3. Advent: „Bist du der, der kommen soll…?“ (Mt 11,3)

Mt 11,2-11

2 Johannes hörte im Gefängnis von den Taten des Christus. Da schickte er seine Jünger zu ihm 3 und ließ ihn fragen: Bist du der, der kommen soll, oder sollen wir auf einen anderen warten? 4 Jesus antwortete ihnen: Geht und berichtet Johannes, was ihr hört und seht: 5 Blinde sehen wieder und Lahme gehen; Aussätzige werden rein und Taube hören; Tote stehen auf und Armen wird das Evangelium verkündet. 6 Selig ist, wer an mir keinen Anstoß nimmt. 7 Als sie gegangen waren, begann Jesus zu der Menge über Johannes zu reden: Was habt ihr denn sehen wollen, als ihr in die Wüste hinausgegangen seid? Ein Schilfrohr, das im Wind schwankt? 8 Oder was habt ihr sehen wollen, als ihr hinausgegangen seid? Einen Mann in feiner Kleidung? Siehe, die fein gekleidet sind, findet man in den Palästen der Könige. 9 Oder wozu seid ihr hinausgegangen? Um einen Propheten zu sehen? Ja, ich sage euch: sogar mehr als einen Propheten. 10 Dieser ist es, von dem geschrieben steht: Siehe, ich sende meinen Boten vor dir her, / der deinen Weg vor dir bahnen wird. 11 Amen, ich sage euch: Unter den von einer Frau Geborenen ist kein Größerer aufgetreten als Johannes der Täufer; doch der Kleinste im Himmelreich ist größer als er.

Der Text im Erzählfaden des Evangeliums

Die Frage, „Bist du, der der kommen soll?“ (V.3), die der inhaftierte Johannes an Jesus stellen lässt, ist eine Art Leitfrage für den mit ihr beginnenden Abschnitt des Evangeliums (11,2 – 16,20). Antworten auf diese Frage werden thematisiert und münden ein in das Bekenntnis des Petrus: „Du bist der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes“ (16,20). Nach vorne schließt unser Text an die Aussendung der Zwölf und die mit dieser Sendung verbundenen Gefahren an (Mt 10). Abschluss und zugleich Übergang zu unserem Text bildet 11,1: Jesus hat „die Unterweisung der zwölf Jünger beendet“ und ist weitergezogen, „um in den Städten zu lehren und zu predigen“ (11,1). Davon und von Jesu Wirken insgesamt hat Johannes, der seit dem Auftreten Jesu im Gefängnis sitzt (4,12), gehört. Schon nach Jesu erster Verkündigung und der Berufung der ersten Jünger:innen beschreibt es Matthäus so: „Er zog in ganz Galiläa umher, lehrte in den Synagogen, verkündete das Evangelium vom Reich, heilte im Volk alle Krankheiten und Leiden. Und sein Ruf verbreitete sich…“ (4,23ff.). Davon erzählt Matthäus in dem Abschnitt 4,23 – 9,37. An die erste Erzählung von Jesu Wirken – einmündend in die zusammenfassende Charakterisierung (9,35-38) – schließt er die Rede zur Aussendung der Jünger an (Mt 10).

Johannes hörte im Gefängnis von den Taten des Christus…“ (V.2f.)

Die Kunde von Jesu Wirken ist bis zu dem inhaftierten Johannes gedrungen. Das ist der Auslöser für die Frage, die Johannes an Jesus richten lässt: „Bist du der, der kommen soll…“ (V.3). Johannes hatte zwar in seiner Predigt das Kommen Gottes angekündigt. Es war aber in der Schwebe geblieben, ob dies im Kommen des Messias Jesus geschieht (3,1-12). Dem entspricht, dass die Stimme aus dem Himmel, die Jesus als Gottes proklamiert, nicht „den Charakter einer öffentlichen Deklaration“ hat, sondern Teil der „ausschließlich Jesus gewährten Vision“1 ist. Ähnlich interpretiert Luise Schottroff, wenn sie den Text über Jesu Taufe als Erzählung „über Jesu Gottesbegegnung“2 versteht.

