Das Evangelium nach Johannes – Bibelimpulse im Pastoralen Raum Andernach, Teil 21: Johannes 7,53-8,11

Heute beschäftigen wir uns mit einem Abschnitt, der wohl „kein ursprünglicher Bestandteil des Johannesevangeliums“[1] ist. „Die ältesten und bedeutendsten Zeugen des griechischen Textes kennen ihn nicht.“[2] Erst die Didaskalia, eine wohl im dritten Jahrhundert in Syrien entstandene „Kirchenordnung“, bezeugt den Text. Auch seine Einfügung in den Text unseres Evangeliums ist nicht eindeutig bezeugt, allerdings findet er sich in den meisten Handschriften am Übergang zum 8. Kapitel.

Vermutlich ist der Text im 2. oder beginnenden 3. Jahrhundert als Einschub in das Evangelium nach Johannes aufgenommen worden. Inhalt und Erzählstil erinnern an die synoptischen Evangelien.

Jesus stellt sich schützend vor Menschen, die als Sünder*innen diskriminiert werden. Dazu passt dann auch die bekannte Formulierung „Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als Erster einen Stein auf sie.“

Im Blick auf den Duktus unseres Evangeliums scheint mit dem Einschub sein Erzählfaden unterbrochen. Solche Beobachtungen haben zahlreiche Exegeten dazu bewogen, den Abschnitt in ihren Kommentaren zu übergehen. Im Unterschied dazu interpretiert Klaus Wengst den Text aus der kirchlichen Situation des 2. bzw. beginnenden 3. Jahrhunderts sowie vor seinem antijudaistischen Hintergrund.

Mit der Bereitschaft, die Ehebrecherin zu töten, wird Juden etwas unterstellt, für das es in der jüdischen Praxis keinen Beleg gibt. Zwar soll nach einem Gebot der Tora der Mann, der mit der Frau einen Ehebruch begeht, sterben, „ja sterben sollen der Ehebrecher und die Ehebrecherin“ (Lev 20,10). Die Hinrichtungsart bleibt aber offen. Auch nach Dtn 22,22 sollen beide sterben.

Die Steinigung kommt für den Fall ins Spiel, in dem eine Verlobte mit einem anderen Mann „in der Stadt“ (Dtn 22,23) schläft. Hier ist – aus heutiger Sicht durchaus problematisch – vorausgesetzt, dass die Frau hätte um Hilfe rufen und dadurch der Steinigung entgehen können.

Für die Einordnung unserer Stelle ist wesentlich, dass es nach der pharisäisch-rabbinischen Überlieferung für die Auslegung des Textes entscheidend ist, wie er als auszulegendes Wort in unterschiedlichen Situationen zu verstehen ist. Dabei fällt auf, dass kein Fall einer Steinigung bei Ehebruch im jüdischen Zusammenhang belegt ist. „Das ist kein Zufall. Es entspricht dem Verfahren der Rabbinen, bei Delikten, die nach der Tora mit der Todesstrafe zu ahnden sind, so viele Barrieren einzubauen, dass Todesurteile unmöglich werden.“[3]

Die antijudaistische Schlagseite unseres Textes liegt nun darin, dass er Juden eine Tötung unterstellt, für die es real keinen Beleg gibt und er diese Konstruktion benutzt, um Jesus im Kontrast zu dieser Unterstellung im positiven Licht darzustellen.

Nach Wengst ist der kirchliche Kontext unseres Textes darin zu sehen, dass er sich gegen Bestrebungen in der vorkonstantinischen Kirche wendet, bei der Kirche zur sündhaften Welt auf Distanz geht und ihren Kampf um ‚Reinheit‘ mehr und mehr auf dem Feld sexueller ‚Unreinheit‘ austrägt. So wendet sich die Geschichte von der Ehebrecherin „gegen rigoristische Bestrebungen, die ‚Sünder‘ aus der Kirche auszuschließen“[4]. Diese mit Jesus zu Recht zu verbindenden Intention verbindet sich aber mit einer antijudaistischen Sichtweise, in der sich Kirchenkritik als Antijudaismus artikuliert. In der Kritik kirchlichen Rigorismus wird den Juden die Steinigung einer Ehebrecherin – auf jeden Fall die Absicht dazu – unterstellt.

