Die Kirche an sozialen Kipp-Punkten

Bestätigt die Kirche mit ihrem eigenen Handeln den Status quo unseres Wirtschaftssystems oder setzt sie sich für die Befreiung von sozialer Ungerechtigkeit ein?
 

Wenn es uns um eine grundlegende sozio-ökologische Transformation geht, braucht es nicht nur den Blick auf die gegenwärtigen ökologischen Kataststrophen, ebenso müssen wir die sozialen Schieflagen beleuchten, die durch neoliberale Eskalationsspiralen immer drastischer werden. Wir erleben Zeitstress und permanenten Optimierungsdruck, die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auseinander, das Wohnen in den Großstädten wird immer teurer und das Gesundheitssystem ist im Begriff umzukippen.

Unser Zusammenleben taumelt, viele Menschen können ihre Arbeit im Niedriglohnbereich nicht verlassen, die Armut in Deutschland hat einen Höchststand erreicht: „Wir sind an einem Kipppunkt für die unteren 30-40% der Gesellschaft angekommen, die sich in der Tat fragen, ob sie mit ihrem Leben überhaupt noch zurechtkommen – und zwar nicht nur im Niedriglohnsektor“. (Axel Troost, in: Soziale Kipppunkte 2023)

Und mittendrin stehen die Kirchen. Auch sie taumeln. Deshalb sind sie häufig mit ganz anderen Problemen beschäftigt als mit den sozialen Nöten in unserer Gesellschaft. Die beiden großen Kirchen werden sich bis 2060 um mindestens die Hälfte ihrer Mitglieder verkleinern. Ihre finanziellen Gestaltungsmöglichkeiten werden stark zurückgehen. Sie suchen nach Antworten auf Distanzierungs- und Entkirchlichungsprozesse. Sie suchen verstärkt nach Anschlussfähigkeit und Bedürfnisorientierung für Menschen im säkularen Kontext.

Die Kirche unterliegt aufgrund von Mitgliederschwund und Relevanzverlust einem großen Druck, schnelle Lösungen zu finden. Die Suche nach – ökonomisch ausgedrückt – unmittelbarer Bedürfnisorientierung von Klient*innen geht mit einer grundsätzlichen Gefahr einher: Es wird zu schnell nach Relevanz auf der Oberflächenstruktur geschaut, ohne dabei die tieferen gesellschaftlichen Schieflagen, Keime von Ungerechtigkeitsstrukturen und die daraus resultierenden Tipping Points anzugehen.

Muss die Kirche ihren Narzissmus überwinden?

Genau diese Gefahr nimmt der Theologe Herbert Böttcher in seinem Buch „Auf dem Weg zur unternehmerischen Kirche“ wahr. Er plädiert dafür, „dass es für die Kirche entscheidend ist, ihren Ekklesionarzissmus zu überwinden“. Es gehe demnach nicht „um Anpassung an die Verhältnisse, um auf ihre ‚Höhe‘ der Zeit zu kommen, sondern um deren Kritik“. Unter Anpassung versteht Böttcher die gegenwärtigen kirchlichen Steuerungsprozesse, um dem Schrumpfen der Mitgliedschaft und der wachsenden Bedeutungslosigkeit entgegenzuwirken. Formen von Resilienzsteigerung, neue Angebote von Spiritualität, Wellnesskurse, systemtheoretische Modelle und ökonomische Denkansätze („Design-Thinking“) werden gesucht, die jedoch den gesellschaftlichen Anpassungsrahmen als gegeben akzeptieren und eine kritische Totalperspektive auf gesellschaftliche Schieflagen völlig außer Acht lassen.

Böttcher sieht die große Gefahr, dass die christliche Religion unter das Joch eines oberflächlichen Nutzenkalküls gespannt wird, ohne die Ursachen für Depression, Überanstrengung, Armut sowie die globale Ausbeutung von Mensch und Natur wahrzunehmen und diese zu verändern. Kritisch stellt Böttcher über die kirchliche Praxis fest: „Individuen, die abstrakt, d. h. abstrahiert von den Bedingungen, die ihre Leere und Bedeutungslosigkeit produzieren, Beachtung finden, werden in ihrer Resilienz gestärkt und zur [vermeintlichen] Selbstermächtigung befähigt.“

Böttcher unterstreicht: Die Ermächtigung wird missbraucht. Sie werde zu einer Art Anpassung und ziele auf ein „Funktionieren im falschen System“ ab. Das, was eigentlich Bedürfnisorientierung durchaus im Blick hat, nämlich Menschen befreiend zu unterstützen, wird ins Gegenteil verkehrt: Emanzipation werde unterminiert.

