Das Evangelium nach Johannes – Bibelimpulse im Pastoralen Raum Andernach, Teil 18: Joh 6, 60-71

Nachdem Jesus das Streitgespräch mit den führenden Juden beendet hat, treten die Jünger*innen in den Blick. Es geht also um die messianische Gemeinde. Sie steht vor einer Zerreißprobe. Zu zerreißen droht sie an der Frage, wie Jesus als Messias zu verstehen ist und was es heißt als messianische Gruppe/Gemeinde in seiner Nachfolge zu leben.

Eine Frage, die bis heute aktuell ist.

Johannes überträgt auch hier die Auseinandersetzung in der messianischen Gemeinde seiner Zeit zurück auf die Zeit Jesu.

Als Ort für die sog. Brotrede gibt Johannes zunächst Kafarnaum an. An ihrem Ende gibt er den Ort genauer an. Jesus redete „in der Synagoge“ (6,59). Zum einen wird damit deutlich, dass die messianische Gemeinde sich als zugehörig zur Synagoge sah, sich also von ihren jüdischen Wurzeln her verstand. Zum anderen konzentrieren sich um die Synagoge auch die Auseinandersetzungen um den Messias. Im Kern geht es ja darum, ob dem Messias und dem, was die messianischen Gruppen von ihm halten ‚zu trauen‘ ist und welchen Stellenwert die damit verbundenen Konflikte mit Rom haben. Diese Auseinandersetzungen führen auch zu Spaltungen unter den ‚Messianern‘. Davon erzählt unsere Stelle:

Doch schauen wir in den Text:

60 Viele seiner Jünger, die ihm zuhörten, sagten: Diese Rede ist hart. Wer kann sie hören? 61 Jesus erkannte, dass seine Jünger darüber murrten, und fragte sie: Daran nehmt ihr Anstoß? 62 Was werdet ihr sagen, wenn ihr den Menschensohn aufsteigen seht, dorthin, wo er vorher war? 63 Der Geist ist es, der lebendig macht; das Fleisch nützt nichts. Die Worte, die ich zu euch gesprochen habe, sind Geist und sind Leben. 64 Aber es gibt unter euch einige, die nicht glauben. Jesus wusste nämlich von Anfang an, welche es waren, die nicht glaubten, und wer ihn ausliefern würde. 65 Und er sagte: Deshalb habe ich zu euch gesagt: Niemand kann zu mir kommen, wenn es ihm nicht vom Vater gegeben ist. 66 Daraufhin zogen sich viele seiner Jünger zurück und gingen nicht mehr mit ihm umher. 67 Da fragte Jesus die Zwölf: Wollt auch ihr weggehen? 68 Simon Petrus antwortete ihm: Herr, zu wem sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens. 69 Wir sind zum Glauben gekommen und haben erkannt: Du bist der Heilige Gottes. 70 Jesus erwiderte: Habe ich nicht euch, die Zwölf, erwählt? Und doch ist einer von euch ein Teufel. 71 Er sprach von Judas, dem Sohn des Simon Iskariot; denn dieser sollte ihn ausliefern: einer der Zwölf.

60 Viele seiner Jünger, die ihm zuhörten, sagten: Diese Rede ist hart. Wer kann sie hören?

Der Tumult, den die Auseinandersetzung um die Frage nach Jesu Messianität und der Rolle der messianischen Bewegungen auslöste, spiegelt sich in der geschilderten Reaktion auf Jesu Rede: „Diese Rede ist hart“ (V. 60). Wir können nur erahnen welchen Tumult Johannes nach dieser Rede in seiner Gemeinde erwartet hat, dass er hier viele seiner Jünger so reagieren lässt.

Das griechische Wort sklēros, das mit ‚hart‘ übersetzt wird, zeigt an, dass es bei der ‚messianischen Frage‘ um eine von Leben und Tod, also um eine Existenzfrage der messianischen Gruppen geht. Das wird deutlich, wenn wir sie mit der Erzählung der Vertreibung Saras und Hagars (Gen 21,9ff) in Verbindung bringen. Da heißt es: „Die Sache war sehr böse in Abrahams Augen; denn es ging um seinen Sohn“ (Gen 21,10). Das Wort, das mit ‚böse‘ übersetzt wird, ist ‚sklēros‘. Es wird in der Bibel auch „dann gebraucht, wenn von einem „verstockten Herzen“ (leb qascha) die Rede ist. Pharaos Herz war sklēros. Was Jeschua da alles gesagt hatte, sei böse und verbohrt, realitätsblind, fanatisch.“[1]

61 Jesus erkannte, dass seine Jünger darüber murrten, und fragte sie: Daran nehmt ihr Anstoß? 62 Was werdet ihr sagen, wenn ihr den Menschensohn aufsteigen seht, dorthin, wo er vorher war?