So bestechend und zum Teil auch berechtigt, diese Sichtweise von Wengst ist, so übersieht sie doch wesentliche Aspekte und bringt nicht zur Geltung, dass die Einfügung auch im Zusammenhang des gesamten Evangeliums interpretiert werden muss, soll nicht denen, die sie eingefügt haben Willkür oder völliges Unverständnis gegenüber unserem Evangelium unterstellt werden. Daher sei im Folgenden auf solche Zusammenhänge hingewiesen.

7,53 Dann gingen alle nach Hause. 8,1 Jesus aber ging zum Ölberg. 2 Am frühen Morgen begab er sich wieder in den Tempel. Alles Volk kam zu ihm. Er setzte sich und lehrte es. 3 Da brachten die Schriftgelehrten und die Pharisäer eine Frau, die beim Ehebruch ertappt worden war. Sie stellten sie in die Mitte 4 und sagten zu ihm: Meister, diese Frau wurde beim Ehebruch auf frischer Tat ertappt. 5 Mose hat uns im Gesetz vorgeschrieben, solche Frauen zu steinigen. Was sagst du? 6 Mit diesen Worten wollten sie ihn auf die Probe stellen, um einen Grund zu haben, ihn anzuklagen. Jesus aber bückte sich und schrieb mit dem Finger auf die Erde. 7 Als sie hartnäckig weiterfragten, richtete er sich auf und sagte zu ihnen: Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als Erster einen Stein auf sie. 8 Und er bückte sich wieder und schrieb auf die Erde. 9 Als sie das gehört hatten, ging einer nach dem anderen fort, zuerst die Ältesten. Jesus blieb allein zurück mit der Frau, die noch in der Mitte stand. 10 Er richtete sich auf und sagte zu ihr: Frau, wo sind sie geblieben? Hat dich keiner verurteilt? 11 Sie antwortete: Keiner, Herr. Da sagte Jesus zu ihr: Auch ich verurteile dich nicht. Geh und sündige von jetzt an nicht mehr!

7,53 Dann gingen alle nach Hause.

Die Einfügung des Textes an dieser Stelle ist weder willkürlich noch beliebig, sondern nimmt durchaus die Situation des Gesamtevangeliums auf. Die Versuche, Jesus festzunehmen, münden ein in eine ‚Pattsituation‘. Nikodemus hatte gegen solche Versuche eingewandt: „Verurteilt etwa unser Gesetz einen Menschen, bevor man ihn verhört und festgestellt hat, was er tut?“ (7,51)

Daraufhin wird er zwar verdächtigt, auch einer „aus Galiläa“ zu sein und zu dem Teil des Volkes zu gehören, „das vom Gesetz nichts versteht“ (7,49). Aber zunächst einmal geht es nicht weiter und alle „gingen nach Hause“.

Die Bemerkung „Und jeder ging in sein Haus“ – wie wörtlich zu übersetzen wäre – kann durchaus als Ausdruck der Zersplitterung Israels verstanden werden. Das würde dem entsprechen, dass nach vernichtenden Niederlagen „alle zu ihren Zelten flohen“ (1 Sam 4,10, vgl. auch 2 Sam 18,17; 2 Kön 14,12). Nichts scheint mehr zu gehen – weder Jesu Festnahme noch die neue Sammlung Israels. Israel bleibt zersplittert und ist nicht zu ‚einen‘. Es löst sich auf; es wird vom Volk Gottes (laós) zu einem diffusen Volkshaufen (óchlos).

8,1 Jesus aber ging zum Ölberg.

Während Israel sich zersplittert, „ging“ Jesus „zum Ölberg“. Mit dem Ölberg verbinden wir Jesu Einzug in Jerusalem und seine Gefangennahme, jedoch in der Schilderung bei Matthäus und Lukas. Bei Johannes hingegen findet der Ölberg keine Erwähnung. Nach dem Propheten Ezechiel ist es der Ort, an den sich Gott zurückzieht, nachdem er aus dem Tempel vertrieben worden ist. Von dort wird er wieder in den neuen Tempel einziehen. Dies steht in Verbindung mit dem Gericht über Israel für seine Abwendung von Gott und seine Unzucht, die es mit fremden Göttern getrieben hat (Ez 43).

