tod“ soll das biblische Israel ein Haus für alle Völker sein. Wenn dieses bedroht und vernichtet wird, ist eine Hoffnung auf Rettung und Befreiung für alle vernichtet.

Jes 2,1-6

1 Das Wort, das Jesaja, der Sohn des Amoz, über Juda und Jerusalem geschaut hat. 2 Am Ende der Tage wird es geschehen: Der Berg des Hauses des HERRN / steht fest gegründet als höchster der Berge; er überragt alle Hügel. / Zu ihm strömen alle Nationen. 3 Viele Völker gehen / und sagen: Auf, wir ziehen hinauf zum Berg des HERRN / und zum Haus des Gottes Jakobs. Er unterweise uns in seinen Wegen, / auf seinen Pfaden wollen wir gehen. Denn vom Zion zieht Weisung aus / und das Wort des HERRN von Jerusalem. 4 Er wird Recht schaffen zwischen den Nationen / und viele Völker zurechtweisen. Dann werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen umschmieden / und ihre Lanzen zu Winzermessern. Sie erheben nicht das Schwert, Nation gegen Nation, / und sie erlernen nicht mehr den Krieg. 5 Haus Jakob, auf, / wir wollen gehen im Licht des HERRN.

Psalm 122 (Gl 68)

Impuls 3:

Israels biblische Traditionen zeichnen sich dadurch aus, dass sie den Abgründen der Geschichte standhalten. Israel lässt sich nicht von Mythen beruhigen, die davon erzählen, alles sei eingebettet in die ewigen Kreisläufe der Natur und so werde alles gut. Weil Israel der Geschichte treu bleibt, lässt es sich auch nicht von Mythen verführen, die von einem ewigen Kampf des Guten gegen das Böse erzählen und dazu verleiten, das Böse in Sündenböcken zu konkretisieren.

Israel bleibt der Geschichte treu, weil es in der Geschichte seinen Gott als Befreier erfahren hat. Statt Trost in Mythen zu suchen, hat es nach Gott geschrien – gerade da, wo es sich von Gott verlassen fühlte. Sein Schrei nach Gott hat es immun dagegen gemacht, sich mit den herrschenden Verhältnissen abzufinden – auch und gerade in den Zeiten als Israel am Boden lag. Die Gestalt des Menschensohns gibt dem Nahrung. Vom Himmel her tritt sie den in Bildern von Bestien dargestellten Gewaltherrschaft entgegen. Der Schrei nach Gott wird zum Schrei nach dem Menschensohn und der mit ihm verbundenen Hoffnung auf eine menschliche Welt für alle Menschen.

Das Zweite Testament hat Israels Schrei nach Gott in dem Schrei nach dem Menschensohn aufgenommen, in den Ruf „Komm, Herr Jesus!“ (Offb 22,20). Es erkennt den Menschensohn in dem von Rom gekreuzigten, von Gott aber auferweckten Messias. Er ist mit den Katastrophen der Geschichte verbunden und darin Gottes Einspruch gegen Tod und Vernichtung. Darin wurzelt die Hoffnung auf eine neue, eine menschliche Welt. Das Bild dafür ist auch im Zweiten Testament Jerusalem, Gottes neue Stadt, in der Gott in der Mitte seines Volkes wohnt.

Lesung aus der Offenbarung des Johannes

Text: Offb 21,1-5.22-24

1 Dann sah ich einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, auch das Meer ist nicht mehr. 2 Ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott her aus dem Himmel herabkommen; sie war bereit wie eine Braut, die sich für ihren Mann geschmückt hat. 3 Da hörte ich eine laute Stimme vom Thron her rufen: Seht, die Wohnung Gottes unter den Menschen! Er wird in ihrer Mitte wohnen und sie werden sein Volk sein; und er, Gott, wird bei ihnen sein.[1] 4 Er wird alle Tränen von ihren Augen abwischen: Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal. Denn was früher war, ist vergangen. 5 Er, der auf dem Thron saß, sprach: Seht, ich mache alles neu. Und er sagte: Schreib es auf, denn diese Worte sind zuverlässig und wahr!

22 Einen Tempel sah ich nicht in der Stadt. Denn der Herr, ihr Gott, der Herrscher über die ganze Schöpfung, ist ihr Tempel, er und das Lamm. 23 Die Stadt braucht weder Sonne noch Mond, die ihr leuchten. Denn die Herrlichkeit Gottes erleuchtet sie und ihre Leuchte ist das Lamm. 24 Die Völker werden in diesem Licht einhergehen….

Lied: wenn singbar Gl 840, sonst Gl 479

Fürbitten

Herr, guter Gott, du Hüter Israels, erinnere dich an das Leid, das Juden und Israel schon getragen haben, erinnere dich an die Verheißung, die du gegeben hast: verbundene Wunden, getrocknete Tränen, gebrochene Herzen werden heil, Tod wird nicht mehr sein, Leben in Frieden und Gerechtigkeit, Brot und Wein für alle. Für diese Hoffnung, die eine Hoffnung für die ganze Welt, für alle Menschen aus allen Völker ist, steht in Israel Jerusalem, der Zion. Ein Angriff auf dein erwähltes Volk, auf den Zion, ist ein Angriff auf die Verheißung des Lebens für alle.

