Erster Fastensonntag 2023: Predigt zu Gen 2,7-9.3,1-7 und Mt 4,1-11

Wenn Menschen heute an die Zukunft denken, tauchen keine verheißungsvollen Visionen auf, sondern eher Sorgen und Ängste. Sorgen bereitet der Krieg in der Ukraine und seine mögliche Eskalation zu einem atomaren Weltkrieg. Schon junge Menschen fürchten sich vor Altersarmut und nicht weniger davor, was als Folgen der Klimakatastrophe auf sie zukommt. Menschen, die im Berufsleben stehen, treibt die Angst um, nicht mehr mithalten zu können und als Verlierer abzusteigen. Auch in Deutschland geraten immer mehr Menschen in Armut, vor allem Kinder. Das alles fällt zusammen mit der weltweiten Zerstörung der Grundlagen des Lebens, dem Erdbeben in der Türkei und Syrien, dem Zerbrechen menschlicher Beziehungen, der Verrohung durch Hass und Gewalt, mit Flucht und Vertreibung. Die Welt bewegt sich in einem Modus der Dauerkrisen. Manche fragen sich, ob das alles noch zu steuern ist oder in die Abgründe immer größerer Katastrophen treibt.

Ich erhebe meine Augen zu den Bergen des Herrn: Woher kommt mir Hilfe?“ heißt es in einem Psalm (121,1). Wir könnten ihn weiterführen mit der Frage: Gott, wo bist du angesichts all unserer Sorgen und Ängste, angesichts der Zerstörung deiner ganzen Schöpfung? Aber Gott scheint zu schweigen und der Glaube an ihn zu verdunsten. Dabei verdunstet auch Gottes Frage an Kain: „Wo ist Abel, dein Bruder? … Das Blut deines Bruders erhebt seine Stimme und schreit zu mir vom Erdboden“ (Gen 4,9). Da scheint kein Gott und auch kein Mensch mehr zu sein, der antwortet.

Was ist mit dem Menschen, der die Erinnerung an Gott verdunsten lässt, der nicht mehr nach Gott schreit und auch nicht mehr die Stimmen hört, die aus dem Blut schreien, das über den Erdboden ausgegossen wird? Ist der Mensch dabei, zu einem „anpassungsschlauen Tier“ zu werden wie es Karl Rahner einmal in einer Horrorvision beschrieben hatte? Er wäre dann ganz auf den Kampf um das eigene Dasein ausgerichtet – nicht mehr fähig, die Stimmen zu hören, die aus dem Blut der vernichteten Mitmenschen zum Himmel schreien. Seine Schlauheit bestände darin, sich den Verhältnisse anzupassen. In solcher Schläue schwindet die Frage nach Gott dahin und mit ihr die Frage: „Mensch, wo ist dein Bruder Abel?“ Je mehr diese Fragen verstummen, desto mehr verschwinden auch die Fragen nach Erlösung und Befreiung aus dem Bewusstsein. Es erscheint als normal und alternativlos, in Verhältnissen zu leben, in denen Menschen versklavt und ausgegrenzt werden, auf den Schlachtfeldern verbluten wie Fliehende an den Grenzen. Gesichert sein muss nur die Freiheit zu kaufen und zu verbrauchen, sich bewegen zu können, so schnell und so ungehindert wie es technisch möglich ist.

Was ist mit Gott? Er scheint aufgegangen zu sein in einer Spiritualität, die Hilfe zu Selbstfindung und Lebensglück verspricht. Darin ist kein Platz für die Frage: „Wo ist Abel, dein Bruder?“ Auch den Kirchen scheint die Frage nach Gott abhanden zu kommen. Sie sind – jedenfalls in Deutschland – vor allem mit sich selbst beschäftigt. Sie wollen mit unternehmerischen Konzepten auf sich aufmerksam machen, um an religiöse Kundschaft zu kommen. Die Fastenzeit wird angepriesen als Impuls für Achtsamkeit und Selbstoptimierung. Auch beim Fasten soll es um Gewinn gehen, darum zu entschlacken, bewusster zu leben, zu einem besseren Einklang mit sich selbst und mit der Welt zu finden. Durch Konkurrenz und Selbstbehauptung gestressten Menschen wird sie – je nach Bedarf – als Wellness- oder Fitnesskur angeboten. Auf der Suche nach Kunden für eine solche Spiritualität wird die Frage nach Gott und die von ihm nicht zu trennende Frage nach dem Blut Abels zum Ballast.