8,2 Am frühen Morgen begab er sich wieder in den Tempel. Alles Volk kam zu ihm. Er setzte sich und lehrte es.

Die Formulierung „am frühen Morgen“ erinnert daran, dass Gott nach Jeremia seine Propheten frühmorgens gesandt hat, um Israel zur Umkehr vom Götzendienst und anderen Übeln zu rufen.[5] Jesus nun geht „am frühen Morgen … wieder in den Tempel. … Er setzte sich und lehrte“ das Volk (laós).

Dass Jesus sich setzte, erinnert an Dan 7,9, wo es heißt: „Ein Hochbetagter nahm Platz.“ Gott ist hier als Richter dargestellt, der sich auf den Richterstuhl setzt und dann dem Menschensohn „Herrschaft, Würde und Königtum“ übergibt (Dan 7,13). Es gibt jedoch einen Unterschied: Der Messias Jesus ist „nicht gekommen, damit er die Welt richtet, sondern die Welt durch ihn gerettet wird“ (Joh 3,17).

Das griechische Wort orthrou (am frühen Morgen) findet sich sonst im Neuen Testament nur im Lukasevangelium, wenn die Frauen am Tag eins der Woche am frühen Morgen zum Grab aufbrechen (24,1) und in der Apostelgeschichte, wenn die Apostel frühmorgens wieder in den Tempel gehen, um das Volk zu lehren (Apg 5,21).

Beides ist auf dem Hintergrund von Lk 21,37f zu verstehen: „Die Tage über lehrte Jesus im Tempel; die Nächte aber verbrachte er draußen bei dem Berg, der Ölberg heißt. Schon früh am Morgen kam das ganze Volk zu ihm in den Tempel, um ihn zu hören.“ Auch das ist auffällig. Es heißt Laos, das Volk, wie in Lk 21,38, während Johannes bisher stets von Ochlos, der Menge, gesprochen hatte. Auch hier scheinen wir eher Lukas zu hören als Johannes. Auch von der Ambivalenz der Volksmenge hier nichts zu spüren.

8,3 Da brachten die Schriftgelehrten und die Pharisäer eine Frau, die beim Ehebruch ertappt worden war. Sie stellten sie in die Mitte 4 und sagten zu ihm: Meister, diese Frau wurde beim Ehebruch auf frischer Tat ertappt. und sagten zu ihm: Meister, diese Frau wurde beim Ehebruch auf frischer Tat ertappt. 5 Mose hat uns im Gesetz vorgeschrieben, solche Frauen zu steinigen. Was sagst du?

Das 7. Kapitel schließt mit dem Hinweis des Nikodemus, dass die Schriftgelehrten und Pharisäer selbst das Gesetz nicht achten. In der jüdischen Tradition wird die Missachtung der Gebote Gottes mit Götzendienst in Verbindung gebracht. Das Volk, dass nicht auf Gott hört, schafft sich ein goldenes Kalb, um es anzubeten. Dieser Götzendienst wird als Bruch des Bundes, als Ehebruch verstanden. Und dieser Ehebruch bedroht die Existenz Israels. Dies entsprich Vers 7,53, ein jeder ging in sein eigenes Haus. Das gemeinsame Haus Israels ist bedroht.

In dieser Situation schleifen die Schriftgelehrten und Pharisäer, also keinesfalls plakativ die Juden, sondern im Stile des Johannes die führenden Köpfe Israels, eine Ehebrecherin ohne Mann in den Tempel.

So dürfte es hier nicht einfach um einen individuellen Ehebruch, sondern um Israels Bruch mit seinem Gott gehen[6]. Im Blick ist das Bundesverhältnis Israels zu Gott und der Bruch dieses Bundes im ‚Fremdgehen‘ mit anderen Göttern bzw. mit Verhältnissen, die im Glauben an andere Götter ihren Ausdruck finden. Für den Fall des Götzendienstes ist Steinigung vorgesehen (Dtn 17,2-7). Hier ist auch von denen die Rede, die als erste die Steine werfen: die Zeugen (V. 7). Die drastische Strafe hängt damit zusammen, dass die Abwendung von Israels Gott der Befreiung und die Hinwendung zu knechtender Herrschaft für Israel existenzbedrohend ist. Deshalb heißt es: „Du sollst das Böse aus deiner Mitte wegschaffen“ (V. 7).

