Das Evangelium nach Johannes – Bibelimpulse im Pastoralen Raum Andernach: Teil 20 – Johannes 7,30-53

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Der beim Laubhüttenfest in Jerusalem ausgetragene Streit um den Messias Jesus mündete in die Bemerkung: „Da suchten sie ihn festzunehmen; doch keiner legte Hand an ihn, denn seine Stunde war noch nicht gekommen“ (7,30).

„Seine Stunde“ (hora), also die Stunde des Messias, unterscheidet Johannes von kairos. In anderen auch biblischen Zusammenhängen meint kairos, dass jetzt die Zeit reif, erfüllt ist, damit etwas Neues beginnen kann. In diesem Sinn heißt es bei Markus: „Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um und glaubt an das Evangelium“ (1,15).

Bei Johannes hat kairos einen negativen Beiklang. Der Begriff meint einen günstigen Augenblick, eine günstige Gelegenheit. Dabei geht es um günstige Gelegenheiten des gewaltsamen Widerstands gegen Rom. Und diese Gelegenheit ist im Sinne der Zeloten immer gegeben. Es kommt darauf an, diesen kairos auch im strategischen Handeln zu ergreifen. Letztlich wird kairos damit zu einer Zeit, die immer da ist. Daher ist die Zeit für den Messias immer da, sich an die Spitze des bewaffneten Kampfes gegen Rom zu stellen.

Von einem so verstandenen kairos unterscheidet Johannes „die Stunde“. Sie ist nicht immer da. Der Messias ist nicht darauf aus, jede Gelegenheit für bewaffneten Widerstand zu nutzen. Wohin das führt, hatte die Katastrophe der Zerstörung Jerusalems im Krieg der Römer gegen bewaffnete Aufstände gezeigt.

In „der Stunde“ werden falsche Messiaserwartungen zunichte gemacht. Sie ist auf die Stunde ausgerichtet, in der der Messias am Kreuz der Römer sein Leben vollendet und seinen Geist dem Vater übergibt (19,20ff). Zugleich ist sie „die Stunde“ der Verherrlichung Gottes und seines Messias. In dieser „Stunde“ wird die Weltordnung gerichtet. In ihr sind die messianischen Gemeinden und ihr Widerstand gegen Rom verwurzelt.

Da gilt es genau zu fragen, wie dieser Widerstand gelebt werden kann, ohne sich der Katastrophe der Vernichtung in einem illusorischen und messianisch aufgeladenen bewaffneten Kampf auszusetzen.

„Die Stunde“ des Messias, das zeigt das auf Kreuz und Auferweckung fokussierte Evangelium des Johannes, liegt in der Hand Gottes. Daher kann es noch nicht gelingen, „Hand an ihn“ zu legen.