Geht und berichtet Johannes, was ihr hört und was ihr seht…“ (V.4f.)

Jesus vermeidet eine direkte Antwort, sondern verweist auf das, was zu hören und zu sehen ist: „Blinde sehen wieder, Lahme gehen; Aussätzige werden rein und Taube hören; Tote stehen auf und Armen wird das Evangelium verkündet“ (V.5). Zum einen handelt sich dabei um Hinweise darauf, was Matthäus bereits erzählt hat: die Heilung von Blinden (9,27-31), die Heilung eines Gelähmten (9,2-8), die Heilung eines Aussätzigen (8,1-4), die Heilung eines Stummen (9,32-34), die Auferweckung der Tochter eines Synagogenvorstehers (9,18-26). In all dem wird den „Armen … das Evangelium verkündet“ (V.5), das zugleich seinen Ausdruck in der Adressierung der Bergpredigt an die Armen (5,3) findet. Zudem nimmt Jesu Antwort Bezüge aus dem Ersten Testament, vor allem aus dem Propheten Jesaja, auf: „Dann werden die Augen der Blinden aufgetan und die Ohren der Tauben werden geöffnet. Dann springt der Lahme wie der Hirsch und die Zunge des Stummen frohlockt…“ (35,5f.). Oder: „Deine Toten werden leben, meine Leichen stehen auf“ (Jes 26,19). Der Prophet wird gesalbt und gesandt, „den Armen frohe Botschaft zu bringen“ (Jes 61,1). Gerade die Bezüge auf das Erste Testament machen deutlich, dass das, was den Messias kennzeichnet, nicht einfach Taten sind, die sich isoliert an Einzelne wenden. In dem, was Matthäus von ihnen erzählt, geht es darum, dass Israel angesichts der Katastrophe durch den Krieg der Römer und ihrer Herrschaft aufgerichtet und gesammelt wird. In Unterwerfung unter und in Anpassung an diese Verhältnisse wurden Menschen apathisch, gelähmt, stumm für Klage und Protest und darin blind für die biblischen Traditionen der Befreiung und ihre aufrichtenden Hoffnungen, besessen von der römischen Herrschaft und lebendig begraben unter der mit ihr verbundenen Perspektivlosigkeit. Mit dem Kommen Gottes und seines Messias verbindet sich die Hoffnung, dass die Herrschaft Roms nicht endgültig ist, sondern ihr ein Ende gesetzt ist. Genau das richtet auf und wird inmitten erlittener Herrschaft zu einer Quelle, sich nicht resigniert zu unterwerfen, sondern zu widerstehen und darin dem kommenden Gott den Weg zu bereiten (3,3).

Selig, wer an mir keinen Anstoß nimmt“ (V.6)

Diese Seligpreisung greift die Erfahrung auf, dass die Botschaft des Messias angesichts der herrschenden Verhältnisse so konfliktträchtig und gefährlich ist, dass sie „Anstoß“ erregt. Im Deutschen klingt die Formulierung zu harmlos. Auf das hier im griechischen Text verwendete Verb geht unser Wort ‚Skandal‘ zurück. Messianische Praxis und messianische Hoffnungen sind für diejenigen, die es mit der römischen Herrschaft halten, skandalträchtig. Das wird für diejenigen, die solche Hoffnungen widerständig zu leben versuchen, gefährlich. Berechtigte Ängste – wie Johannes und Jesus – inhaftiert, gefoltert und getötet zu werden, können zum Anlass werden, die messianischen Gemeinden zu verlassen oder auch zu verraten – wie Matthäus es ist im Zusammenhang der Festnahme Jesu erzählt. Es ist die Nacht, von der Jesus nach dem Abendmahl sagt: „Ihr alle werdet … an mir Anstoß nehmen“; denn in dieser Nacht wird der Hirte erschlagen und die Herde zerstreut (26,30ff.).