8,6a Mit diesen Worten wollten sie ihn auf die Probe stellen, um einen Grund zu haben, ihn anzuklagen.

In diesem Vers werden Brüche zum Gesamttext vielleicht am deutlichsten. Was soll die Probe sein, die zum Grund für eine Anklage werden kann? Dokumentiert Jesus dadurch, dass er sich schützend vor die Ehebrecherin, also vor das ‚sündige‘ Israel stellt, dass er nicht bereit ist, das Böse aus der Mitte Israels wegzuschaffen und Israel dem Götzendienst überlässt? Im Erzählfaden unseres Evangeliums verfolgen aber gerade die Pharisäer die Strategie im Auskommen mit Rom zu leben, um tödliche Konflikte zu vermeiden.

8,6b Jesus aber bückte sich und schrieb mit dem Finger auf die Erde.

Jesu Tun erinnert daran, dass nach der Erzählung der Bibel Gott die ‚Zehn Gebote’ mit dem Finger auf Steintafeln geschrieben hat. Was schreibt Jesus mit dem Finger auf die Erde, also in den Sand? Schreibt er die Sünde in den Sand? Dann wäre sie nicht wie die ‚Zehn Gebote’ als Weisung für den Weg der Befreiung in Stein gemeißelt, also verbindlich auch für kommende Generation, sondern vergänglich, korrigierbar, überwindbar…

8,7 Als sie hartnäckig weiterfragten, richtete er sich auf und sagte zu ihnen: Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als Erster einen Stein auf sie.

Jesus, der es nicht für nötig erachtet eine Antwort auf dieses unsägliche Fragen zu geben, wird nicht in Ruhe gelassen. Nun richtet er sich auf wie Gott immer wieder das geschlagene und sündhafte Israel aufrichtet und sagt: Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als Erster einen Stein auf sie.“

Jesus bewegt sich nach dem Erzählfaden von Johannes unter der Weltordnung Roms und seiner allgegenwärtigen Herrschaft. Da ist niemand frei von der Sünde der Kollaboration. Wer jedoch meint dennoch „ohne Sünde“ zu sein, soll „als Erster einen Stein werfen“. Jesus spricht solche an, die sich für ‚Sündlos‘ halten und bereit sind, die ‚Sündigen‘, d.h. real ganz Israel dem Untergang preis zu geben. Das aber wäre gegen die Tora; denn es geht der Tora stets darum Israel als Ganzes zu bewahren. Die Ausrottung Israels muss in jedem Fall verhindert werden.

8,8 Und er bückte sich wieder und schrieb auf die Erde. 9 Als sie das gehört hatten, ging einer nach dem anderen fort, zuerst die Ältesten. Jesus blieb allein zurück mit der Frau, die noch in der Mitte stand.

Wieder bückt Jesus sich und schreibt auf die Erde. Sein Weg der Rettung Israels ist in der Logik unseres Evangeliums der Weg der Erniedrigung. Es geht eben nicht darum zu vernichten, sondern zu retten. Er gibt so den Angesprochenen die Gelegenheit ungesehen zu verschwinden. Er macht sich klein und wird später erniedrigt, um das Volk zu retten. Die Umstehenden sind ertappt, aber sie gehen nicht etwa geschlossen fort, sondern jeder für sich. Von Sammlung kann keine Rede sein. Zuerst die Ältesten, also die, die am verständigsten gelten in Israel. Mit Ihnen sind aber nicht nur die Schriftgelehrten und Pharisäer verschwunden, sondern offenbar auch das Laos, das Volk.

8,10 Er richtete sich auf und sagte zu ihr: Frau, wo sind sie geblieben? Hat dich keiner verurteilt? 11 Sie antwortete: Keiner, Herr. Da sagte Jesus zu ihr: Auch ich verurteile dich nicht. Geh und sündige von jetzt an nicht mehr!

Wieder richtet Jesus sich auf. Seine Frage ist eine rhetorische Frage. Er weiß ja, dass alle weggegangen sind. Folglich verwundert auch die Antwort der Frau nicht.