Wenn Johannes davon erzählt, Jesu Jünger*innen hätten gemurrt, stellt er sie in die Reihe derer, die beim Auszug aus Ägypten gegen Mose und Aaron protestierten und ihnen vorwarfen, sie in den Tod statt in die Freiheit zu führen. Deshalb wollten sie wieder zurück – nach Ägypten. Das Essen des ‚Fleisches‘ und das Trinken des ‚Blutes‘ des Messias ist Ausdruck der Zugehörigkeit zu dem Weg, den der Messias geht. Und der führt offensichtlich nicht zur Befreiung, sondern unter die Knute der Römer bis an ihr Kreuz, das für Rebellen gegen ihre Herrschaft vorgesehen war. Jesu Frage: „Daran nehmt ihr Anstoß?“ bezieht diesen Zusammenhang ein. Das Wort, das im griechischen Text steht heißt skandalizeis. Es ist entsprechend scharf. Es geht um einen „Stein des Anstoßes“, an dem die messianische Gemeinschaft sich nicht nur ‚stoßen‘, sondern ‚zu Fall‘ kommen kann. Es wird noch einen größeren ‚Anstoß‘ geben, als das, was sich unmittelbar in den Tumult nach der Rede entlädt: nämlich das Aufsteigen des Menschensohns, das sich ausgerechnet mit dem Kreuz der Römer verbindet.

An diesem Ort zeigt sich Jesu Solidarität in letzter Konsequenz. Daher ist er der Ort, an dem alles „vollbracht ist“ und er seinen Geist dem Vater „übergeben“ kann (Joh 19,30).

63 Der Geist ist es, der lebendig macht; das Fleisch nützt nichts. Die Worte, die ich zu euch gesprochen habe, sind Geist und sind Leben.

Der „Geist…, der lebendig macht“ steht im Gegensatz zu dem, was „hart“, verschlossen und verstockt macht. Es geht also nicht idealistisch-dualistisch um den Gegensatz von Geist und Fleisch/Materie, sondern darum, was das Fleisch lebendig macht. Erinnert ist an Ez 37,5f: „So spricht GOTT, der Herr, zu diesen Gebeinen: Siehe, ich selbst bringe Geist in euch, dann werdet ihr lebendig. 6 Ich gebe euch Sehnen, umgebe euch mit Fleisch und überziehe euch mit Haut; ich gebe Geist in euch, sodass ihr lebendig werdet. Dann werdet ihr erkennen, dass ich der HERR bin.“

Ohne den Geist nützt das Fleisch nichts, ist zu nichts zu gebrauchen. Ezechiel spricht die Situation an, in der Israel sich im Exil auflöst, das lebendige Fleisch des Volkes also in Sehnen und Knochen zerfällt. Der Geist, der in das fährt, was zu nichts mehr ‚nütze‘ ist, macht Israel wieder lebendig. Dieser Geist – so wissen diejenigen, die das Evangelium des Johannes schon einmal oder mehrmals – zu Ende gelesen haben, macht auch die messianischen Gemeinden lebendig, die in Angst vor Rom und im Vermissen des Messias zu ‚erstarren‘ drohen. Der Geist macht sie lebendig, wenn sie sich von den Worten und Taten, vom ‚Kauen‘ seiner Worte und seines Fleisches und vom Trinken seines Blutes prägen lassen.

64 Aber es gibt unter euch einige, die nicht glauben. Jesus wusste nämlich von Anfang an, welche es waren, die nicht glaubten, und wer ihn ausliefern würde.

Wieder einmal betont Johannes, dass Jesus Herr der Lage ist. Er weiß, und zwar von Anfang an, wer nicht glaubt und er weiß auch, wer ihn ausliefern wird. Denn Gott ist es, der den Menschen den Weg zu Jesus erschließt. Deshalb können sie bei ihm bleiben, sich ihm und seinem Weg anvertrauen.