30 Da suchten sie ihn festzunehmen; doch keiner legte Hand an ihn, denn seine Stunde war noch nicht gekommen. 31 Aus der Menge kamen viele Leute zum Glauben an ihn; sie sagten: Wird der Christus, wenn er kommt, mehr Zeichen tun, als dieser getan hat? 32 Die Pharisäer hörten, was die Leute heimlich über ihn redeten. Da schickten die Hohepriester und die Pharisäer Gerichtsdiener aus, um ihn festnehmen zu lassen. 33 Jesus aber sagte: Ich bin nur noch kurze Zeit bei euch; dann gehe ich fort zu dem, der mich gesandt hat. 34 Ihr werdet mich suchen und ihr werdet mich nicht finden; denn wo ich bin, dorthin könnt ihr nicht gelangen. 35 Da sagten die Juden zueinander: Wohin will er denn gehen, dass wir ihn nicht finden können? Will er etwa in die Diaspora der Griechen gehen und die Griechen lehren? 36 Was bedeutet es, wenn er gesagt hat: Ihr werdet mich suchen, aber nicht finden; denn wo ich bin, dorthin könnt ihr nicht gelangen? 37 Am letzten Tag des Festes, dem großen Tag, stellte sich Jesus hin und rief: Wer Durst hat, komme zu mir und es trinke, 38 wer an mich glaubt! Wie die Schrift sagt: Aus seinem Inneren werden Ströme von lebendigem Wasser fließen. 39 Damit meinte er den Geist, den alle empfangen sollten, die an ihn glauben; denn der Geist war noch nicht gegeben, weil Jesus noch nicht verherrlicht war. 40 Einige aus dem Volk sagten, als sie diese Worte hörten: Dieser ist wahrhaftig der Prophet. 41 Andere sagten: Dieser ist der Christus. Wieder andere sagten: Kommt denn der Christus aus Galiläa? 42 Sagt nicht die Schrift: Der Christus kommt aus dem Geschlecht Davids und aus dem Dorf Betlehem, wo David lebte? 43 So entstand seinetwegen eine Spaltung in der Menge. 44 Einige von ihnen wollten ihn festnehmen; doch keiner legte Hand an ihn. 45 Als die Gerichtsdiener zu den Hohepriestern und den Pharisäern zurückkamen, fragten diese: Warum habt ihr ihn nicht hergebracht? 46 Die Gerichtsdiener antworteten: Noch nie hat ein Mensch so gesprochen. 47 Da entgegneten ihnen die Pharisäer: Habt auch ihr euch in die Irre führen lassen? 48 Ist etwa einer von den Oberen oder von den Pharisäern zum Glauben an ihn gekommen? 49 Dieses Volk jedoch, das vom Gesetz nichts versteht, verflucht ist es. 50 Nikodemus aber, einer aus ihren eigenen Reihen, der früher einmal Jesus aufgesucht hatte, sagte zu ihnen: 51 Verurteilt etwa unser Gesetz einen Menschen, bevor man ihn verhört und festgestellt hat, was er tut? 52 Sie erwiderten ihm: Bist du vielleicht auch aus Galiläa? Lies doch nach und siehe, aus Galiläa kommt kein Prophet. 53 Dann gingen alle nach Hause.

31 Aus der Menge kamen viele Leute zum Glauben an ihn; sie sagten: Wird der Christus, wenn er kommt, mehr Zeichen tun, als dieser getan hat? 32 Die Pharisäer hörten, was die Leute heimlich über ihn redeten. Da schickten die Hohepriester und die Pharisäer Gerichtsdiener aus, um ihn festnehmen zu lassen.

Die Reaktionen auf den Messias führen zu Spaltungen. „Viele Leute“ kommen „zum Glauben“ an ihn. Es sind diejenigen, die die Zeichen, die der Messias tut, richtig deuten. Die Rede von den Zeichen knüpft an die Wunder und Zeichen an, unter denen Gott sein Volk aus Ägypten befreit und durch die Wüste geführt hatte. Diese Wunder – so die Verheißung – werden in der Heilszeit neu lebendig werden (vgl. Mi 7,15ff). In ihnen zeigt sich, wer der HERR ist: „Wer ist wie du gewaltig und heilig, gepriesen als furchtbar Wunder vollbringend?“ (Ex 15,11).

Das, was Israels Gott charakterisiert, überträgt Johannes auf den Messias und macht darin deutlich, dass der Vater und sein Messias „eins“ sind (10,30). Sie sind eins in den Wegen der Befreiung, die sie bahnen.

Auf der anderen Seite stehen die Pharisäer. Sie reagieren auf das „was die Leute heimlich über ihn redeten“. Weil sie das für gefährlich halten, kommt es zum Versuch, Jesus festzunehmen. Dabei nennt Johannes „die Hohepriester und die Pharisäer“ als diejenigen, die Jesu Festnahme betreiben und zu diesem Zweck „Gerichtsdiener“ aussenden. Bei den „Gerichtsdienern“ handelt es sich um eine Art Polizeitruppe, die befugt war, bei Unruhen einzuschreiten und Festnahmen vorzunehmen.

Die Rolle der Pharisäer entspricht nicht der Situation zur Zeit Jesu, sondern der zur Zeit des Johannes, in der sie, nach dem Ende des Tempels und der Funktionen der Hohepriester, leitende Funktionen übernommen hatten.

Johannes verbindet sie mit den zu seiner Zeit nicht mehr existierenden „Hohepriestern“, die zur Zeit Jesu mit Rom kooperiert und Jesu Festnahme betrieben hatten. Bei Johannes wird dies besonders in der Passionsgeschichte (18.19) deutlich, in der die ‚Hohepriester‘ als diejenigen in Erscheinung treten, die auf Jesu Verurteilung und Hinrichtung aus sind.