Jesu abschließende Erwiderung fasst das Geschehen noch einmal zusammen. Auch Jesus verurteilt nicht. Die Tora soll dem Leben dienen. Wenn das Gesetz genutzt würde, um zu töten, käme das einer Pervertierung der Gebote Gottes gleich. Keineswegs aber ist das Vergehen einfach hinfällig, vielmehr gilt die Aufforderung von nun an nicht mehr zu sündigen. Der Weg des Messias, seine Solidarität mit den Erniedrigten bis zum Kreuz der Römer und seine Auferweckung als Gericht über Rom eröffnet einen Horizont, in dem es möglich erscheint, messianisch befreit zu leben statt sündigen zu müssen.

Dass der Einschub in den Duktus des Evangeliums durchaus stimmig gelesen werden kann, macht der Fortgang des Evangeliums deutlich. Am Ende des 8. Kapitels soll der, der hier Israel davor bewahrt hat, sich selbst zu zerstören, gesteinigt werden. Doch innerhalb des Evangeliums macht Johannes deutlich, erst in der Kumpanei mit Rom kann die Tötungsabsicht umgesetzt werden. Die Messianer wollen vor dem Ehebruch bewahren, also davor Rettung in Loyalität zu Rom zu suchen und damit die Tora zu missachten. Trotz aller Gefahr einer antijüdischen Lesart, kann der Einschub uns tatsächlich zum Gegenteil führen, nämlich Klarheit in der Auslegung der Tora, die für die Rettung und Befreiung von jeder Herrschaft steht.

Doch im Fortgang des Evangeliums pochen die Hohenpriester gegenüber Pilatus darauf ‚im Namen des Gesetztes‘ zu töten: „Wir haben ein Gesetz und nach diesem Gesetz muss er sterben…“ (19,7)

Die Sünde schlechthin: Töten im Namen des Gesetzes
Auf die Problematik des Tötens im Namen des Gesetzes hin hat Franz Hinkelammert die Perikope von der Ehebrecherin als originären Bestandteil des Johannesevangeliums interpretiert.[7] Jesus hat die Ehebrecherin vor dem Tod im Namen des Gesetzes gerettet. Nun soll er selbst im Namen des Gesetzes getötet werden. „Um einen Grund zu haben, ihn zu verklagen“ (Joh 8,6), wird Jesus mit dem Problem des Gesetzesbruches der Ehebrecherin konfrontiert. Jesu Tötung soll nun auf den Weg gebracht werden. In diesem Zusammenhang kommt es zum Streit, wer für sich legitim in Anspruch nehmen kann, zu den Kindern Abrahams zu gehören.

Der Streit um die Abrahamskindschaft (Joh 8,30ff)

Die Juden verstehen sich als Kinder, d.h. als Nachkommen Abrahams. Wer sich aber auf Abraham beruft, muss – so der Jesus des Johannesevangeliums – auch handeln wie Abraham (Joh 8,39). Genau da sieht Jesus den Widerspruch: Abraham hat seinen Sohn Isaak nicht getötet, obwohl ihm dies ein Gesetz, das er als eine göttliche Stimme hörte, befohlen hatte. Bevor er den Mord ausführte, hörte er auf Jahwe, den Gott der Befreiung, und unterließ den Mord. Jesus formuliert den Widerspruch: Ihr wollt „mich töten, einen Menschen, der euch die Wahrheit verkündet hat… So hat Abraham nicht gehandelt.“ (Joh 8,40) Wer also im Namen des Gesetzes tötet, handelt nicht wie Abraham und hat seinen Anspruch verwirkt zu den Kindern Abrahams zu gehören.

Er steht nicht im Dienst des Lebens und der Weitergabe des Lebens an kommende Generationen (Vgl. die Verheißung an Abraham: „Ich werde dich zu einem großen Volk machen… Durch dich sollen alle Geschlechter der Erde Segen erlangen.“ (Gen 12,2f)), sondern im Dienst des Todes und der Zerstörung des Lebens.

