Johanna und andere Frauen bei Lukas – In Erinnerung an Benno und Johanna Brands

Walter Benjamin hatte im Blick auf die Geschichte von einem ‚Zeitkern‘ gesprochen, in dem Vergangenheit und Gegenwart in eine Konstellation treten, in der Geschichte und Gegenwart neu lesbar werden. Beim Jahrgedächtnis für Benno Brands hatte Agnes von der besonderen Beziehung zwischen Benno und ihrer verstorbenen Tochter Johanna erzählt. Nun vermute ich, dass ihr Name eher von Johannes dem Täufer oder Jeanne d‘Arc als von jener Johanna herrührt, von der Lukas in seinem ‚Doppelwerk‘, dem Evangelium und der Apostelgeschichte, berichtet. Wie dem auch sei, mich hat die Konstellation der Begegnung mit Agnes und ein Blick in die Apostelgeschichte aufmerken lassen.

Johanna gehört zusammen mit „Maria von Magdala … Maria, der Mutter des Jakobus und den übrigen Frauen“ (Lk 24,10) zu jenen Frauen, die den Aposteln die Botschaft von der Auferweckung des Gekreuzigten verkünden (Lk 24,1-11). Sie dürften zu jenen Frauen gehören, die Jesus auf seinem Weg begleitet haben (Lk 8,1ff.). Ausdrücklich erwähnt werden „Maria, genannt Magdalena …, Johanna…, Susanna“, bevor es heißt „und viele andere“ (Lk 8,2f.). Die „Frauen, die ihm von Galiläa aus nachgefolgt waren“, sind bei Jesu Kreuzigung „in einiger Entfernung“ dabei (Lk 23,49). Sie werden zu Zeuginnen seines Todes und der damit verbundenen Vorgänge (Lk 23,44ff.). Sie – von Lukas beschrieben „als Frauen in seiner Nachfolge, die mit Jesus aus Galiläa gekommen waren“ – sehen auch „das Grab und wie der Leichnam bestattet wurde“ (Lk 23,55). Sie bezeugen Jesu Leben, seinen Tod und seine Auferweckung. Sie gehören zusammen mit den Elf, den Brüdern Jesu und den beiden Emmausjüngern zu jenen, denen der Auferweckte „Sinn für das Verständnis der Schriften“ (Lk 24,45) erschließt, aus denen Jesu Leben, sein Tod und seine Auferweckung verstanden werden können. Das ‚qualifiziert‘ sie, nach der Sendung des Geistes „allen Völkern Umkehr zu verkünden, damit ihre Sünden vergeben werden. Angefangen in Jerusalem“ (Lk 24,47).

In der Apostelgeschichte erzählt Lukas wie Jesus vor dieser Gruppe, zu der selbstverständlich auch die Frauen gehören, in den Himmel aufgenommen wird (Apg 1,4ff., im Evangelium bereits Lk 24,50ff.). Vorher wird ihr der Heilige Geist zugesagt. In seiner Kraft können sie Jesu Zeugen sein „in Jerusalem, in ganz Judäa und Samarien bis an die Grenzen der Erde“ (Apg 1,8). So ist es nicht überraschend, sondern konsequent, dass diese Gruppe – samt der Frauen wie angesichts der kirchlichen Machtverhältnisse vielleicht nötig ist zu betonen – betend zusammen bleibt (Apg 1,13ff.), dabei Matthias (Apg 1,15ff.) zum Apostel wählt und an Pfingsten den Heiligen Geist empfängt.

Nun mag es ärgerlich sein, dass die Gruppe nach der Aufnahme Jesu in den Himmel mit „ihr Männer von Galiläa (Apg 1,10) angesprochen wird. Das ändert aber nichts daran, dass jene Gruppe von „Zeugen“ anwesend ist, von der Lukas durchgehend erzählt. Die Formulierung dürfte androzentrischer Sprache geschuldet sein. In dieser Sprache müssen Frauen in männlichen Formulierungen immer mitgedacht werden, wenn sie nicht eigens ausgeschlossen werden.