33 Jesus aber sagte: Ich bin nur noch kurze Zeit bei euch; dann gehe ich fort zu dem, der mich gesandt hat. 34 Ihr werdet mich suchen und ihr werdet mich nicht finden; denn wo ich bin, dorthin könnt ihr nicht gelangen.

Weil „die Stunde“ des Messias in der Hand Gottes liegt, und diejenigen, die seine Festnahme betreiben, darüber nicht verfügen können, kann Jesus recht gelassen sagen: „Ich bin nur noch kurze Zeit bei euch; dann gehe ich…“

Die „kurze Zeit“ könnte eine Anspielung auf Jesaja sein. Bei ihm gibt es die Rede von einer „kurzen Zeit“, bis es zur Befreiung kommt (17,17ff). Sie wird in Bildern der messianischen Zeit beschrieben. Da werden die Tauben hören, die Blinden sehen, die Gedemütigten freuen sich am Herrn, während die Unterdrücker nicht mehr da sind.

In den Abschiedsreden greift Jesus die Rede von der „kurzen Zeit“ wieder auf (16,16ff). Im Blick ist jetzt die „kurze Zeit“, in der die Jünger*innen Jesus nicht mehr sehen. Danach kommt wieder eine „kurze Zeit“, dann werden sie ihn sehen. Es ist die Zeit, in der sich Weinen, Klagen und Trauer in vollkommene Freude verwandeln (16,19ff), weil Perspektiven der Befreiung wieder erkennbar werden. Damit dies geschehen kann, geht er nach einer „kurzen Zeit“, die er noch bleiben wird, „fort zu dem, der ihn gesandt hat“. Er geht ein in die Verborgenheit Gottes. Ihn darin zu finden, also unmittelbar zu sehen und zu ‚(be)greifen‘, ist unmöglich.

35 Da sagten die Juden zueinander: Wohin will er denn gehen, dass wir ihn nicht finden können? Will er etwa in die Diaspora der Griechen gehen und die Griechen lehren? 36 Was bedeutet es, wenn er gesagt hat: Ihr werdet mich suchen, aber nicht finden; denn wo ich bin, dorthin könnt ihr nicht gelangen?

Die Menge ist sich unsicher, was Jesus meint, und findet keine Erklärung. Das veranlasst sie zu Spekulationen. Will er etwa, nachdem seine Mission in Judäa gescheitert ist und sogar ein gewaltsames Ende droht, woanders ‚sein Glück‘ versuchen, etwa in der „Diaspora der Griechen“. In der Anspielung auf die Griechen dürfte keine Anspielung auf die Sendung zu den Völkern zu sehen sein. Eher dürfte es um den Weg in die Diaspora der Völker gehen, um von dort aus Israel neu um die Lehre der Tora zu sammeln. Später wird darüber spekuliert werden, ob sein Hinweis, er werde weggehen, wohin die anderen nicht gelangen können, damit zu erklären ist, dass er sich umbringen will (8,22).

Das Unverständnis über Jesu Aussagen kann sich erst dann klären lassen, wenn sein Weg in Kreuz und Auferweckung vollendet sein wird. Dann wird erkennbar, dass dieser Weg der Weg in die Unbegreifbarkeit Gottes ist. Aber auch dann bleibt Gott ein Geheimnis, das zudringlichem Greifen und Be-Greifen entzogen bleibt. Nur so greift es über die Immanenz der römischen Herrschaft wie über die Immanenz einer Geschichte hinaus und kann die widerständige Kraft des Einspruchs und des Widerstands gegen geschlossene Immanenz – sowohl der Herrschaft in der Geschichte wie auch der Geschichte als Verewigung der Zeit entfalten.

37 Am letzten Tag des Festes, dem großen Tag, stellte sich Jesus hin und rief: Wer Durst hat, komme zu mir und es trinke, 38 wer an mich glaubt! Wie die Schrift sagt: Aus seinem Inneren werden Ströme von lebendigem Wasser fließen.

Die mit V. 37 beginnende Szene erhält dadurch ihr besonderes Gewicht, dass Johannes sie „dem letzten Tag des Festes, dem großen Tag“ zuordnet. Es ist der letzte Tag des Laubhüttenfestes. Mit diesem Tag verbinden sich zwei Traditionen: Zum einen wird das Motiv des Wassers aufgegriffen. In einer Prozession werden Wasser aus der Schiloachquelle zum Tempel gebracht. Zum anderen gibt es die Tradition, nach der die Priester siebenmal mit abgeschlagenen Prozessionsweiden um den Altar ziehen. Sie war verbunden mit dem Ruf „Ach, ewiger rette dich!“ Hebräisch heißt das hosch‘ana, woraus das uns bekannte Hosianna geworden ist[1].