Solche Verkrümmungen können auf verschiedenen Feldern kirchlichen Handelns beobachtet werden. Zwei von ihnen will ich mir für diese Ausgabe von „Tipping Point“ herauspicken: Die Anpassung an gegenwärtige wirtschaftliche Rahmenbedingungen in der Diakonie und das Einpassen des Religionsunterrichts in die vorherrschenden Leistungs- und Verwertungslogiken unseres Bildungssystems.

Diakonie: Stabilisierung eines kaputten Systems?

Die Diakonie versteht sich als Ort der Barmherzigkeit: Das Leid von Menschen soll gemindert werden. Es geht um eine wichtige Haltung praktischer Nächstenliebe. Die Diakonischen Werke sollten jedoch den gesundheitspolitischen Rahmen, in dem diakonische Unternehmen agieren, noch stärker problematisieren. Das prophetisch-kritische Amt der Diakonie könnte viel intensiver in Anspruch genommen werden. Gemeinsam mit der Caritas hat die Diakonie eine große Handlungsmacht inne, um progressiv für bessere Personalschlüssel, eine grundlegende Veränderung der Fallpauschalabrechnung (DRG-System) und für lebenswertere Arbeitsbedingungen aufzustehen.

Häufig lässt sich jedoch auf Verbands- und Unternehmensebene der Diakonie beobachten: Die gegebenen (neoliberalen) Arbeitsbedingungen und Rahmenvorgaben werden als gegebene Voraussetzungen zunehmend hingenommen. Es wird versucht, unter diesen Bedingungen „diakonisch“ zu agieren. In den Medien erscheint die Diakonie nicht als revolutionäre Vorreiterin einer kritischen Umwälzungskraft des Pflegesystems. Die von der Diakonie Deutschland in den bundesdeutschen Diskurs eingebrachten Positionen lesen sich radikal, während in der Unternehmensdiakonie systemkonform weitergearbeitet wird. Stattdessen sind es Bewegungen wie Buurtzorg oder das Pilotprojekt „Meine Station Aschaffenburg“, die alternative Wege beschreiben (z. B. Enthierarchisierung, Rollen- statt Stellenkonzept, selbstverwaltetes Arbeiten usw.).

Wenn die Diakonie ihr prophetisches Amt nicht wahrnimmt, besteht die Gefahr, ungerechte Verhältnisse zu stabilisieren, statt sie zu transformieren. Die Wurzel von Schieflagen wird zu wenig angepackt. (Mehr zu dieser Thematik findet sich in einem Aufsatz, den ich mit Prof. Michael Domsgen in der Zeitschrift Evangelische Theologie verfasst habe.)

Religionsunterricht: Bildung als Anfrage an das System

Auch der Religionsunterricht stabilisiert zu häufig gesellschaftliche Schieflagen. In allen Schulformen hat sich inzwischen ein kompetenzorientierter Lehrplan durchgesetzt. Das ist zunächst richtig und wichtig. Damit wird dem „Trichterlernen“ entgegengewirkt, bei dem Wissen einfach in die Köpfe der Schüler*innen reingekippt wurde. Statt um Input geht es um den Outcome. Es geht um die Frage: Was können Schüler*innen am Ende einer Unterrichtseinheit? Dieses „Können“ wird stets auf eine Anforderungssituation im Leben der Schüler*innen bezogen.

