Bibelimpulse im Pastoralen Raum Andernach – Teil 19: Joh 7,1-30

Mit dem 7. Kapitel beginnt ein neuer Abschnitt im Evangelium nach Johannes. Die Zeit vom Laubhüttenfest (7,1) bis hin zum Fest der Tempelweihe (10,22ff) bildet den Rahmen für einen Streit darüber, wer dieser Jesus überhaupt ist. Nicht zufällig konzipiert Johannes die Frage nach dem Messias Jesus entlang der wichtigsten jüdischen Feste. Israel feiert diese Feste, um an Gottes befreiende Taten zu erinnern, im Messias Jesus geschieht diese Befreiung, so Johannes.

So wird nach Ex 23,16; 34,22 das Laubhüttenfest gefeiert als „das Fest des Einsammelns“, das letzte Erntefest im Jahr nach der Obst- und Weinlese“[1]. Es erinnert an Israels Weg durch die Wüste, bei dem Gott sein Volk in Laubhütten wohnen ließ. Es war zugleich der Weg, auf dem Israel von Gott die Tora in Empfang genommen hat. Sie gehört zur Ernte des Weges der Befreiung, die hinüberreicht in das Leben in dem von Gott geschenkten Land. Sie ist es, die für Israel zur Quelle und zum Licht des Lebens wird.

Entsprechend sind Wasser und Licht der Horizont, in dem Jesus sein Leben in der Auseinandersetzung mit den führenden Kreisen Israels deutet. Für Johannes repräsentiert der Messias als Wasser und Licht das Leben aus der Tora. Licht sogar für diejenigen, die blind geboren sind, aber sehen wollen auf den Wegen der Befreiung (9). Als Wasser und Licht führt der Messias als Hirte sein Volk in einem Schafstall Zusammen (10,1ff).

Das Fest der Tempelweihe (10,22) erinnert an das Ende der Herrschaft der Seleukiden, unter der es zur Entwürdigung des Tempels durch das Errichtung einer Zeus Statue gekommen war. An diesem Fest, an dem Jesus darauf insistiert in seinem Handeln und Reden mit dem Vater „eins“ (10,29) zu sein, kommt es zu Versuchen, Jesus zu steinigen und ihn festzunehmen (10,22ff). Diesen Versuchen weicht Jesus durch den Rückzug „auf die andere Seite des Jordan“ (10,40ff) aus.

Doch zunächst zurück zum Laubhüttenfest in Kapitel 7. „Nach Dtn 16,13-15 soll es sieben Tage lang als „Fest der Laubhütten“ gefeiert werden. Das Wohnen in Laubhütten dient dazu, die Nachfahren daran zu erinnern, dass Gott das Volk Israel in Hütten wohnen ließ, als er es aus Ägypten herausführte.“[2] Das Volk Israel hat seine Heimat neben der Welt(ordnung), auf den Wegen der Befreiung.

