3. Adventssonntag: Evangelium und Auslegung

Joh 1,6-8.19-28

6 Ein Mensch trat auf, von Gott gesandt; sein Name war Johannes. 7 Er kam als Zeuge, um Zeugnis abzulegen für das Licht, damit alle durch ihn zum Glauben kommen. 8 Er war nicht selbst das Licht, er sollte nur Zeugnis ablegen für das Licht.

19 Und dies ist das Zeugnis des Johannes, als die Juden von Jerusalem aus Priester und Leviten zu ihm sandten mit der Frage: Wer bist du? 20 Er bekannte und leugnete nicht; er bekannte: Ich bin nicht der Christus. 21 Sie fragten ihn: Was dann? Bist du Elija? Und er sagte: Ich bin es nicht. Bist du der Prophet? Er antwortete: Nein. 22 Da sagten sie zu ihm: Wer bist du? Wir müssen denen, die uns gesandt haben, Antwort geben. Was sagst du über dich selbst? 23 Er sagte: Ich bin die Stimme eines Rufers in der Wüste: Ebnet den Weg für den Herrn!, wie der Prophet Jesaja gesagt hat. 24 Die Abgesandten gehörten zu den Pharisäern.[4] 25 Sie fragten Johannes und sagten zu ihm: Warum taufst du dann, wenn du nicht der Christus bist, nicht Elija und nicht der Prophet? 26 Johannes antwortete ihnen: Ich taufe mit Wasser. Mitten unter euch steht einer, den ihr nicht kennt, 27 der nach mir kommt; ich bin nicht würdig, ihm die Riemen der Sandalen zu lösen. 28 Dies geschah in Betanien, jenseits des Jordan, wo Johannes taufte.

 

Zu den Katastrophen seiner Zeit, den 1930er Jahren, sagt der jüdische Philosoph Walter Benjamin: „Daß es ‚so weiter‘ geht ist die Katastrophe“[1]. Sein Satz passt erschreckend auch in unsere Zeit. Und er passt zu unserem heutigen Evangelium und der ersten Lesung. Wie auch schon in den Evangeliumstexten der ersten beiden Adventssonntage geht es um Erinnerung im Sinne eines An-Denkens. An-Denken bedeutet allerdings nicht ein Erinnern, mit dem die Katastrophen sich von selbst aufzulösen scheinen und in dem ich Beruhigung finden kann. An-Denken – mit Bindestrich geschrieben – bedeutet ein gegen die Katastrophen, gegen die Ungerechtigkeiten, gegen die Gleichgültigkeiten dem Leid anderer und der Schöpfung angehendes Denken. Es geht um ein Erinnern, das mich existentiell berührt, ja aufwühlt, und das mich auf diese Weise wachsam macht gegenüber den Stimmen, die uns weis machen wollen, dass das Chaos der Verhältnisse dieser Welt die Normalität sei.

Diese Spannung zwischen der existentiell bedrohlichen Situation einerseits und der Hoffnung auf ein Leben in Fülle für alle andererseits ist Thema der heutigen Lesungen und des Evangeliums. Leben in einer Zeit des sehnsüchtigen und hoffnungsfrohen Wartens auf die Wiederkehr des Messias Jesus kann das eine nicht gegen das andere ausspielen. Vielmehr sind wir aufgerufen, in dieser Spannung Jesus nachzufolgen.

Voraussetzung für Rettung in diesen spannungsvollen Situationen ist zunächst und vor allem die ehrliche Wahrnehmung des Unheils. Das zeigt uns die erste Lesung. Der Prophet Jesaja soll dem aus der babylonischen Gefangenschaft zurückgekehrten Volk Israel Trost und Hoffnung geben. Denn obgleich es nicht mehr unter der Herrschaft und der Unterdrückung Babylons lebt, obgleich also die äußere Zwangsherrschaft dank Gottes Befreiungstaten überwunden ist, herrschen innerhalb Israels Gesellschaft Ungerechtigkeit und Herrschaftsverhältnisse der Unterdrückung. Wieder haben sich Herrschende über Beherrschte gesetzt – und das innerhalb Israels selbst. Die Worte des Propheten erinnern an die Weisungen Gottes, die ein Leben in Fülle für alle beschreiben. Mit diesen Worten wird lebendig, was Gottes Gerechtigkeit ausmacht. Ein Gnadenjahr des Herrn auszurufen, heißt Pachtschulden und andere Schulden zu erlassen, so dass ein Ausgleich zwischen Arm und Reich in Israel geschaffen und die Spaltung zwischen Oben und Unten überwunden wird.

