Welt und Geschichte aus dem Blickwinkel der Armen und Unterdrückten, zu Mt 11,25-30

Mt 11,25-30

In jener Zeit sprach Jesus: Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und

der Erde, weil du das vor den Weisen und Klugen verborgen und es

den Unmündigen offenbart hast. Ja, Vater, so hat es dir gefallen.

Alles ist mir von meinem Vater übergeben worden; niemand kennt

den Sohn, nur der Vater, und niemand kennt den Vater, nur der Sohn

und der, dem es der Sohn offenbaren will.

Kommt alle zu mir, die ihr mühselig und beladen seid! Ich will euch er-

quicken. Nehmt mein Joch auf euch und lernt von mir; denn ich bin

gütig und von Herzen demütig; und ihr werdet Ruhe finden für eure

Seele. Denn mein Joch ist sanft und meine Last ist leicht.

Ohne Kreuz ist unser Gott nicht zu verstehen. Am Kreuz erkennen wir, wer unser Gott ist und wozu er fähig ist. Ohne Kreuz keine Erlösung, ohne Kreuz kein Evangelium.

In unserem heutigen Evangelium heißt es nun, ich preise dich Vater im Himmel, weil du das den Unmündigen offenbart hast. Mit Unmündige sind die gemeint, die am Rand der Gesellschaft leben müssen, die in der Gesellschaft nur noch als Müll definiert werden, die überflüssig gemacht werden, es sind z.B. die Sklaven in unseren Fleischfabriken. Diesen Menschen gilt unsere besondere Beobachtung und Fürsorge, sagt unser Papst Franziskus, denn sie sind die Lieblinge Gottes.

Es ist die bewusste Entscheidung, Welt und Geschichte aus dem Blickwinkel der Armen zu sehen. Im Blick stehen hier nicht die Sieger und Erfolgreichen, sondern vor allem die Verlierer, die Armen, die Opfer von Unrecht und Gewalt. Diese Umkehr folgt nicht einfach einem moralischen Gebot, sondern ist theologisch begründet. Sie ist begründet mit der grundlegenden Gotteserfahrung Israels im Zusammenhang der Befreiung aus Ägypten. Hier offenbart sich Gott dem Mose als ein Gott. Zu dessen Wesen es gehört, die Schreie der Armen zu hören. Er kennt ihr Leid, er erkennt, dass es seinen Ursprung in der Herrschaft Ägyptens hat und will sie aus dieser Unterdrückung befreien.

Diese theologische, im Mysterium Gottes selbst gründende Dimension ist so zentral, dass Papst Franziskus in „Evangelii Gaudium“ schreibt:

„Die Schönheit des Evangeliums kann von uns nicht immer angemessen zum Ausdruck gebracht werden. Doch es gibt ein Zeichen, das niemals fehlen darf: Die Option für die Letzten, für die, welche die Gesellschaft aussondert und wegwirft.“

Dieses Zitat kündigt schon an, wohin die theologisch begriffene Option für die Armen führt:

Zur kritischen Auseinandersetzung mit einer Gesellschaft, die strukturell ungerecht ist, weil sie Menschen aussondert und wegwirft. Die Achtung und die Empfindsamkeit für die Letzten gibt zu denken. Sie führt zur kritischen Reflexion von Verhältnissen, in denen sich heute die Strukturen Ägyptens, der Sklavenhäuser widerspiegeln. Die Erkenntnis Gottes ist nicht möglich ohne die Erkenntnis des Unrechts, an dem sich die Forderung nach Gerechtigkeit entzündet. Dem Armen und Schwachen zum Recht verhelfen, so heißt es beim Propheten Jeremia: „Heißt das nicht, mich wirklich erkennen?“ Deswegen preist Jesus die Unmündigen so hoch: „weil Sie es sind, die uns das Geheimnis Gottes offenbaren.“ Es sind die Unmündigen, die erkennen und sich darauf verlassen, dass Gott den Menschen aus aller Enge befreit und ins Leben führt. Gott hat das letzte Wort – er ist die einzige Chance.

Paul Freialdenhoven, Predigt in der Kapelle des Heinrichhauses (08.07.2023)