Als sie gegangen waren, begann Jesus zu der Menge über Johannes zu reden…“ (V.7-9)

In den Blick kommt nun die Menge, die Scharen aus dem Volk. Jesus lehrt sie seine Sicht auf Johannes. Hinter diesen Versen steht das Nachdenken der messianischen Gemeinden über das Verhältnis zwischen Jesus und Johannes. Die Scharen werden darauf angesprochen, was sie gesucht haben, als sie in die Wüste zu Johannes gepilgert sind. War es ein „Schilfrohr, das im Wind schwankt“? Schilf gibt es in der Wüste am Jordan. Als Bild könnte es eine Anspielung darauf sein, dass die Menge hin und her gerissen ist zwischen Resignation und Hoffnung, zwischen angepasst ängstlichem sich Wegducken und Aufstehen für Wege der Befreiung. Im Zusammenhang mit der „feinen Kleidung“, deren Träger man „in den Palästen der Könige findet“ (V.8), könnte eine Anspielung auf Herodes Antipas beinhaltet sein, der „Münzen mit dem persönlichen Emblem eines Schilfrohrs prägen ließ“3. Soll seine Herrschaft als ‚windig‘ und schwankend zwischen der Bindung an die Juden und seiner Rolle als Vasall Roms dargestellt werden? Windig und schwankend verhielt er sich auch bei der Hinrichtung des Johannes (14,1ff.). Trotz des Aufsuchens des Johannes in der Wüste scheint die Menge zu keiner klaren Orientierung gefunden zu haben und selbst zu schwanken zwischen Herrschaft und prophetischer Orientierung. Bei Johannes aber handelte sich – so Jesus – „sogar“ um „mehr als einen Propheten“ (V.9). Der Text rückt Johannes und Jesus eng aneinander:

Dieser ist es, von dem geschrieben steht…“ (V.10)

Johannes wird mit einem Zitat aus der Schrift charakterisiert: „Siehe ich sende meinen Boten vor dir her, der deinen Weg vor dir bahnen soll.“ Das Zitat greift zum einen auf Ex 23,29 zurück. Hier ist die Rede von einem Engel, der Israel auf dem Weg der Befreiung schützend vorausgeht und ihm den Weg in das Land der Verheißung bahnt. Zum zweiten ist Mal 3,1 aufgegriffen. Der Prophet Maleachi spricht ebenfalls von einem Boten. Er bereitet Gott selbst den Weg „zu seinem Tempel“; er will wieder in der Mitte seines Volkes wohnen. In der Sicht des Matthäus ist Johannes der Wegbereiter dafür, dass Gott und sein Volk in der Zeit der Zerstörung des Tempels und der Zerstreuung des Volkes durch die Römer dennoch wieder zusammen finden. Mit dem Motiv des Weges, der gebahnt wird, knüpft Matthäus an die Verkündigung des Täufers an, der mit der Botschaft „Bereitet dem Herrn den Weg“ als Rufer in der Wüste vorgestellt wird (3,3).

„… doch der Kleinste im Himmelreich ist größer…“ (V.11)

Die Größe des Johannes wird herausgestellt. „Kein Größerer“ ist „aufgetreten als Johannes der Täufer“. Hinter der deutschen Formulierung „aufgetreten“ verbirgt sich die griechische Formulierung: Er wurde aufgerichtet. Gott selbst hat Johannes als denjenigen aufgerichtet, der unter der Herrschaft Roms neu Gottes Wege der Befreiung bahnt, damit er kommen kann, um unter seinem befreiten Volk zu wohnen. Und doch gilt: „der Kleinste im Himmelreich ist größer als er“. Die überragende Bedeutung des Johannes wird herausgestellt und zugleich im Blick auf das Wirken des Messias relativiert – und das obwohl beider Botschaft in der gleichen Formulierung vorgestellt wird: „Kehrt um! Denn das Himmelreich ist nahe“ (3,2; 4,17). In Gemeinsamkeit und Unterscheidung zwischen dem Täufer Johannes und dem Messias Jesus dürfte sich eine Konkurrenz zwischen Täufer- und Jesusbewegung spiegeln.