Was ist aber, wenn diese Anforderung zwar mittels Kompetenzen bedient werden kann, aber eigentlich verändert werden müsste, weil sie einem guten Leben entgegensteht? Um ein konkretes Beispiel aus der Berufsschulphase meines Vikariats zu geben: Während der Corona-Pandemie kamen angehende Erzieher*innen zu mir. Sie sagten: „Wir haben zu wenig Zeit!“ Wir haben uns über Möglichkeiten von Zeiteinteilung unterhalten und darüber diskutiert, wie innere Stärke gefördert werden kann. Die Schüler*innen wurden individuell gestärkt. Es wäre aber fatal, wenn Religionsunterricht an dieser Stelle stehen bleiben würde. So würden bestehende Missverhältnisse stabilisiert werden, denn: Sachsen-Anhalt hat in den Kitas im Bundesvergleich einen schlechten Personalschlüssel. Ein systemisches Problem.

Wir entdeckten, dass Akteur*innen in biblischen Texten die vorgegebenen gesellschaftlichen Bedingungen nicht einfach akzeptieren, sondern viel eher verändern wollen. Es braucht Impulse für veränderte Arbeitsbedingungen. Also sprachen wir über Petitionen, Betriebsräte, Mitarbeitervertretungen und Gewerkschaften: Über exemplarische Wege, wie der gegebene Arbeitsrahmen verändert werden kann. Der Arbeitskreis Religionslehrer*innen des Instituts für Theologie und Politik hält fest:

„Bildung bedeutet im Kern die Fähigkeit sich zu einem Ganzen in ein Verhältnis zu setzen. Sie bedeutet also die Befreiung aus der Gefangenschaft in einer Situation, durch die determiniert wird, was zu tun ist. Solch eine Bildung ist eine Absage daran, lediglich das zu erkennen und so zu handeln, wie es durch die Situation vorgegeben ist.“

(Mehr zum Thema der Missbrauchsgefahr des Kompetenzbegriffes habe ich bei feinschwarz.net geschrieben. Als lesenswertes Buch empfehle ich „kompetent, flexibel. angepasst. Zur Kritik neoliberaler Bildung“ des Theologen Andreas Hellgermann.)

Kirche: Schmeiß ungerechte Herrschaft um!

Wo werden Unrechtssysteme im kirchlichen System und auf kirchlichen Handlungsfeldern stabilisiert statt überwunden? Herbert Böttcher entdeckt in den Missbrauchsgefahren kirchlichen Handelns eine Schräglage fundamentaltheologischer Art:

„Auf der Strecke bleibt die emanzipatorische Dimension der biblischen Gottestradition, in der die Rede von Gott so zur Geltung kommt, dass sie Herrschaftsverhältnisse negierend überschreitet.“

Im neuen Center for Empowerment Studies in Halle (Saale), das von Prof. Michael Domsgen geleitet wird, könnte eine solche progressiv-befreiende Ausrichtung angelegt sein, die bei Böttcher angesprochen wird. Beim Empowerment-Ansatz geht es einerseits um Konzepte, die eine individuelle Ermächtigung im Blick haben (Ermutigung, Resilienzsteigerung usw.). Andererseits werden kirchliche und gesellschaftliche Strukturen überprüft, die einer emanzipatorischen Entfaltung entgegenstehen. Diese gilt es zu überwinden. Genau hier könnten gesellschaftliche Unrechtsstrukturen zur Sprache kommen und kirchliche Praxis neu ausgerichtet werden. Inwieweit dies im neuen Zentrum in Halle geschieht, bleibt abzuwarten. Eine Chance ist da!

Kirchliche Praxis hat gerade in einem mehrheitlich konfessionslosen Kontext engagierte Theologie zu betreiben. Eine Theologie, die progressiv für diese Welt kämpft (so Thomas Zeitler), sich für tatsächliche Emanzipationsprozesse einsetzt und so immer wieder deutlich macht: Unsere Welt könnte und soll gerade auch in ihren ökonomischen Zwangszusammenhängen anders sein! Dorothee Sölle hat es in ihrem Glaubensbekenntnis wie folgt auf den Punkt gebracht:

„Ich glaube an Gott, der die Welt nicht fertig geschaffen hat wie ein Ding, das immer so bleiben muss. Ich glaube an Gott, der den Widerspruch des Lebendigen will und die Veränderung aller Zustände durch unsere Arbeit.“

Amen – so sei es!