Mt 24,37-44
37 Denn wie es in den Tagen des Noach war, so wird die Ankunft des Menschensohnes sein. 38 Wie die Menschen in jenen Tagen vor der Flut aßen und tranken, heirateten und sich heiraten ließen, bis zu dem Tag, an dem Noach in die Arche ging, 39 und nichts ahnten, bis die Flut hereinbrach und alle wegraffte, so wird auch die Ankunft des Menschensohnes sein. 40 Dann wird von zwei Männern, die auf dem Feld arbeiten, einer mitgenommen und einer zurückgelassen. 41 Und von zwei Frauen, die an derselben Mühle mahlen, wird eine mitgenommen und eine zurückgelassen. 42 Seid also wachsam! Denn ihr wisst nicht, an welchem Tag euer Herr kommt.
43 Bedenkt dies: Wenn der Herr des Hauses wüsste, in welcher Stunde in der Nacht der Dieb kommt, würde er wach bleiben und nicht zulassen, dass man in sein Haus einbricht. 44 Darum haltet auch ihr euch bereit! Denn der Menschensohn kommt zu einer Stunde, in der ihr es nicht erwartet.
„In den Herzen wird‘s warm…“?
Sowohl der Text dieses Evangeliums, der in der katholischen Liturgie am Ersten Adventssonntag im Lesejahr A gelesen wird, als auch seine heutige Lektüre haben ‚Zeitkerne‘. Wird der Advent jedoch ‚zeitlos‘ als Wiederkehr des Gleichen verstanden und adventliche Texte rein assoziativ gelesen, kann als Leitwort für den Advent herauskommen: „In den Herzen wird‘s warm“ – so z.B. das Leitwort für die Adventszeit in der Pfarreingemeinschaft Heimbach-Engers (www.pfarreiengemeinschaft-heimbach-engers.de). Das hat dann zwar alles mit „Leise rieselt der Schnee…“, aber (fast) nichts mehr mit dem Text unseres Evangeliums, aber viel mit jener ‚Normalität‘ zu tun, gegenüber der unser Evangelium zur Wachsamkeit mahnt.
Die ‚Normalität‘ der Welt ist heute geprägt durch den Krieg in der Ukraine, durch all die Kriege, die an der zerfallenden Peripherie des Kapitalismus seit Jahrzehnten geführt werden. Die Klimakatastrophe findet nicht mehr nur in der Zweidrittelwelt statt, sondern frisst sich wie auch der Krieg in die Zentren der westlichen Welt vor. Sie lässt sich nicht fernhalten wie diejenigen, die vor ihr fliehen und im NATO–Stacheldraht verbluten oder durch verweigerte Rettung im Mittelmeer ertrinken. Keine Kosten und Mühen werden gescheut, wenn es darum geht, für den Krieg zu mobilisieren, den die Ukraine stellvertretend für die vermeintliche Verteidigung jener Werte von Freiheit und Menschenwürde führen soll, die gegenüber tendenziell allen ignoriert werden, die für den Kapitalismus ‚überflüssig‘ sind. Hauptsache es findet sich in den Krisen der kapitalistischen Welt noch ein Eckchen der Normalität, in dem es warm um‘s Herz wird. Während die verdrängten Probleme allen Beteiligten über den Kopf wachsen und die Lebenslüge von westlicher Freiheit und Demokratie zu Kopf steigt, könnte die Krise zu einer Weltvernichtung eskalieren, bei der – zwischen Verzweiflung und größenwahnsinnigem Heroismus – die eigene Vernichtung billigend in Kauf genommen oder gar heldenhaft als Ausdruck letzter Größe gesucht wird. Die Eskalation des aktuellen Krieges würde dann zum Amoklauf einer Weltvernichtung, die zugleich Selbstvernichtung wäre. Diese Gefahr droht, solange die mit diesem System verbundene Normalität die unangetastete und fetischisierte Voraussetzung der Wahrnehmung, des Denkens und des Handelns bleibt.