1 Danach zog Jesus in Galiläa umher; denn er wollte sich nicht in Judäa aufhalten, weil die Juden ihn zu töten suchten. 2 Das Laubhüttenfest der Juden war nahe. 3 Da sagten seine Brüder zu ihm: Geh von hier fort und zieh nach Judäa, damit auch deine Jünger die Taten sehen, die du vollbringst! 4 Denn niemand wirkt im Verborgenen, wenn er öffentlich bekannt sein möchte. Wenn du dies tust, offenbare dich der Welt! 5 Auch seine Brüder glaubten nämlich nicht an ihn. 6 Jesus sagte zu ihnen: Meine Zeit ist noch nicht gekommen, für euch aber ist immer die rechte Zeit. 7 Euch kann die Welt nicht hassen, mich aber hasst sie, weil ich bezeuge, dass ihre Taten böse sind. 8 Geht ihr nur hinauf zum Fest; ich gehe nicht zu diesem Fest hinauf, weil meine Zeit noch nicht erfüllt ist. 9 Das sagte er zu ihnen und er blieb in Galiläa. 10 Als aber seine Brüder zum Fest hinaufgegangen waren, zog auch er hinauf, jedoch nicht öffentlich, sondern im Verborgenen. 11 Die Juden suchten beim Fest nach ihm und sagten: Wo ist er? 12 Und in der Volksmenge wurde viel über ihn hin und her geredet. Die einen sagten: Er ist ein guter Mensch. Andere sagten: Nein, er führt das Volk in die Irre. 13 Aber niemand redete öffentlich über ihn aus Furcht vor den Juden. 14 Schon war die Hälfte der Festwoche vorüber, da ging Jesus zum Tempel hinauf und lehrte. 15 Die Juden wunderten sich und sagten: Wie kann der die Schrift verstehen, ohne dafür ausgebildet zu sein? 16 Darauf antwortete ihnen Jesus: Meine Lehre stammt nicht von mir, sondern von dem, der mich gesandt hat. 17 Wer bereit ist, den Willen Gottes zu tun, wird erkennen, ob diese Lehre von Gott stammt oder ob ich von mir aus spreche. 18 Wer von sich aus spricht, sucht seine eigene Ehre; wer aber die Ehre dessen sucht, der ihn gesandt hat, der ist wahrhaftig und in ihm ist keine Ungerechtigkeit. 19 Hat Mose euch nicht das Gesetz gegeben? Aber keiner von euch befolgt das Gesetz. Warum sucht ihr mich zu töten? 20 Die Menge antwortete: Du bist von einem Dämon besessen. Wer sucht dich denn zu töten? 21 Jesus entgegnete ihnen: Ich habe nur ein einziges Werk vollbracht und ihr alle wundert euch darüber. 22 Mose hat euch die Beschneidung gegeben – sie stammt freilich nicht von Mose, sondern von den Vätern – und ihr beschneidet einen Menschen auch am Sabbat. 23 Wenn ein Mensch am Sabbat die Beschneidung empfangen darf, damit das Gesetz des Mose nicht missachtet wird, warum zürnt ihr mir, weil ich am Sabbat einen Menschen als Ganzen gesund gemacht habe? 24 Urteilt nicht nach dem Augenschein, sondern urteilt gerecht! 25 Da sagten einige Leute aus Jerusalem: Ist das nicht der, den sie u töten suchen? 26 Und doch redet er in aller Öffentlichkeit und man lässt ihn gewähren. Sollten die Oberen wirklich erkannt haben, dass er der Christus ist? 27 Aber von dem hier wissen wir, woher er stammt; wenn jedoch der Christus kommt, weiß niemand, woher er stammt. 28 Während Jesus im Tempel lehrte, rief er: Ihr kennt mich und wisst, woher ich bin; aber ich bin nicht von mir aus gekommen, sondern er, der mich gesandt hat, ist wahrhaftig. Ihr kennt ihn nur nicht. 29 Ich kenne ihn, weil ich von ihm komme und weil er mich gesandt hat. 30 Da suchten sie ihn festzunehmen; doch keiner legte Hand an ihn, denn seine Stunde war noch nicht gekommen.

1 Danach zog Jesus in Galiläa umher; denn er wollte sich nicht in Judäa aufhalten, weil die Juden ihn zu töten suchten.

„Das Pascha, das Fest der Juden, war nahe“ (6,4) hatte es zu Beginn der Erzählung von der Brotvermehrung und ihrer Deutung durch Jesus (6) geheißen. Da hätte es nahe gelegen, dass Jesus zum Paschafest als Wallfahrer nach Jerusalem hinaufzieht. Das aber tut er nicht, sondern „zog in Galiläa umher“ (7,1). Der Grund dafür ist, dass er auf Betreiben der jüdischen Führung getötet werden soll. Ihr Einfluss in Galiläa war hingegen nicht so groß, so dass die Gefahr hier für Jesus geringer war. Noch war nicht die Stunde gekommen in die direkte Auseinandersetzung zu gehen. Johannes betont immer wieder Jesu besonnenes Vorgehen. Es geht nicht um planlose Opferbereitschaft. Jesus ist es, der Zeit und Ort bestimmt, oder viel mehr Israels Gott, der Jesus gesandt hat.

2 Das Laubhüttenfest der Juden war nahe. 3 Da sagten seine Brüder zu ihm: Geh von hier fort und zieh nach Judäa, damit auch deine Jünger die Taten sehen, die du vollbringst! 4 Denn niemand wirkt im Verborgenen, wenn er öffentlich bekannt sein möchte. Wenn du dies tust, offenbare dich der Welt! 5 Auch seine Brüder glaubten nämlich nicht an ihn.