Der auf der Flucht vor den Nazis umgekommene jüdische Philosoph Walter Benjamin hatte bereits vor 100 Jahren davon gesprochen, der Kapitalismus sei zur Religion geworden. Er gebe Antwort auf jene „Sorgen, Qualen, Unruhen, auf die ehemals die so genannten Religionen Antwort gaben“1. Die alte Frage des Psalms: „Woher kommt mir Hilfe?“ findet seine Antwort im Kapitalismus. Benjamin wusste bereits, dass solche Erwartungen illusionär sind, weil der Kapitalismus das Leben und die Grundlagen des Lebens zerstört. Umso erstaunlicher war es für ihn, dass Menschen sich gerade an den Kapitalismus binden wollen, von ihm nicht lassen können. Offensichtlich ist es „einfacher, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus“ (Frederic Jameson).

Dass alles so weitergeht, darin sah Benjamin den Weg in eine voranschreitende Katastrophe. Er setzte darauf, dass dieser Weg durch kritisches Nachdenken gestört und unterbrochen werden kann. Für solche Unterbrechung steht die jüdische Gestalt des Messias. Mit ihr verbindet er einen rettenden Bruch mit den herrschenden Verhältnissen. Von solchen Einsichten könnten Christen lernen. Sie müssten den Versuchungen widerstehen, sich ein religiöses Plätzchen im Anschluss an die Verhältnisse zu sichern. Stattdessen sollten sie sich mit den messianischen Traditionen der Bibel wieder neu vertraut machen. Darin könnten sie Gott und seinem Messias begegnen, der verschlossene Grenzen in Herzen und Hirnen ebenso wie die Grenzen der Verhältnisse sprengt. Dies geht jedoch nicht, ohne diese Grenzen zu erkennen und vor Gott zu bekennen.

Unsere Lesung aus dem Buch Genesis verortet sie in dem Verlangen, „wie Gott“ – bzw. genauer übersetzt – „wie Götter“ sein zu wollen. Wenn Menschen sein wollen „wie Götter“, erscheint ihnen gut, was im Kampf um Selbstbehauptung nützt – ohne Rücksicht auf das Blut Abels. Zum Bösen wird das, was dem Kampf um Selbstbehauptung im Weg steht. So kommt es zu einer verkehrten Welt. In ihr sind gut und böse, Leben und Tod, Gott und Götzen vertauscht. „Die Wahrheit wird“ – wie Paulus sagt – durch Ungerechtigkeit“ niedergehalten (Röm 1,19). So versprechen sich Menschen heute Rettung von einem System, das Kapital um seiner selbst willen vermehrt und dabei tötet und über Leichen geht. Nur wenn die Vermehrung des Kapitals nicht ins Stocken gerät, scheinen alle Sorgen zur Ruhe kommen zu können. Sie verführen dazu, sich dem, was als ‚normal‘ gilt, anzupassen und zu unterwerfen.

Auch der Messias Jesus ist Versuchungen ausgesetzt. Er soll den Hunger auf römische Art durch den Zauber von Brot und Spielen stillen, seine Macht durch einen spektakulären Sturz von den Zinnen des Tempels demonstrieren und sich schließlich vor dem Satan niederwerfen, der auch ihm verspricht, er könne sein „wie Götter“. Jesus unterbricht die Macht des Satan mit dem Wort: „Vor dem Herrn deinem Gott, sollst du dich niederwerfen und ihm allein dienen“ (Mt 4,10). Damit löst er den Bann, der ihn an die Welt der Herrschaft und Gewalt binden soll.

Woher kommt mir Hilfe?“ Eine Antwort auf die Frage des Psalms kann in den Blick kommen, wenn Gott nicht im Kapitalismus und in Religiös-Spirituellem verdunstet. Die Fastenzeit könnte eine Gelegenheit sein, die Inhalte in den Blick zu nehmen, die mit dem Namen Gott verbunden sind. Daraus könnte die Kraft erwachsen, auf die Schreie zu hören, die aus dem Blut Abels aufsteigen. Geist und Logik des Kapitalismus könnten durch Umkehr zu Gott und den Opfern der voranschreitenden Katastrophen unterbrochen werden. Wer sich dem Geist und der Logik Gottes und seines Messias anvertraut, kann Schritte der Befreiung aus dem Bann dessen tun, was als normal gilt. Es wird möglich, an den Gittern der Gefängnisse zu rütteln, der inneren Gefängnisse, in denen Menschen zu anpassungsschlauen Tieren dressiert werden, ebenso wie an den Gittern einer geschlossen Welt, die außerhalb des Kapitalismus kein Heil kennt. Die Suche nach Rettung aus allen Sorgen muss sich dann nicht mehr auf ein System stützen, das über Leichen geht und Menschen im Kampf ums Dasein zu Tieren werden lässt. Sie „stützt sich“ mit Jesaja gesprochen – „auf den HERRN, den Heiligen Israels“ (Jes 10,20).

Herbert Böttcher (in der Kapelle des Heinrichhauses am 25./26.2.23)

1Walter Benjamin, Kapitalismus als Religion, in: ders., Fragmente. Autobiographische Schriften, Band VI, 100 – 103, 100.