„… wie es in den Tagen des Noach war…“ (V. 37)
So beschreibt Matthäus die Haltung derjenigen, die meinten sich den Katastrophen, die seine Generation erleben und erleiden musste, entziehen zu können. Es ist die Katastrophe des Kriegs, den Rom im Kampf gegen den Aufstand von Juden gegen die römische Herrschaft führte und bei dem Jerusalem zerstört und die Juden weitgehend aus Jerusalem vertrieben wurden. Was Matthäus in der Rede aufzeigt, die er Jesus in den Mund legt, als er den Tempel verlassen hatte und seine Jünger:innen ihn auf die prachtvollen Bauten hingewiesen hatten, ist nicht ‚apokalyptische‘ Zukunft, sondern jene Gegenwart, unter der jüdische wie jüdisch-messianischen Gemeinden zu leiden haben: „Kriege und Kriegsgerüchte“ (24,6), „Hungersnöte“ (24,7), Hass und Verfolgung (24,9), „einander ausliefern und hassen“ (24,10), „in die Berge fliehen“ (24,16), die Gefahr, auseinender gerissen zu werden (24,19f), Gefahren einer Flucht im Winter und für „Frauen, die in jenen Tagen schwanger sind und ein Kind stillen“ (24,19)…
Statt diese ‚Zeichen der Zeit‘ wahrzunehmen machen einige verblüffungsfest weiter „wie es in den Tagen des Noach war“ (V. 37). Sie „aßen und tranken und heirateten“ (V. 38). ‚Brot und Spiele‘ sollten weiter gehen wie auch das Heiraten, das als Grundlage der römischen Herrschaft galt. Solche Normalität aber war Illusion; denn die Realität ist das Hereinbrechen der Flut, „die alle wegraffte“ (V. 39). In den Tagen des Noach waren die hereinbrechenden Fluten eine Folge davon, dass die Erde „verdorben“ und „voller Gewalttat“ (Gen 6,11) war. In der Flutgeschichte, die im Buch Genesis (Gen 6,5ff.) erzählt wird, drückt sich die Erfahrung aus, dass „Gewalttat“ zu einer vernichtenden Flut eskalieren kann. Genau das geschieht in den ‚Tagen des Matthäus‘. Es gibt Menschen, die ihr alltäglich-normales Leben weiterleben, obwohl um sie herum die Fluten schon hereinbrechen. Da können Alltäglichkeit und ‚Normalität‘ keinen Halt mehr geben, sie sind ja Teil der Gewaltverhältnisse, die als Flut alles zu zerstören drohen. Wer angepasst an die Normalität einfach weitermacht und darin nur ein ‚warmes Herz‘ sucht, den wird sie mit der Realität ihrer Gewaltförmigkeit heimsuchen.
„Seid also wachsam!“ (V. 42)
Wachsamkeit ist also für Matthäus das Gebot der Stunde. Hintergrund dieser Aufforderung sind die Verhältnisse, die alles Leben zu vernichten drohen. Aber diese Verhältnisse sind nicht alles. Die Bibel erzählt vom ‚Tag des Herrn‘, der kommen wird. An diesen Tag des Kommens Gottes erinnert Matthäus. Er wird kommen, um das ‚letzte Wort‘ zu sprechen. Auch wenn Himmel und Erde vergehen, so werden Gottes Worte nicht vergehen (24,35). Das Wort, das Gott an seinem Tag, dem ‚Tag des Herrn‘, sprechen wird, ist ein Wort des Gerichts – ein Wort der Gerechtigkeit, das Verhältnisse des Unrechts und der Gewalt richtet und deren Opfer aufrichtet. Matthäus verbindet diesen ‚Tag des Herrn‘ mit dem Menschensohn, der nach dem Buch Daniel „mit den Wolken des Himmels“ (Dan 7,12), d.h. aus der Sphäre Gottes kommen und den als Bestien beschriebenen geschichtlichen Systemen der Herrschaft (Dan 7,1ff.) entgegen treten wird. In ihm manifestiert sich Gottes befreiende Herrschaft als Alternative zu einer Herrschaft, die Menschen unterwirft und tötet. Für Matthäus verkörpert der von Rom hingerichtete, von Gott aber auferweckte Messias Jesus Gottes ‚letztes Wort‘, das die Gewaltverhältnisse Roms richtet und diejenigen aufrichtet, die diesem Wort vertrauen.