In diesem Zusammenhang wird das Wasser zum Symbol der Rettung. Die rettende Kraft des Wassers bezieht Jesus auf sich. Wer von diesem rettenden Wasser trinken will, soll zu ihm kommen; denn „Aus seinem Inneren werden Ströme von lebendigem Wasser fließen“. Dies habe – so Johannes – die Schrift gesagt.

Eine entsprechende Aussage findet sich in der Schrift jedoch nicht als Einzelzitat. Dennoch gibt es eine Reihe inhaltlicher Bezüge. In einem Danklied der aus bzw. vor der Unterdrückung fremder Mächte Geretteten, wird den Geretteten nun zugesprochen: „Ihr werdet Wasser freudig schöpfen aus den Quellen des Heils“ (Jes 12,3). Nach der Rückkehr aus der babylonischen Knechtschaft verkündet Jesaja: „Auf, alle Durstigen, kommt zum Wasser“ (Jes 55,1). Dies wird möglich, weil Israel und sein Gott wieder neu zusammenfinden, nachdem Israel seinen Gott verlassen hatte. Diesen Bruch hatte Jeremia im Bild vom Wasser und Brunnen zum Ausdruck gebracht: „Mich haben sie verlassen, den Brunnen des lebenden Wassers“ (Jer 2,13). Im Rahmen seines Evangeliums hatte Johannes bereits von der Begegnung Jesu mit der Samaritanerin am Jakobsbrunnen erzählt (Joh 4). Ihr hatte Jesus „lebendiges Wasser“ (4,10) angeboten aus einer „Quelle …, deren Wasser ins ewige Leben fließt“ (4,15), d.h. als Quelle einer neuen Welt, in der Frauen nicht mehr dazu gezwungen sind, in der Mittagshitze Wasser zu schleppen, um Vieh und Menschen zu versorgen, und in der auch Israel (Samaritaner und Judäer) wieder zusammenfindet.

 39 Damit meinte er den Geist, den alle empfangen sollten, die an ihn glauben; denn der Geist war noch nicht gegeben, weil Jesus noch nicht verherrlicht war.

Johannes interpretiert die „Ströme von lebendigem Wasser“ als „den Geist, den alle empfangen sollen, die an ihn (d.h. den Messias) glauben“. Schon bei Ezechiel findet sich die Verbindung von Wasser und Geist. Über die nach Babylon Verschleppten wird Wasser ausgegossen, dass sie „von allen … Götzen“ (Ez 36,25) reinigt.

Damit ist Gottes Geist verbunden, der die Verschleppten bis in ihr Inneres verändert und bewirkt, dass sie auf Gottes Rechtssatzungen als Wege zur Befreiung achten und sie erfüllen. So „werdet ihr in dem Land wohnen, das ich euren Vätern gegeben habe. Ihr werdet mein Volk sein und ich, ich werde euer Gott sein“ (Ez 34,28). Johannes verbindet die Sendung des Geistes mit Jesu Verherrlichung am Kreuz der Römer. Erst am Ende seines Weges, an dem der bis in den Tod solidarische und hingerichtete Messias seinen Geist, dem Vater übergeben (19,30) und Gott den Gekreuzigten auferweckt hat, können die Jünger*innen an Ostern die Gabe des Geistes vom Auferweckten empfangen (Joh 20,19-23).

Der Geist schenkt die Kraft, den Weg des Messias im Widerstand gegen Rom zu gehen – und zwar ohne die leibhaftige Gegenwart des Messias, der in die Verborgenheit Gottes eingegangen ist. Der Zusammenhang von Kreuz, Auferweckung, Jesu Eingehen in die Verborgenheit Gottes und der Sendung des Geistes verändert bzw. die Sicht des Messias. Der Messias ist nicht mit dem ‚kairos‘, dem Nutzen jeder auch illusorischen Möglichkeit, gegen Rom vorzugehen verbunden, auch nicht mit der Restitution eines Königtums für Israel, sondern mit der Solidarität mit den Geschlagenen und Möglichkeiten der Rettung und Befreiung, die mit Roms Militarismus ebenso bricht wie mit Träumen von neuen Königen aus Israel.