Diese grundsätzliche Gegenüberstellung zwischen dem Leben und dem Töten im Namen des Gesetzes erklärt die Schärfe der Auseinandersetzung. Wer im Namen des Gesetzes tötet, hat „den Teufel zum Vater… Er war ein Mörder von Anfang an.“ (Joh 8,44)

„Wir haben ein Gesetz und nach diesem Gesetz muss er sterben…“ (Joh 19,7)

Schließlich wird Jesus selbst im Namen des Gesetzes verurteilt. Die Hohenpriester betreiben bei Pilatus Jesu Tod. Sie wissen, worauf Pilatus anspringt. Wenn Jesus der mangelnden Loyalität gegenüber Rom angeklagt wird, dann ist Pilatus zum Handeln gezwungen. Die Loyalität gegenüber Rom ist das gemeinsame Interesse von Pilatus und den Hohenpriestern. Die Sicherung der römischen Herrschaft verbietet Illoyalität gegenüber der Macht des Imperiums. Deshalb darf einer wie Jesus nicht geduldet werden. Gegenüber den Tötungs- und Gewaltansprüchen des Imperiums steht er für das Leben, für Gottes Befreiung und die damit verbundene Gerechtigkeitsordnung, also für eine andere Weltordnung als die des römischen Imperiums ein. Dadurch macht er sich zum „Sohn Gottes“. So wird er auch von den Hohenpriestern angeklagt und Pilatus handelt, weil er weiß: Im römischen Imperium ist nur der Kaiser ‚Sohn Gottes’. Jeder der als Sohn Gottes handelt oder „sich als König ausgibt, lehnt sich gegen den Kaiser auf“ (Joh 19,12). Die Konsequenz: Jesus wird im Namen des Gesetzes hingerichtet.“ In einer Welt der Gewalt, die sich mit dem Gesetz legitimiert, hat derjenige keine Chance, der für auf Leben aufsteht.

„Jesus von Nazaret, der König der Juden“ (Joh 19,19)

Dies lässt Pilatus als Inschrift über Jesu Kreuz anbringen. Ohne es zu wissen oder zu verstehen, verkündet bereits Pilatus die Wahrheit dieses Gekreuzigten. Nicht der Kaiser, sondern dieser im Namen des Gesetzes Gekreuzigte ist „der König der Juden“, der „Sohn Gottes“. Johannes erzählt dies vor dem Hintergrund des Glaubens an die Auferweckung des Gekreuzigten. Rom hat Jesus im Namen des Gesetzes hingerichtet, Gott aber hat ihn auferweckt und ihm Recht gegeben. Rom verurteilt denjenigen, der für das Leben und gegen das Töten im Namen des Gesetzes aufsteht. Gott aber spricht ihn frei, gibt ihm Recht, macht ihn zum Anstifter des Weges zu einer menschlichen Welt in Gerechtigkeit und Frieden. Deshalb hat dieser von Gott auferweckte Gekreuzigte Rom und seine „Welt(ordnung) besiegt“ (Joh 16,33).

Zur Aktualität des Konflikts um das Leben

Auch in unserer Welt wird im Namen des Gesetzes getötet, gemeint ist das kapitalistische Gesetz der Verwertung von Kapital.

Waren müssen produziert werden, um Wert und Mehr-Wert zu erzielen, während der Bereich der Reproduktion, also alles, was der Sorge um das Leben von Menschen dient, abgespalten wird. Grundlage für die Verwertung von Kapital ist die Verausgabung menschlicher Arbeit. Schon unter ‚normalen‘ Bedingungen ist dieses Gesetz mit der Tötung von Menschen, vor allem durch Hunger und die Zerstörung der Schöpfung durch In-Wert-Setzung für die Produktion, verbunden.

Inzwischen hat der Verwertungsprozess eine Krisenphase erreicht, aus der es immanent keinen Ausweg mehr gibt; denn Arbeit wird in einem Maße durch, vor allem mikroelektronische, Technologie ersetzt, die nicht mehr durch Produktinnovation und Ausweitung von Märkten kompensiert werden kann. Das ist die Wurzel der sog. ‚Vielfachkrisen‘. Besonders betroffen sind diejenigen, die ‚überflüssig‘ werden, weil ihre Arbeitskraft nicht verwertbar ist. Zugleich werden die Grundlagen des Lebens durch die Zerstörung der Schöpfung untergraben.