Für Matthäus ist dieses Wort ein aufrichtender Einspruch gegen die römischen Gewaltverhältnisse. Es bewahrt davor, sich trotz aller Erfahrung des Unrechts und unterdrückender Herrschaft Rom nicht zu beugen, sich nicht mit ihrer alltäglichen Normalität abzufinden, nicht in ‚Brot und Spiele‘ zu fliehen, sich nicht mit ein bisschen Wärme, die bald wieder erkalten wird, zufrieden zu geben. Was aufrichtet, ist nicht die kleine Hoffnung auf ‚ein bisschen‘ Wärme, sondern die großen Hoffnungen auf einen neuen Himmel und eine neue Erde, die mit der Wiederkunft des Menschensohns verbunden sind. Matthäus bietet sie nicht feil als Angebot für die Nachfrage nach beruhigenden und illusionären Traumwelten, sondern formuliert sie als Bruch mit den herrschenden Verhältnissen, der als Umkehr gelebt wird, als Abkehr vom Bann der Normalität und als Hinkehr zu Israels Gott der Befreiung und seinem Messias, als widerständige Hoffnung gegenüber der Herrschaft Roms gelebt.
Der Kontrast zu kirchlichen Trends, die wir in der Gegenwart erleben, mag darin deutlich werden, dass sie mit aller Macht versuchen, an Alltäglichkeit anschlussfähig zu werden. Die Normalität der Gewaltverhältnisse, die sich in dieser Alltäglichkeit Ausdruck verschaffen, werden nicht kritisiert, sondern als fraglos vorausgesetzt, um in ihrem Rahmen ‚Wärmendes‘, ‚Heilendes‘, ‚Beruhigendes‘, ‚Beschwichtigendes‘, ‚Entlastendes‘… anzubieten. Kirchliche Pastoral meint so, ‚ganz nah bei den Menschen‘ und auf der Höhe der Zeit zu sein. Rettung und Befreiung aber kann es nicht ohne Bruch mit den Verhältnissen geben, die das Leben von Menschen, die Grundlagen des Lebens und der Schöpfung zu zerstören drohen.
Die Katastrophe bestehe darin, dass alles so weitergeht, hatte der jüdische Philosoph Walter Benjamin als Kritiker der kapitalistischen Fortschrittsideologie vor hundert Jahren bereits angemerkt. Angesichts dieser sich damals schon abzeichnenden Katastrophen brauche es einen Bruch mit den Verhältnissen, reflektierende Unterbrechengen, vor allem durch das Eingedenken der Opfer geschichtlicher Gewalt- und Herrschaftsverhältnisse. Das beinhaltet einen Bruch mit den Verhältnissen. Dazu gehört der Bruch mit ihrer Normalität, auch damit, die Welt im Bann und im Einklang mit dieser Normalität wahrzunehmen, in ihr zu denken und zu handeln. Durch solche Umkehr können Türen für Rettung und Befreiung geöffnet werden. Benjamin hat daran erinnert, dass bei den Juden der mit dem Eingedenken verbundene Bruch mit einem homogen und leeren Fluss der Zeit die „kleine Pforte“ war, „durch die der Messias treten konnte“.
Bruch und Umkehr bei Matthäus
Weil es Matthäus um den Bruch mit den herrschenden römischen Verhältnissen geht, steht sein Evangelium unter der Perspektive der Umkehr. Ein zentraler Teil der Umkehr wird für Matthäus in der Frage nach dem Umgang mit Gewalt deutlich. Dass er nicht in ‚gewaltfreie‘ Idyllen flüchtet, wird bereits in der Einleitung seines Evangeliums deutlich. Er nennt es „Buch des Ursprungs Jesu Christi, des Sohnes Davids, des Sohnes Abrahams“ (Mt 1,1). In seinem Evangelium erzählt Matthäus von dem Messias, der zugleich Sohn Davids und als Sohn Abrahams ein Segen für die Volker ist1.