Das Laubhüttenfest wird nach dem Paschafest, dem Aufbruch aus der Sklaverei gefeiert. Es erinnert an Israels Weg durch die Wüste und die Tora als Ernte dieses Weges. Gefeiert wird, was Israel an Früchten des Feldes im von Gott geschenkten Land erntet und zugleich die Tora als Ernte der Befreiung, die Gottes Weisung für das Leben im von ihm geschenkten Land ist. Am Laubhüttenfest ist eine größtmögliche Menschenmenge in Jerusalem versammelt und die jüdische Führung ist präsent. Für den Messias ist das eine Gelegenheit, sich dem Volk zu offenbaren, um es zu sammeln, beinhaltet aber auch die Gefahr, festgenommen und getötet zu werden.

Für Jesu Brüder ist die Öffentlichkeit des Laubhüttenfestes eine ‚gute Gelegenheit‘ seine Taten ‚vor aller Welt‘ sichtbar zu machen. Die „Brüder“ stehen für jene, die darauf drängen, Israels Befreiung im offenen Konflikt mit Rom voranzutreiben. Im Hintergrund dürfte eine Strategie der Zeloten, der bewaffneten Widerstandsbewegung gegenüber Rom stehen. Sie drängt darauf, Gelegenheiten zu nutzen, um Rom die Stirn zu bieten. Mit diesen scheinen Jesu Brüder zu sympathisieren. Sie drängen darauf, nicht im Verborgenen zu bleiben, sondern sich der Welt öffentlich zu zeigen. Davon sollen auch die gegenüber einer offensiven Strategie zögerlichen Jünger überzeugt werden.

Zugleich spielt die Rede von den Brüdern auf einen Konflikt innerhalb der messianischen Gemeinden an. Aus Jesu Familie scheint es Versuche gegeben zu haben, aus der familiären Nähe zu Jesus Ansprüche auf Einfluss abzuleiten. Dies wird auch in den Konflikten Jesu mit seiner Familie erkennbar, von denen ebenfalls die synoptischen Evangelien erzählen (vgl. Mk 3,31ff; Mt 12,46ff; Lk 8,9ff). Es macht auch die Bemerkung verständlich, dass sie nicht an ihn glaubten. Sie gehen Jesu Weg nicht mit, die offene Konfrontation mit Rom zu vermeiden, um Israel nicht ‚ans Messer Roms zu liefern‘.

Veerkamp weist darauf hin, dass zur Zeit des Johannes die Erinnerung an den großen Marsch zelotischer Kämpfer aus Galiläa in die Stadt Jerusalem im Jahr 67 lebendig war, „ein Marsch ins Verderben“[3] Johannes kennt die Gefahren offener Konfrontation und lehrt seine Gemeinde standhaft an der Seite des Messias zu bleiben und dennoch überlegt zu handeln.

6 Jesus sagte zu ihnen: Meine Zeit ist noch nicht gekommen, für euch aber ist immer die rechte Zeit. 7 Euch kann die Welt nicht hassen, mich aber hasst sie, weil ich bezeuge, dass ihre Taten böse sind. 8 Geht ihr nur hinauf zum Fest; ich gehe nicht zu diesem Fest hinauf, weil meine Zeit noch nicht erfüllt ist. 9 Das sagte er zu ihnen und er blieb in Galiläa.

Der Gegensatz zwischen Jesus und seinen Brüdern wird in der unterschiedlichen Sicht auf „die Stunde“ deutlich. Mit dem Satz: „Meine Stunde ist noch nicht gekommen“ weist Jesus zunächst Marias Bitte zurück, Wasser in Wein zu verwandeln. Seine „Stunde“ ist nicht immer da, als „rechte Zeit“, sich der Öffentlichkeit zu zeigen, zu offenbaren, wer er ist und worum es ihm geht. Demgegenüber ist für die Brüder „immer die rechte Zeit“ offensiv gegen Rom militärisch bzw. quasi militärisch, um Herrschaft zu kämpfen. Jesu Stunde ist sein Weg an das Kreuz der Römer. Darin zeigt sich, dass er auf einer anderen Ebene agiert als diejenigen, die mit der römischen Weltordnung um Herrschaft konkurrieren. Den Unterschied zwischen Jesus und der Weltordnung hebt Johannes in der Szene vor Pilatus hervor (18,33ff). Jesu Königtum ist keines nach der Art der Weltordnung. Daher kommt es auch nicht zu einem (quasi) militärischen Kampf (vgl. 18,36).