65 Und er sagte: Deshalb habe ich zu euch gesagt: Niemand kann zu mir kommen, wenn es ihm nicht vom Vater gegeben ist. 66 Daraufhin zogen sich viele seiner Jünger zurück und gingen nicht mehr mit ihm umher.

Den Zugang zum Messias erschließt Israels Gott. Ohne ihn und die Inhalte, die mit seinem Namen verbunden sind, bleibt unverständlich, was es mit dem Messias Jesus auf sich hat. Das aber können oder wollen nicht alle nachvollziehen. Deshalb „zogen sich viele seiner Jünger zurück“. Der griechische Text formuliert schärfer: ‚Sie gingen weg‘ und unterstreicht das Weggehen mit einem nachgeschobenen: ‚nach rückwärts‘. Dies könnte – im Zusammenhang mit dem Murren (V. 61) – noch einmal an die gegen Mose und Aaron protestierende Wüstengeneration erinnern. Auch sie wollte ‚nach rückwärts‘, nach Ägypten. Wer zurück unter die Fittiche der Herrschaft will, kann nicht mehr auf den Spuren des Messias gehen. Im Blick auf die Situation der messianischen Bewegung – könnte das ‚Zurück‘ auch ein Hinweis auf die Rückkehr von Menschen aus den Kreisen der Messianer in den Synagogenverband sein, aus dem Messianer – so Johannes – ausgeschlossen worden waren[2].

67 Da fragte Jesus die Zwölf: Wollt auch ihr weggehen?

Die Zwölf werden hier unvermittelt eingeführt. Sie tauchen nur noch in 20,24 auf, wo Thomas als einer der Zwölf bezeichnet wird. Ansonsten spielen sie im Evangelium des Johannes keine Rolle. Das dürfte damit zusammenhängen, dass er sich von Gemeinden absetzt, die mit dem Hinweis auf die ‚Zwölf‘ bereits sich herauskristallisierende hierarchische Strukturen legitimieren. Zentrale Gestalten seines Evangeliums sind auch nicht Jakobus und Johannes wie bei den Synoptikern, sondern Andreas, Philippus, Thomas, Natanael… Dennoch greift Johannes an unserer Stelle, wo ein Bruch droht, der die messianische Bewegung zerreißen könnte, auf „die Zwölf“ zurück. Jenseits aller Hierarchisierungen repräsentierend sie die zwölf Stämme Israels und damit die Verbindung zu Israel und seinen messianischen Traditionen. Damit darf es zu keinem Bruch kommen. Aber die Gefahr des Bruchs ist real. Das Problem wird deutlich in der Frage: „Wollt auch ihr weggehen?“

68 Simon Petrus antwortete ihm: Herr, zu wem sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens.

Petrus antwortet auf die Frage, von der die Existenz der messianischen Bewegung abhängt. Der erste Teil seiner Antwort klingt eher resigniert im Sinne von: Wir haben doch keine Alternative. Der zweite Teil kommt zum Inhalt der Sache. In den Worten des Messias geht es um die ‚kommende Weltzeit‘, um die Welt Gottes, in der Herrschaft  überwunden ist und Befreiung gelebt werden kann. Auffällig ist der Unterschied zum Bekenntnis des Petrus im Evangelium nach Matthäus. Auf das Bekenntnis des Petrus: „Du bist der Christus…“ antwortet Jesus mit der Feststellung, dass auf diesem Bekenntnis die Kirche gebaut sei (Mt 16,16ff). Bei Johannes hingegen deutet nichts darauf hin, dass das Bekenntnis des Petrus ‚Fundament‘ der Kirche sei. Es ist eingebettet in einen Konflikt, der die messianische Bewegung zu spalten droht. In dieser Situation stellt es eine Brücke für den Zusammenhalt der messianischen Bewegung dar.

69 Wir sind zum Glauben gekommen und haben erkannt: Du bist der Heilige Gottes.

Sie stehen zum Vertrauen auf den Messias. Diese Vertrauen hat einen Grund, auf dem sie stehen können oder besser eine Wurzel, aus der sie befreit leben können, die Erkenntnis: „Du bist der Heilige Gottes“. Diese Erkenntnis hat der Vater, Israels Gott, in seinem Wort „gegeben“ (vgl. Joh 6,65).