40 Einige aus dem Volk sagten, als sie diese Worte hörten: Dieser ist wahrhaftig der Prophet. 41 Andere sagten: Dieser ist der Christus. Wieder andere sagten: Kommt denn der Christus aus Galiläa? 42 Sagt nicht die Schrift: Der Christus kommt aus dem Geschlecht Davids und aus dem Dorf Betlehem, wo David lebte? 43 So entstand seinetwegen eine Spaltung in der Menge.

Der Streit um den Messias droht Israel zu spalten. Das spiegelt die Situation zur Zeit des Johannes. Die Pharisäer als die nun leitende Gruppe war darauf bedacht, angesichts der Zerstörung Jerusalems und der Zerstreuung Israels, den Zusammenhalt der Reste Israels zu bewahren. Dies ist durch den Streit um den Messias Jesus und das Agieren der Messianer gefährdet. Die Proklamation eines Messias droht die Macht Roms wieder auf den Plan zu rufen. In unserer Stelle trägt die Menge den Streit um den Messias Jesus aus.

Der Streit kreist darum, ob Jesus „der Prophet“ oder „der Christus“ ist. Wenn Jesus „der Prophet“ genannt wird, ist die Verheißung eines Propheten wie Mose (Dtn 18,15.18) aufgegriffen. Er soll angesichts der Krise Israels, das geschehen lassen, was mit der Befreiung aus Ägypten und dem Gang durch die Wüste begonnen hatte. Dem halten andere entgegen: „Dieser ist der Christus“. Aber das begegnet dem Einwand, dass der Messias aus dem Geschlecht Davids und demnach, wie David aus Betlehem stammen müsse. So hatte es jedenfalls der Prophet Micha formuliert: „Aber du, Betlehem-Efrata, / bist zwar klein unter den Sippen Judas, aus dir wird mir einer hervorgehen, / der über Israel herrschen soll“ (Mi 5,1).

Im Unterschied z.B. zu den synoptischen Evangelien bricht Johannes mit Vorstellungen eines Messias, der an ein Königtum oder an imperiale Herrschaft erinnern könnte. Darin kann er erst recht nach den Katastrophen, zu denen Aufstand und Krieg geführt hatten, keine Spuren des ‚Heils‘ mehr erkennen. So finden sich bei Johannes keine, auch keine relativierenden oder uminterpretierenden Bezüge auf Traditionen eines Messias, der mit David in Verbindung gebracht wird. „Der Messias ist der leibliche Sohn Josephs – Jeschua ben Joseph – und eben nicht der Sohn Dawids.“[2]

44 Einige von ihnen wollten ihn festnehmen; doch keiner legte Hand an ihn. 45 Als die Gerichtsdiener zu den Hohepriestern und den Pharisäern zurückkamen, fragten diese: Warum habt ihr ihn nicht hergebracht? 46 Die Gerichtsdiener antworteten: Noch nie hat ein Mensch so gesprochen.

Die ausgeschickten „Gerichtsdiener“ kehren unverrichteter Dinge zurück. Auffällig ist die Begründung, warum sie nicht Hand an ihn gelegt hatten. Nicht die Angst vor der Menge hat sie von der Festnahme abgehalten. Auch sie waren offensichtlich von Jesu Worten beeindruckt: „Noch nie hat ein Mensch so gesprochen.“

Spiegelt sich darin das Vertrauen auf die schöpferische Macht von Gottes Wort wie es vor allem im Prolog (Joh 1) zum Ausdruck kam? Nicht imperiale Macht, sondern Gottes kreative Macht ist der Quell ewigen Lebens – eine Welt ohne imperiale Macht, geprägt von Gottes schöpferischer Kraft.

47 Da entgegneten ihnen die Pharisäer: Habt auch ihr euch in die Irre führen lassen? 48 Ist etwa einer von den Oberen oder von den Pharisäern zum Glauben an ihn gekommen? 49 Dieses Volk jedoch, das vom Gesetz nichts versteht, verflucht ist es.

Die Pharisäer hegen den Verdacht, dass sich die „Gerichtsdiener“ wie Teile der Menge (7,12) haben „in die Irre führen lassen“. Vielleicht spielt Johannes auf die falschen Propheten und Messiasse an, die mit ihren falschen Versprechen Menschen in die Irre illusionärer Hoffnungen und Aktionen führten.