Jesu Königtum ‚funktioniert‘ nicht in der Logik von Macht und Herrschaft römischer und andere Herrschaften. Deshalb wird er von der Weltordnung gehasst. Die Logik der Zeloten war dagegen für die römische Weltordnung nachvollziehbar, da sie auf die gleiche Weise nur untere anderen Vorzeichen auf Macht und Herrschaft aus war. Der Kampf der Zeloten kann auf der gleichen Ebene von Rom pariert werden. Das ist durchschaubar und militärisch pragmatisch zu regeln. Dazu braucht es keinen Hass.

Jesus hingegen bezeugt, dass die Taten der Weltordnung „böse sind“. Sie töten denjenigen, der die befreienden und solidarischen Wege der Tora geht. Sein Königtum zielt auf die Überwindung von Herrschaft. Daher ist „seine Stunde“ die Stunde seiner Hinrichtung. Sein Leben kommt da ans Ziel, wo er seinen Geist dem Vater übergibt (19,30). Darin, dass die Weltordnung ein solches Leben hinrichtet, zeigt sich ihre Bösartigkeit. Aber auch nach Jesu Auferweckung ist die Stunde für die Jünger*innen „noch nicht“ da; denn er ist „noch nicht zum Vater hinaufgegangen“ (20,18). „Auch die Auferstehung ist keine Legitimation für den zelotischen Kairos“[4]. Zudem leben die Jünger*innen trotz Jesu Auferweckung „noch nicht“ in einer Zeit, in der alles zum Ziel gekommen ist, sondern unter der Herrschaft der Weltordnung. Ihr Weg ist es, auf den messianischen Wegen der Solidarität der Weltordnung zu widerstehen bis auch für sie alles ans Ziel gekommen ist.

Jesus schickt seine Brüder also allein nach Jerusalem zum Fest und bleibt zunächst in Galiläa.

10 Als aber seine Brüder zum Fest hinaufgegangen waren, zog auch er hinauf, jedoch nicht öffentlich, sondern im Verborgenen.

Jesu Brüder suchen die Öffentlichkeit als Ort einer wirksamen Konfrontation. Johannes betont, dass letztlich zwar auch Jesus hinaufgezogen ist, „jedoch nicht öffentlich, sondern im Verborgenen“. Seine Verborgenheit ist Ausdruck einer subversiven Strategie. Sie beinhaltet nicht Anpassung, sondern Widerstehen auf einer Ebene, die es vermeidet, sich in Logik und Strategie mit der Macht Roms ‚gemein‘ zu machen.

11 Die Juden suchten beim Fest nach ihm und sagten: Wo ist er? 12 Und in der Volksmenge wurde viel über ihn hin und her geredet. Die einen sagten: Er ist ein guter Mensch. Andere sagten: Nein, er führt das Volk in die Irre. 13 Aber niemand redete öffentlich über ihn aus Furcht vor den Juden.

Die Ambivalenz „der Volksmenge“ und die Furcht erregende Präsenz der führenden Juden prägen die Szenerie des Festes. In der „Volksmenge“ kommt die Diskussion über Jesus nicht zur Ruhe. Sie bewegt sich zwischen denen, die ihn für einen „guten Menschen“ halten, und solchen, die ihn einen Irreführer des Volkes nennen. Aber es ist gefährlich, diese Diskussion öffentlich zu führen. Zu befürchten ist das sanktionierende Einschreiten der „führenden Juden“.

14 Schon war die Hälfte der Festwoche vorüber, da ging Jesus zum Tempel hinauf und lehrte.

In der Mitte des Festes und im Schutz der Menge tritt Jesus endlich öffentlich auf und lehrt im Tempel. An dem Ort, an dem Israels Gott in der Mitte seines Volkes ‚wohnt‘. Zugleich ist es der Ort, an dem am Laubhüttenfest die Tora gefeiert wird, die als „Schrift“ der Gegenstand der Lehre Jesu ist.

15 Die Juden wunderten sich und sagten: Wie kann der die Schrift verstehen, ohne dafür ausgebildet zu sein?

Wer die Schrift verstehen und lehren will, muss dazu ausgebildet sein. Dass Jesus auf keinen Rabbi als seinen Ausbilder verweisen kann, stößt auf Skepsis.