Diese Problemzusammenhänge führen dazu, dass Menschen fliehen müssen. Das sich selbst zerstörende kapitalistische System reagiert auf die von ihm produzierten Probleme mit Gewalt: mit Krieg und der gewaltsamen Ausgrenzung ‚überflüssig‘ gemachter Menschen. Am offensichtlichsten ist dies gerade im Mittelmeer, wo Flüchtende nicht nur nicht gerettet, sondern sogar bewusst ertränkt werden. Dies geschieht im Namen des Gesetzes, des Gesetzes kapitalistischer Verwertung und der es formal sichernden Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, die dann noch als Ausdruck der Menschlichkeit abgefeiert werden. In diesem Rahmen wird von westlicher Seite auch der unsägliche Krieg in der Ukraine geführt und durch immer mehr und immer problematischere Waffen befeuert. Dies solle eine demokratische Antwort auf die russische Aggression sein.

Theologisch ist das kapitalistische Gesetz der Verwertung samt seiner politischen Einbindung in einen demokratischen Rechtsformalismus die Unterwerfung unter einen Götzen, einen Moloch, dem das Leben von Menschen und die Schöpfung als Grundlagen des Lebens vermeintlich alternativlos geopfert werden. Die Vertauschung von Gott und Götzen ist im Kapitalismus zu ihrem Höhepunkt gekommen, die Vergötzung ist ‚alles-bestimmend‘ und damit ‚normal‘ geworden – auch wenn sie diese Opfer einschließt.

Was bedeutet es für Christen, für ihr Denken und Handeln, wenn in unserer Welt das Leben mit Füßen getreten wird? Welche Hoffnung und Perspektive eröffnet der Glaube an den im Namen des Gesetzes hingerichteten Jesus, den Gott aufgerichtet hat? Was bedeutet es heute, den Weg Jesu zu gehen? Ohne Negation des Gesetzes, das befiehlt zu töten, kann dieser Weg nicht gegangen werden.

Aber wie kann diese Negation geschehen? Einen Hinweis könnte Walter Benjamins Rede von „Unterbrechung“ sein. Sie steht vor dem Hintergrund seiner Einsicht: „Dass es so weitergeht, ist die Katastrophe“. Dieses ‚Weiter so!‘ zu unterbrechen, die „Notbremse“ zu ziehen, um zur Reflexion zurückzufinden und dabei – theologisch gesprochen – an die Inhalte des Gottesnamen zu erinnern – und das nicht abstrakt in zeitlosen Wahrheiten, sondern in kritischer Reflexion der aktuellen Verhältnisse und des damit verbundenen Leids, könnte Hoffnung und Perspektive wachhalten.

Erst wenn ich mir die Mühe mache die Herrschafts- und Krisensysteme zu erkennen, also durchs Fegefeuer radikaler Gesellschaftskritik gegangen bin, kann ich mir meiner Verstrickung in die Sünde bewusstwerden und lernen den Götzen zu widersagen.

In diesem Horizont wird eine Perspektive für die Aufforderung erkennbar: Geh und sündige von jetzt an nicht mehr!

Zusammengestellt von Alexander Just

[1] Wengst, Klaus, Das Johannesevangelium. 1. Teilband: Kapitel 1-10, Stuttgart 2000 (Theologischer Kommentar zum Neuen Testament, Bd. 4), 301. [Wengst, Johannesevangelium]

[2] Wengst, Johannesevangelium 301.

[3] Wengst, Johannesevangelium 304.

[4] Wengst, Johannesevangelium 306.

[5] Vgl. Bedenbender, Andreas: »Der Sündlose unter euch werfe als erster auf sie einen Stein« (Joh 8,7). Überlegungen zur Geschichte von Jesus und der Ehebrecherin, ausgehend von einem Satz, der nicht so unschuldig ist, wie er tut! TuK 58 (1993), S. 21–48, 29. [Bedenbender, Sündlose],

[6] Vgl. Bedenbender, Andreas: »Der Sündlose unter euch werfe als erster auf sie einen Stein« (Joh 8,7). Überlegungen zur Geschichte von Jesus und der Ehebrecherin, ausgehend von einem Satz, der nicht so unschuldig ist, wie er tut! TuK 58 (1993), S. 21–48. [Bedenbender, Sündlose], ihm folgend Veerkamp.

[7] Vgl. Hinkelammert, Franz J., Der Schrei des Subjekts. Vom Welttheater des Johannesevangeliums zu den Hundejahren der Globalisierung, Luzern 2001.