Auch im heutigen Evangelium wird von der Realität der Unterdrückung und Not erzählt – und ebenso von der Hoffnung, die lebendig wird, wenn Gottes Weisungen gehört und umgesetzt werden. Mit dem Messias Jesus wird die Heilsgeschichte Gottes mit seinem Volk erinnert, ja sie wird in, durch und mit dem Messias bestätigt. Das ist Grund zur Freude, die aber wohl nicht von allen geteilt werden kann, denn schon die Ankündigung des Wirkens Jesu macht die Mächtigen unruhig, lässt Inquisitoren aktiv werden, die seinem Wirken von Anfang an ein Ende setzen wollen. Dagegen ist das Zeugnis des Johannes für den Messias von Erinnerungen der Geschichte Israels geprägt, die sich im Sinne des An-Denkens an Gottes Wirkmacht gegen die Mächtigen seiner Zeit richten. Das kann nicht ohne Konflikt geschehen, wie die spätere Tötung Johannes‘ zeigen wird.

Die von den Priestern und Leviten zu Johannes dem Täufer gesandten Männer unterziehen den Täufer regelrecht einem Verhör. Dass es sich hier nicht einfach um eine Unterhaltung handelt, macht auch der Begriff des Zeugnisses deutlich. Das griechische Wort μαρτυρία (Martyria) ist ein juris­tischer Terminus. Für die Hörer und Hörerinnen des Johannesevangeliums ist damit klar, dass seine Aussagen juristische Folgen haben. Es geht um die Frage: Wer ist der Messias. Wer ist der von Gott selbst autorisierte Retter, der nicht im Namen eigener Interessen, sondern im Namen Gottes redet und wirkt? Jemand, der autorisiert ist, hat Macht. Und somit ist die Frage nach dem Messias in der Logik unserer Welt eine Frage von Macht. Das macht auch der Evangelist Johannes deutlich. Der Hinweis, dass die Priester und Leviten von Jerusalem (Joh 1,19) kommen, zeichnet diese als Vertreter von Macht­strukturen aus. Gemeint ist hier nicht das jüdische Volk insgesamt, sondern dessen offizielle Behörden, die zur Zeit des Evangelisten Johannes unter der Herrschaft der Großmacht Roms stehen.

Es ist Wachsamkeit gefragt.  Johannes ist wachsam, er weiß zu unterscheiden. So sagt er denn auch „Ich bin nicht der Messias.“ Auch die Frage, ob er Elia sei, verneint Johannes mit den Worten „Ich bin es nicht“.  Mit der Wiederkunft des Propheten Elia ist in der jüdischen Tradition die Ankündigung des Kommen Gottes zum Endgericht verbunden. Auch die dritte Frage nach einem Propheten, gemeint ist hier Mose, dessen Wiederkunft ebenfalls als Zeichen der beginnenden Endzeit verstanden wird, verneint Johannes, nun mit einem einfachen „Nein“. Seine immer kürzer werden­den Antworten – „Ich bin nicht der Messias“, „Ich bin es nicht“, „Nein“ – können als ein erstes Christusbekenntnis verstanden werden. Seine Aufgabe erkennt Johannes der Täufer in seiner Rolle als Wegweiser, als Rufer in der Wüste (vgl. Jes 40,3).

Im zweiten Teil des Gesprächs geht es um die Praxis der Taufe. Wenn doch der Täufer nicht der Messias ist, warum tauft er dann die Menschen in einer Bußtaufe mit deutlich eschatologi­schem Charakter? Auch die Mahnung zur Umkehr gehört zur Aufgabe des Johannes. Er verweist auf denjenigen, nach dem die Priester und Leviten suchen sollen. „Mitten unter euch steht der, den ihr nicht kennt, […], ich bin nicht würdig, ihm die Riemen der Sandalen zu lösen“ (Joh 1,26). Die Priester und Leviten kennen den Messias nicht, das Licht der Welt. Vielleicht sind sie geblendet vom Blendwerk der Mächtigen.