Formal war der Besuch einer Schule die Voraussetzung des Lehrens und Ausweis, dazu legitimiert zu sein. Man ging in eine bestimmte Schule eines Rabbis und in dem man anschließend lehrt, gibt man seinem Lehrmeister die Ehre. Die Verwunderung war also keine staunende, sondern eine verärgerte: „Wie kann er es wagen?“

16 Darauf antwortete ihnen Jesus: Meine Lehre stammt nicht von mir, sondern von dem, der mich gesandt hat. 17 Wer bereit ist, den Willen Gottes zu tun, wird erkennen, ob diese Lehre von Gott stammt oder ob ich von mir aus spreche.

Jesus hat keinen Lehrmeister vorzuweisen, bei dem er in die Lehre gegangen wäre. Er lehrt also ohne Legitimation und gilt daher als unglaubwürdig, als jemand, der kein Vertrauen verdient. Gegen diesen Vorwurf verweist Jesus auf Gott als seinen Lehrer. Er hat ihn gesandt und durch die Sendung als Lehrer autorisiert. Wer als Bote eines anderen gesandt ist, redet nicht aus eigener Machtvollkommenheit, sondern hat das zu sagen, was der Sendende ihm aufgetragen hat. Voraussetzung dafür erkennen zu können, ob Jesu Lehre von Gott stammt oder ob er aus sich selbst redet, ist das Tun des Willens Gottes nach der Tora. Wer der Lehre der Tora in seinem Leben Geltung verschafft, kann erkennen, dass Jesus als der Gesandt von Israels Gott spricht, der in der Tora seinem Volk Weisungen für seine Wege der Befreiung gegeben hat.

18 Wer von sich aus spricht, sucht seine eigene Ehre; wer aber die Ehre dessen sucht, der ihn gesandt hat, der ist wahrhaftig und in ihm ist keine Ungerechtigkeit.

Dieser Vers führt die Frage nach der Legitimation weiter. Wer aus eigener Machtvollkommenheit redet, kann kein Bote für jemanden sein, der ihn sendet. Wer eigenmächtig redet, ist kein Bote mehr und daher unglaubwürdig. Er kann nicht „wahrhaftig“ das zum Ausdruck bringen, was ihm aufgetragen ist. In diesem Sinn führt er „in die Irre“ (V. 12). Damit ist die Nähe zu „Ungerechtigkeit“ gegeben, zu Verhältnissen, die nicht zuverlässig sind, auf die kein Verlass ist; denn – so könnten wir heute sagen – Verhältnisse des Unrechts sind ver-kehrte, also ‚unwahre Verhältnisse‘.  

Fast schon mantraartig wiederholt Johannes, dass Jesus mit jeder Faser Gottes befreiende Botschaft lebt und verkündigt. In ihm ist keine Ungerechtigkeit, er gibt allein Gott die Ehre. Und wir dürfen ergänzen, im Gegensatz zu vielen anderen, die nur sich die Ehre geben. Wahrheit ist biblisch und gerade auch für Johannes immer verbunden mit der Frage nach Gerechtigkeit. Wo Gottes Name geschieht, die Schreie gehört und Leid gelindert wird, da ist Wahrheit.

19 Hat Mose euch nicht das Gesetz gegeben? Aber keiner von euch befolgt das Gesetz. Warum sucht ihr mich zu töten? 20 Die Menge antwortete: Du bist von einem Dämon besessen. Wer sucht dich denn zu töten?

Dass die Tora gilt, ist zwischen Jesus und seinen Gegnern unumstritten. Der Streit geht darum, wie sie verstanden und gelebt werden soll. Töten steht im Widerspruch zur Tora. Wer also darauf aus ist, Jesus zu töten, kann das Gesetz nicht befolgen. Diesen Vorwurf weist „die Menge“ entrüstet zurück. Wer sich solches zusammen phantasiert, kann nur „von einem Dämon besessen“ sein.

Mit Vers 19 geht Johannes wieder einen Schritt weiter und lässt Jesus den Juden den Spiegel vorhalten. Ihr habt von Mose das Gesetz Gottes bekommen, ihr wisst, dass es gegen dieses Gesetz ist zu töten und trotzdem sucht ihr mich zu töten und verstoßt damit auch gegen das Gesetz. Die Menge ist ganz empört, da sie vielleicht noch nichts vom Plan des Hohen Rates weiß.