Irritierend ist hingegen die Einleitung der Apostelgeschichte (1,1-8). Darin ist nun – wie wir es in kirchlicher Sozialisation gewohnt sind – nur von den Aposteln die Rede. Sie sind von Anfang an bei Jesus bis er „in den Himmel aufgenommen wurde“ (Apg 1,2); sie sind vom Heiligen Geist erwählt und Zeugen des Lebens Jesu und der nachösterlichen Begegnung mit ihm. Den gegenüber dem Erzählfaden des Evangeliums und der Apostelgeschichte auffälligen Unterschied erklärt der Exeget Pablo Richard damit, dass Evangelium und Apostelgeschichte von Lukas als ein Werk verfasst sind, dann aber auseinander gerissen wurden und mit einem eigenen Schluss (Lk 24,24,50-53) und mit einer neuen Einführung (Apg 1,1-5) versehen wurden1. In dieser Redaktion spiegelt sich die ja auch aus anderen Texten des Neuen Testaments erkennbare Tendenz, Frauen aus sich herausbildenden Aufgaben der Leitung zurückzudrängen und dann auszuschließen2.

Was bedeutet das für das Verständnis der Kirche?

Es muss nicht eigens hervorgehoben werden, dass die Botschaft der Bibel und die Nachfolge Jesu Überwindung von Strukturen der Über- und Unterordnung zum konstitutiven Inhalt der biblischen Traditionen und zur Nachfolge Jesu gehören. Das gilt gesellschaftskritisch im Blick auf das römische Reich und zugleich für die inneren Strukturen der messianischen Gemeinden. Das eine geht nicht ohne das andere. Was von der Wurzel her zusammengehört wird da auseinander gerissen, wo ‚liberale‘ Kirchenreformer*innen Strukturen innerkirchlicher Ausgrenzungs- und Herrschaftsverhältnisse – zurecht – kritisieren, aber auf gesellschaftlich-kapitalistische Strukturen der Ausgrenzung von für die Verwertung von Kapital überflüssig gewordener Menschen ebenso wenig einen Gedanken verschwenden wie auf die abstrakte, d.h. über gesellschaftliche Strukturen und Institutionen vermittelte Herrschaft dieser Gesellschaftsformation. Das gilt aber nicht weniger für die Verfechter der Unantastbarkeit klerikaler Machtstrukturen. Da, wo einige ihrer Vertreter soziales und zuweilen sogar – wie besonders deutlich Papst Franziskus – gesellschaftskritisches Engagement betonen, kommt es auch zu einer Trennung von gesellschaftlichem und kirchlichem Engagement. Hier gilt analog: Gesellschaftliches Engagement kann die fehlende Auseinandersetzung mit den kirchlichen Machtstrukturen nicht einfach kompensieren. Dies bleibt ähnlich widersprüchlich wie das liberale Insistieren auf einer Kirchenreform mit dem Rücken zu den gesellschaftlichen Ausgrenzungs- und Herrschaftsverhältnissen.

Pablo Richard weist darauf hin, dass nach dem Zeugnis der Apostelgeschichte die Kirche „nicht aus einer frustrierten Parusieerwartung, sondern aus einer geschichtlich erlebten frohen Gegenwart Jesu“3 erwachsen sei. Anders formuliert: „Die Kirche entsteht nicht deshalb, weil Jesus fortgeht oder weil er nicht wiederkehrt, sie entsteht vielmehr gerade deshalb, weil der Auferstandene nicht fortgeht.“4 Dies in die Richtung einer Gegenwart Jesu zu verstehen, in der das Vermissen der Erfüllung der biblischen Verheißungen zum Verstummen gebracht wird, wäre verfehlt. Zu lesen wäre Richards Hinweis jedoch als Einspruch gegen eine Kirche, die sich als Institution des Heils an die Stelle der ausstehenden Erfüllung der Verheißungen setzt. Messianische Gemeinden wären vielmehr als Ort zu verstehen, an denen der auferweckte Messias in der Praxis seiner Nachfolge sowie in der Erinnerung in Wort und Sakramenten als lebendig erfahren werden kann. In dieser Erfahrung greifen Transzendenz und Immanenz so ineinander, dass sie in der Kraft des Geistes auf die Transzendierung der herrschenden Verhältnisse ausgreifen. Darin käme der eschatologische Charakter der Kirche zum Ausdruck. Eschatologie wäre angesichts der katastrophischen Krisen, in denen sich die Krise des Kapitalismus Ausdruck verschafft, apokalyptisch zuzuspitzen – als Kritik der herrschenden Verhältnisse und Bruch mit ihnen und darin als Hoffnung auf die Erfüllung der biblischen Verheißungen in einem neuen Himmel und einer neuen Erde.

Herbert Böttcher

1Vgl. Pablo Richard, Die Jesus-Bewegung vor der Kirche. Eine befreiungstheologische Interpretation der Apostelgeschichte, Luzern 2022.

2Vgl. Herbert Böttcher, Auf dem Weg zur unternehmerischen Kirche, Würzburg 2022, 145ff.

3Richard, 33.

4Ebd.