Jedenfalls haben sie sich nicht an die Haltung und Lehre der „Oberen“ und denjenigen „von den Pharisäern“ gehalten, die den Messias Jesus ablehnen. Stattdessen haben sie sich mit dem Volk gemein gemacht und haben mit dem Gesetz gebrochen. Daher trifft sie der Bannstrahl, den auch das Volk, vor allem das Volk der Armen, das vom Gesetz nichts versteht, trifft: „Dieses Volk … verflucht ist es.“ So stehen sich zwei Positionen gegenüber, die sich gegenseitig ausschließen:

Die ‚Führenden‘ des Volkes beharren darauf, dass wer dem Messias Jesus folgt, dem Gesetz zuwiderhandelt und ‚verflucht‘, also aus der Synagoge ausgeschlossen, ist. Demgegenüber betonen die Messianer, dass sie dem Gesetz, d.h. der Schrift folgen, wenn sie im Messias Jesus Israels Gott der Befreiung am Werk sehen, sogar „eins“ mit ihm. Entsprechend sind diejenigen ‚verflucht‘, ausgeschlossen, die das anders sehen. Die Konfliktsituation treibt in scheinbar unüberbrückbare Gegensätze.

50 Nikodemus aber, einer aus ihren eigenen Reihen, der früher einmal Jesus aufgesucht hatte, sagte zu ihnen: 51 Verurteilt etwa unser Gesetz einen Menschen, bevor man ihn verhört und festgestellt hat, was er tut?

Eine Brücke versucht Nikodemus zu bauen. Er erinnert an das Gesetz, wonach niemand von der Tora verurteilt werden darf, ohne vorher von Richtern angehört worden zu sein (Dtn 1,16f). Damit sind die Pharisäer als solche ‚ertappt‘, die sich selbst nicht an das Gesetz halten, sondern in blindem Eifer die Messianer verurteilen und ausschließen.

52 Sie erwiderten ihm: Bist du vielleicht auch aus Galiläa? Lies doch nach und siehe, aus Galiläa kommt kein Prophet.

Das Drama ist: Israel steht gegen Israel. Die ‚ertappten‘ Pharisäer kommen nicht zur Einsicht, sondern schlagen auch gegen Nikodemus zurück. Auch er wird verdächtigt, Anhänger des Messias zu sein. Er wird verdächtigt aus Galiläa, der vermeintlichen Brutstätte von messianischer Irreführung und des bewaffneten Widerstands gegen Rom zu sein. Legitimiert wird die Verurteilung wieder mit der Schrift, nach der aus Galiläa kein Prophet kommen kann.

In der Schrift gibt es aber keine Festlegung, woher ein Prophet kommt. Sein Auftreten aber ist mit der Wüste verbunden – wie ja auch das des Propheten wie Mose an die Wüstenwanderung anknüpft und auch Johannes der Täufer in der Wüste aufgetreten war. Die Wüste steht aber auch für das Auftreten von Pseudopropheten, die das Volk dadurch in die Irre führen, dass sie es mit falschen Heilsversprechungen zu abenteuerlichen, oft tödlichen Sammlungen in die Wüste locken oder auch zum bewaffneten Kampf motivieren.

53 Dann gingen alle nach Hause.

In dieser verfahrenen Situation geht nichts mehr. Die Festnahme Jesu ist gescheitert. ‚Vermittlungsversuche‘ wie die des Nikodemus scheitern. Ein kairos, Jesus festzunehmen, ist noch nicht in Sicht. Und auch „die Stunde“ ist noch nicht gekommen. Bevor der Streit und das Drama weitergehen, „ging“ zunächst einmal „jeder in sein Haus“.

Zunächst einmal gilt: Alle Türen zu und alle Fragen offen.

Alexander Just

[1]Vgl. Wengst, Klaus, Das Johannesevangelium. 1. Teilband: Kapitel 1-10, Stuttgart 2000 (Theologischer Kommentar zum Neuen Testament Bd. 4), 243. [Wengst, Johannesevangelium]

[2] Ton Veerkamp, Der Abschied des Messias. Eine Auslegung des Johannesevangeliums, I. Teil: Johannes 1,1-10,21, Texte und Kontexte Nr. 109-111, 2006, 135. [Veerkamp, Abschied]