21 Jesus entgegnete ihnen: Ich habe nur ein einziges Werk vollbracht und ihr alle wundert euch darüber. 22 Mose hat euch die Beschneidung gegeben – sie stammt freilich nicht von Mose, sondern von den Vätern – und ihr beschneidet einen Menschen auch am Sabbat. 23 Wenn ein Mensch am Sabbat die Beschneidung empfangen darf, damit das Gesetz des Mose nicht missachtet wird, warum zürnt ihr mir, weil ich am Sabbat einen Menschen als Ganzen gesund gemacht habe?

Mit dem „einzigen Werk“, das bei Jesu Gegnern Verwunderung hervorruft, greift Jesus den Streit über die Heilung des Gelähmten am Sabbat (Joh 5) auf. Er verweist darauf, dass es die Beschneidung schon vor Mose, also vor der Tora gab. Sie geht nämlich auf Abraham zurück (vgl. Gen 17,9ff). Wer beschnitten ist, wird zum Kind Abrahams und Teil des Volkes. Die Beschneidung erfolgt am achten Tag nach der Geburt – und zwar auch dann, wenn sie auf den Sabbat fällt. Daraus folgert Jesus: Dann kann mir doch daraus ‚kein Strick‘ gedreht werden, wenn ich „am Sabbat einen Menschen als Ganzen gesucht gemacht habe?“

Damit knüpft Jesus an eine in der jüdischen Tradition vertraute Abwägung an. Das Gebot des Sabbats kann mit anderen Geboten in Konflikt geraten. Jede Art von Lebensgefahr verdrängt das Gebot der Sabbatruhe, weil es wichtiger ist, Menschen aus Gefahr zu retten. Auch das Gebot der Beschneidung steht höher als das Gebot, am Sabbat nicht zu arbeiten. Vor diesem Hintergrund fragt Jesus: „Warum zürnt ihr mir, wenn ich am Sabbat einen Menschen als Ganzen gesund gemacht habe?“

Die Beschneidung eines Gliedes des Körpers (vielleicht auch ‚des‘ (männlichen) Gliedes als Ausdruck phallokratischer Macht) ermöglicht Heilung durch die Aufnahme in die heilend-befreiende Geschichte Israels, die Israel als Volk konstituiert. Wenn das am Sabbat möglich bzw. geboten ist, kann es doch nicht verwerflich sein, einen Menschen als Ganzes zu heilen. Und da es bei der Heilung des Gelähmten um die Heilung Israels aus seiner Lähmung durch die Zerstörung des Tempels und die Vertreibung im Krieg der Römer gegen Israels Befreiung geht, steht die Heilung ganz Israels auf dem Spiel. Das aber ist am Sabbat nicht verboten, sondern darum geht es gerade am Sabbat, dem Tag der Erinnerung an die Befreiung und der Hoffnung auf die mit ihm verheißene Ruhe als eines erfüllten Lebens in Gerechtigkeit und Frieden.

24 Urteilt nicht nach dem Augenschein, sondern urteilt gerecht!

Nicht „nach dem Augenschein“ und auch nicht „nach dem Hörensagen“ entscheidet nach Jes 11,3f der erwartete Retter, auf dem „der Geist des HERRN ruht“ (Jes 11,2). Im Unterschied zur Vagheit des Augenscheins ist ein gerechtes Urteil an Gerechtigkeit und Solidarität mit den Geringen und Armen (Jes 11,4) orientiert. Das muss in der Orientierung an der Tora zur Geltung kommen. Sie zielt auf die Heilung eines „Menschen als Ganzen“ und zugleich auf die Heilung ganz Israels.

Damit unterstreicht Johannes noch einmal das Thema seines ganzen Evangeliums. Es geht in seinen Augen darum, die Tora als Ganze in die jeweilige Situation hineinzubuchstabieren. Nicht einzelne Sätze wörtlich herauszugreifen, sondern den Duktus, die Befreiung Israels als roten Faden zu verstehen, der auf die jeweilige Situation hin ausgelegt werden will. Nur dann kommt man zu einem gerechten Urteil, das in den Augen des Evangelisten dazu führen muss, Jesus als den Messias Israels zu erkennen.