Interessant ist, dass der Titel „der Heilige Gottes“ nur noch in Mk 1,24 und der Parallelstelle Lk 4,34 vorkommt. Dort sind es die Dämonen, die von einem Mann Besitz ergriffen haben, die Angesichts der Begegnung mit Jesus erkennen, mit wem sie es zu tun haben. Sie stellen damit heraus, dass Jesus auf die Seite Gottes gehört, denn in Israel ist zunächst Gott selbst heilig. Er ist der Heilige Israels wie es bei Jesaja heißt. Aber auch alles, was sich von der Weltordnung distanziert, wird heilig genannt. So wie Israel als Ganzes: „Heilig sollt ihr sein; denn heilig bin ich, Adonaj, euer Gott“ (Lev 19,2). In dieser Verbindung können auch Einzelne heilig sein, wie Aaron (Ps106,16), Elischa (2Kön 4,9), Simson (Ri 13,7; 16,17). Immer geht es also um die enge Verbindung zum Heiligen Israels und das Streiten für ihn.

Das Bekenntnis des Petrus unterstreicht diese Aspekte. Jesus gehört ganz und gar zu Gott und in ihm geschieht Gottes rettende Kraft, in ihm wird inmitten der Weltordnung Roms Gottes Weltzeit sichtbar. Wer sich zu Jesus bekennt, bekennt sich daher zum Gott Israels und der Weltzeit, die mit ihm im Kommen ist.

70 Jesus erwiderte: Habe ich nicht euch, die Zwölf, erwählt? Und doch ist einer von euch ein Teufel. 71 Er sprach von Judas, dem Sohn des Simon Iskariot; denn dieser sollte ihn ausliefern: einer der Zwölf.

Selbst im Kreis der ‚Zwölf‘ ist das Vertrauen auf den Messias nicht gesichert. Aus ihm kommt der Verrat. Das kann auch die Erwählung der „Zwölf“ nicht verhindern. Diese Erfahrung kann aber nicht als Schwäche gegen Jesus ausgespielt werden; denn er ‚wusste‘, dass Judas ihn ausliefern sollte. Mit dieser Bemerkung ist eine Brücke geschlagen zu den folgenden Kapiteln 7 und 8. Darin wird erzählt, wie die Führenden unter den Juden den Tod Jesu betreiben. Dies wird von „Juden, die zum Glauben an ihn gekommen waren“ (Joh 8,71) und vielleicht wieder ‚gegangen‘ sind, unterstützt. Der Verrat kommt aus den eigenen Reihen. Davor ist die messianische Bewegung nicht sicher. Das Problem des ‚Weggehens‘ ist nicht gelöst. Deshalb erzählt Johannes sein Evangelium immer wieder so, dass er in aller ‚Bedrängnis‘ durch Rom und die Verzweiflung, vom Messias verlassen zu sein, zum ‚Bleiben‘ in der messianischen Bewegung auffordert.

Diese Aufforderung, der messianischen Bewegung treu zu ‚bleiben‘, gilt auch heute noch. Es spricht auch vieles dafür, das in der Kirche zu tun. Das entscheidende Problem der Kirche liegt ‚jenseits‘ der Spannungen zwischen ‚Klerikalen‘ und ‚Liberalen‘. Es liegt in der Anpassung an die kapitalistischen Herrschaftsverhältnisse. Wer in der messianischen Bewegung ‚bleiben‘ will, wird dies in Opposition zu dieser Anpassung tun müssen. Im Blick auf die Sozialgestalt der Kirche wird zu bedenken sein, dass uns die messianische Tradition trotz aller Anpassung in der Gegenwart und in der Geschichte im Rahmen dieser Kirche überliefert worden ist. Sie unabhängig davon verorten zu wollen, wäre wohl eher idealistisch als materialistisch gedacht.

Zusammengestellt von Alexander Just

[1] Ton Veerkamp, Der Abschied des Messias. Eine Auslegung des Johannesevangeliums, I. Teil: Johannes 1,1-10,21, Texte und Kontexte Nr. 109-111, 2006, 123. [ Veerkamp, Der Abschied]

[2] Vgl. Klaus Wengst, Bedrängte Gemeinde und verherrlichter Christus. Ein Versuch über das Johannesevagelium, München 1990, 124.