Und welche Bedeutung hat nun der seltsame Schluss, diese unvermittelte Information über den Ort der Handlung: Betanien? Dieses Betanien liegt östlich vom Jericho, jenseits des Jordan und damit in dem Gebiet namens Peräa, das von Herodes Agrippa verwaltet wird.  Mit der geographischen Angabe wird zum einen gesagt, dass die Ereignisse, von denen hier erzählt wird, ebenso real sind wie der Ort. Sie sind Wirklichkeit, weil sie Gottes Wirken in der Welt, sein Schöpfungshandeln ausmachen. Zum anderen ist mit der geradezu formelhaften Rede „jenseits des Jordan“ (Joh 1,28) die Heilserfahrung Israels verbunden. Es geht um jene Grenze, die Israel überwinden musste, um ins verheißene Land einziehen zu können (vgl. Jos 3–4; insbe­sondere 4,23). Drittens schließlich wird dieses Gebiet von Herodes Agrippa, einem von Rom eingesetzten jüdischen Herrscher, regiert, der für Rom, aber auch für eigene Interessen das Volk massiv unterdrückt. Die Welt, in die der Messias Jesus kommt, ist eine Welt, in der die Weisungen Gottes keine Gültigkeit zu haben scheinen, in der es ein Oben und ein Unten gibt, das von Unrechts- und Unterdrückungsstrukturen gekennzeichnet ist.

Wachsamkeit, Achtsamkeit, die Bereitschaft im Sinne der Gerechtigkeit Gottes Grenzen zu über­winden, auch wenn wir dadurch in Konflikt mit den Herrschaftssystemen unserer Zeit geraten – das ist es, was an der Zeit ist, was mit dem Kommen des Messias Jesus zu unserer Auf­gabe wird. Solcher Konflikträume, ja Katastrophen haben wir heute viele. Da sind die ganz offensichtlichen Katastrophen, die Kriege und gewalttätigen Auseinandersetzungen weltweit. Da sind die verheimlichten, versteckten und ignorierten Katastrophen, die uns selbst nicht direkt berühren, wie Hunger, Vertreibung, Flucht aufgrund der von uns Menschen verursachten Klimakatastrophe, aufgrund von offenem Krieg, aufgrund von Wirtschaftskriegen. Solche Konflikträume gibt es auch in unserer Kirche. Es ist auch für unsere Kirche keineswegs selbstverständlich, von den Opfern her zu denken und mit ihnen solidarisch zu handeln. Wie kirchenverträglich, so können, ja müssen wir fragen, ist dieser Messias? Ein Zitat des Jesuiten Alfred Delp, der in Berlin-Plötzensee von den Nazis hingerichtet worden ist, legt den Finger in die Wunde: „Die Kirchen scheinen sich durch die Art ihrer historisch gewordenen Daseinsweise selbst im Wege zu stehen. Ich glaube, überall da, wo wir uns nicht freiwillig um des Lebens willen von der (gewohnten) Lebensweise trennen, wird die geschehende Geschichte uns als richtender und zerstörender Blitz treffen.“ [2]

Wenn wir uns für den Messias Jesus ent-scheiden – und damit scheiden von ande­ren Herren – können wir mit offenen Augen die Welt um uns sehen, wie sie ist, ohne an ihr zu zerbrechen. Wir sind aufgeru­fen, realistisch die Ungerechtigkeiten unserer Welt wahrzu­nehmen, zu benennen und ihnen tatkräftig entgegenzutreten.

Monika Tautz

[1] Benjamin, Walter, Gesammelte Schriften, Band 1, Frankfurt a. Main 1991, 654-690, hier: 683.

[2] Zitiert nach Fuchs, Gotthard, Der richtende Blitz, in: Publik-Forum 23 (01. Dez. 2023), 45.