 25 Da sagten einige Leute aus Jerusalem: Ist das nicht der, den sie zu töten suchen? 26 Und doch redet er in aller Öffentlichkeit und man lässt ihn gewähren. Sollten die Oberen wirklich erkannt haben, dass er der Christus ist? 27 Aber von dem hier wissen wir, woher er stammt; wenn jedoch der Christus kommt, weiß niemand, woher er stammt.

Eine dritte Gruppe kommt hier ins Spiel: „einige Leute aus Jerusalem. Während die Menge also eher Juden aus Galiläa und der Diaspora verkörpern, gibt es in Jerusalem nicht nur die führenden Männer, sondern auch jene „Leute aus Jerusalem“. Sie haben Kenntnis von dem Plan des Hohen Rates, Jesus festzunehmen. Nun aber sind sie verwundert, dass man Jesus in aller Öffentlichkeit gewähren lässt. Sie beginnen darüber zu spekulieren, ob die Führenden wohl doch erkannt hätten, dass Jesus der Messias ist. Aber das kann ‚eigentlich‘ nicht sein, denn vom Messias „weiß niemand, woher er stammt“, während doch von Jesus bekannt ist, dass er aus Nazareth kommt.

28 Während Jesus im Tempel lehrte, rief er: Ihr kennt mich und wisst, woher ich bin; aber ich bin nicht von mir aus gekommen, sondern er, der mich gesandt hat, ist wahrhaftig. Ihr kennt ihn nur nicht. 29 Ich kenne ihn, weil ich von ihm komme und weil er mich gesandt hat.

Jesu Gegner mögen zwar wissen, woher er kommt und daher meinen ihn zu kennen, das Entscheidende ist damit aber nicht gesagt. Egal woher Jesus stammt, er ist nicht von sich aus gekommen, sondern als Gesandter. Er ist „wahrhaftig“. Das ist daran zu erkennen, dass immer noch gilt, was Gott für sein Volk getan hat. Er hat es „herausgeführt … aus dem Sklavenhaus“ (Dtn 7,8). Er ist „der treue Gott; noch nach tausend Generationen bewahrt er den Bund und erweist denen seine Huld, die ihn lieben und seine Gebote bewahren“ (Dtn 7,9). Genau diesen Gott kennt Jesus, von ihm kommt er und ist von ihm gesandt. Darin gründet Jesu „Wahrhaftigkeit“.

Der Vorwurf „Ihr kennt ihn nur nicht“, darf nicht antijudaistisch interpretiert oder nachgesprochen werden. Jesus kennt keinen anderen Gott als den Gott, der in Israel durch die Tora bekannt ist. Er verkündet keinen neuen Gott und gründet auch keine neue Religion.

Israels Gott aber hat nicht verstanden, kennt ihn nicht, wer Jesus zu töten versucht. Er hat nicht verstanden, dass der in Israel bekannt Gott in seinem Gesandten zur Geltung kommt. Aber auch dann, darf Juden nicht vorgeworfen werden, dass sie Jesus nicht als ihren Messias erkennen. Dabei darf nicht übersehen werden, dass das Töten in eine andere Richtung wirksam wurde: Getötet wurden die Juden. Sie sollten endgültig vernichtet werden. Das muss auch im Bewusstsein bleiben, wenn es jetzt heißt:

30 Da suchten sie ihn festzunehmen; doch keiner legte Hand an ihn, denn seine Stunde war noch nicht gekommen.

Die führenden Juden haben erkannt, dass ihnen Gefahr droht. „Wenn wir ihn gewähren lassen, werden die Römer kommen und uns die heilige Stätte und das Volk wegnehmen“, heißt es nach der Auferweckung des Lazarus, ein Zeichen für die Aufrichtung Israels, im Hohen Rat (11,46). Aber „seine Stunde war noch nicht gekommen“. Die Diskussionen um den Messias gehen weiter. Es ist noch reichlich Klärungsbedarf, bis alles gesagt ist.

An dieser Stelle kommt es zum ersten Gesuch Jesus festzunehmen. Doch Johannes unterstreicht, noch war keiner in der Lage Hand an ihn zu legen, weil seine Stunde noch nicht gekommen war. Erst, wenn die Stunde vollendet ist, erst, wenn Gott es zu lässt, können die Häscher Gewalt über den Messas erlangen.

Alexander Just

[1] Wengst 269.

[2] Wengst, 269.

[3] Veerkamp 129.

[4] Veerkamp, 129.