Zu dir, dem Hüter Israels, der du Retter und Befreier aller Menschen sein willst, beten wir:

Für den Staat Israel, der einem Terror ausgesetzt ist, der auf die Vernichtung aller Juden zielt, für Juden überall auf der Welt, die allein gelassen und dabei antisemitischem Hass ausgesetzt sind:

Wir beten um Solidarität mit Israel, um das Ende des Terrors, um ein ‚Haus des Lebens gegen den Tod‘, um Gesellschaften, in denen Juden ohne Hass und Feindschaft leben können.

Gebetsruf: Gl 234

Für die Bürger Israels, die von der Hamas in Geiselhaft genommen sind, für Palästinenser, die als lebendige Schutzschilde im Kampf gegen Israel dem Tod ausgesetzt sind:

Wir beten um Befreiung der Geiseln und um Rettung der Palästinenser, die dem Terror geopfert werden, um weltweite Ächtung des Terrors der Hamas und ihrer Sympathisanten.

Gebetsruf: Gl 234

Für die Opfer in der Zivilbevölkerung, für die Kranken in den Krankenhäusern, für alle, die fliehen müssen:

Wir beten um Schutz und Sicherheit, darum, dass Israel in seiner Verteidigung Spielräume des Schutzes für die Bevölkerung in Palästina erkennt und nutzt, um Wege zu einem Frieden, in dem die Drohung, Israel und alle Juden zu vernichten, aufgegeben ist.

Gebetsruf: Gl 234

Für alle, die unter den Krisen des Kapitalismus zu leiden haben, für diejenigen, die zu Armut und Hunger verurteilt sind, für die Opfer der Klimakatastrophe, für Menschen auf der Flucht:

Wir beten um Wege zum Ausstieg aus den Zwängen des Kapitalismus, um offene Ohren und Herzen für die Opfer, um kritisches Nachdenken und den Mut zur Kritik.

Gebetsruf: Gl 234

Für alle, die sich den Prozessen der Zerstörung entgegensetzen, für diejenigen, die trotz Entzug der materiellen Mittel und trotz Kriminalisierung nicht aufhören, Fliehende vor dem Ertrinken zu retten, für alle, die deutlich machen, dass Armen das Leben und gesellschaftliche Teilhabe immer schwerer gemacht wird:

Wir beten um die Kraft durchzuhalten und Anfeindungen zu widerstehen, um Unterstützung aus der Gesellschaft, um Empfindsamkeit statt „roher Bürgerlichkeit“.

Gebetsruf: Gl 234

Für die Kirchen und alle Christen, die Advent feiern und sich auf Weihnachten vorbereiten:

Wir beten um Wachsamkeit, um leidenschaftliche Erwartung des Menschensohns und seiner menschlichen Welt, um Verwurzelung in den Traditionen Israels, um Treue zu Gott und seinem Messias.

Gebetsruf: Gl 234

Für die Toten, für die Opfer des Terrors und für alle Opfer von Strukturen des Unrechts und der Gewalt, für diejenigen, die ihr Leben im Widerstand dagegen eingesetzt haben, für Menschen, die anonym und einsam bestattet wurden und für alle unsere Toten:

Wir beten um die Begegnung mit dem Menschensohn, um Auferstehung, um Leben im neuen Jerusalem.

Gebetsruf: Gl 234

Darum bitten wir in der Hoffnung auf das Kommen Deines Menschensohns und seiner menschlichen Welt.

Gabenbereitung: Gl 221

Nach der Kommunion: Gl 634, 3.4

Abschluss und Segen:

Herr, guter Gott, du Hüter Israels:

Hör alle, die nach Frieden rufen

als nach einem unmöglichen Glück.

Hör das Blut,

das ruft aus der Erde,

es sei umsonst vergossen.

Hör die Sprachlosen,

mundtot Gemachten, Gemarterten.

Und die Toten,

zerfallen in der Erde,

zerstreut in den Wind,

auf immer unauffindbar,

und alle, die weggegangen, ohne Gruß.

Möge wahr sein, was geschrieben steht:

Dass da einer ist, der hört.

Mögest du es sein, der hört, der weiß, der sieht, der hinabsteigt,

zu befreien.

So bitten wir um Gottes Segen: Für die Kinder Israels und für alle Menschen.

Und so segne uns und alle Menschenkinder – der gute Gott, der Hüter Israels, der Vater, der Sohn und der Heilige Geist. Amen.

Vorbereitet von Herbert Böttcher

1Zitiert nach: Wolfgang Benz, Was ist Antisemitismus? München 22005, 188.

2Johann Baptist Metz, Christen und Juden nach Auschwitz. Auch eine Betrachtung über das Ende bürgerlicher Religion, in: ders. Mit dem Gesicht zur Welt. Gesammelte Schriften, Band 1, 167 -181, 180.

3Max Horkheimer, Die Juden und Europa, in: ders., Gesammelte Schriften Band 4: Schriften 1936 – 1941, Frankfurt am Main 22009, 308 – 331, 308f.

4Eine Formulierung von Elfriede Jelinek im Blick auf die Vernichtung des Anderen durch die Hamas.