„… bis heute wird dem Himmelreich Gewalt angetan…“ (V.12f.)

Der Vers macht deutlich, dass die Verkündigung des „Himmelreiches“ als Botschaft der Befreiung auf die Repression derer stieß, die an den Herrschaftsverhältnissen festhalten wollten. Dies ist die Erfahrung aller, die „prophetisch geredet haben“ (V.13). Sie alle haben erfahren, dass „dem Himmelreich Gewalt angetan“ wird und „Gewalttätige“ es an sich reißen, um es zu unterdrücken. Das Evangelium nach Matthäus ist voll solcher Gewalterfahrungen. „Wie Schafe mitten unter Wölfen“ (10,16) werden die Jünger:innen mit der Botschaft des Friedens mitten hinein in die Gewaltverhältnisse der ‚Pax‘ Romana gesandt. Die messianischen Gemeinden erfahren tödliche Konflikte, die sich mitten durch die Familien ziehen (10,34ff.). Sie stoßen auf Feindschaft aus Kreisen der Pharisäer (Mt 23), die zur Zeit des Matthäus zu den führenden Kreisen gehören, die ‚im Frieden‘ mit Rom leben wollten. In Erinnerung an die Zeit Jesu kommen sie, Umkehr vortäuschend, zur Taufe des Johannes (3,7). Zusammen mit den „Anhängern des Herodes“ locken sie Jesus in eine Falle (22,15ff.). Und nicht zuletzt wurden Johannes und Jesus selbst Opfer der herrschenden Machtverhältnisse.

Er ist Elija, der wiederkommen soll“ (V.14)

Diese Feststellung geht in der Sicht des Johannes noch einen Schritt weiter. Johannes ist mehr als ein Prophet: Er ist der wiedergekommene Elija. Diese Aussage greift die im (Spät)Judentum des 1. vor und 1. nachchristlichen Jahrhunderts verbreitete Vorstellung auf, der Prophet Elija werde wieder kommen, und deutet sie auf Johannes. Sie beruft sich auf den Propheten Maleachi, bei dem es heißt: „Bevor der Tag des Herrn kommt, der große und furchtbare Tag, seht, da sende ich zu euch den Propheten Elija“ (3,23). Der „Tag des Herrn“ ist der Tag des Gerichts, des für viele schmerzlichen Sturzes der Machtverhältnisse und einer neuen Ausrichtung des Zusammenlebens. Diesem Tag soll das Volk durch Umkehr zuvor kommen und dadurch dem Kommen Gottes den Weg bereiten. Im Zentrum der Botschaft des Elija stand die Unterscheidung zwischen Israels Gott der Befreiung und den Götzen der Unterdrückung. Diese Unterscheidung bildet auch den Kern von Johannes‘ Predigt der Umkehr, der Abkehr von den Wegen der Unterwerfung unter die herrschenden Verhältnisse und der Hinkehr zu den Wegen der Befreiung. Diese zu bahnen ist die Sendung des Johannes. Darauf bezieht sich der abschließende Aufruf: „Wer Ohren hat zu hören, der höre!“ (V. 15).

Herbert Böttcher

1Matthias Konrad, Das Evangelium nach Matthäus, Gütersloh 2015, 53.

2Luise Schottroff, Der Anfang des Neuen Testaments. Matthäus 1 – 4 neu entdeckt. Ein Kommentar mit Beiträgen zum Gespräch, Gütersloh 2019, 199.

3Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus. Evangelisch-Katholischer Kommentar zum Neuen Testament, Band I/2, Zürich 1990, 174.