Im engeren Textzusammenhang bezieht sich die Formulierung auf die Geburt Jesu. Im weiteren Sinn erzählt Matthäus Jesu Leben als Erwählung durch Gott, als ein Leben, das in Israels Gott der Befreiung verwurzelt ist.
Auffällig ist der Schluss seines Evangeliums mit dem Ende der hebräischen Bibel in 2 Chr 36,22f.: Gott hat den Geist des persischen Königs Kyros erweckt, Israel aus der Knechtschaft Babylons nach Jerusalem zu führen und Israels Gott dort ein Haus zu bauen. Dort konnte Israel als Volk seines Gottes der Befreiung leben und Gott mitten unter ihnen. An die Stelle eines befreiten Lebens war inzwischen die Herrschaft Roms getreten. Damit ist eine neue Befreiung nötig geworden. Sie aber steht in Kontinuität zur Befreiungsgeschichte Israels. Darin hat der Messias Jesus, als von Gott gerufener und mit seinem Geist beschenkter, seinen Ursprung. Er lebt sein Leben an der Seite der Armen und Schwachen, derer, die unter der Herrschaft Roms leiden. Seine Mission mündet nach seiner Hinrichtung und Auferstehung in die Sendung seiner Jünger:innen zu den Völkern. Ihm – nicht Rom – „ist alle Vollmacht gegeben im Himmel und auf der Erde“ (Mt 28,18). Im Vertrauen darauf werden sie aus Israel gesandt, um die Völker Wege der Befreiung zu lehren.
Derjenige, der am Ende seine Jünger:innen als Lehrer:innen der Befreiung aussendet wird zu Beginn des Evangeliums Christus (Messias), Sohn Davids und Sohn Abrahams genannt. Mit dieser dreifachen Bezeichnung wird Jesus in der Geschichte Israels verortet:
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Der Begriff Messias, der so viel meint wie ‚Gesalbter Gottes‘, geht in Israel auf die Salbung von Königen, Hohenpriestern und Propheten zurück. Sie beinhaltet die Salbung für einen Auftrag. In der Geschichte Israels kristallisieren sich angesichts der Erfahrung von Unterdrückung und Gewalt Hoffnungen auf künftige messianische Rettergestalten heraus. Sie verkörpern die Schaffung von Verhältnissen, in denen Israel wieder als befreites Volk leben kann. Die Hoffnungen auf Befreiung haben vor allem die im Blick, die unter den Gewaltverhältnissen am meisten zu leiden haben: Arme und Unterdrückte.
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Mit dem Titel „Sohn Davids“ wird der Messias in die Tradition der Könige Israels gestellt und damit die Hoffnung auf eine Herrschaft im Dienst von Gerechtigkeit und Frieden verbunden. Dass damit ein gegenüber Rom gerichteter Herrschaftsanspruch verbunden ist, haben die Zeitgenossen des Matthäus sehr genau verstanden – umso mehr als Juden mit dem Hinweis auf die alleinige Herrschaft Gottes auch in bewaffneten Aufständen gegen die römische Herrschaft kämpften. Der mit Jesus verbundene nicht-militärische Widerstand gegen die Herrschaft Roms macht einen Teil der oft tödlichen Konflikte um die Zugehörigkeit zum Messias Jesus aus. „Mit den ersten Worten des Matthäusevangeliums wird Jesus nicht nur in die Geschichte Israels im Sinne der Tora gestellt, sondern auch in die Geschichte des jüdischen Mutterlandes z.Zt. Jesu und zur Zeit des Textes. Die Stichworte Messias und Davidsnachkommen sind für römische Ohren Ausdruck eines Herrschaftsanspruchs, der für sie heißt: ‚König der Juden‘“2. Damit wird Jesus „auch in die Geschichte der jüdischen Aufstandsbewegungen gestellt und bewusst das römische Missverständnis in Kauf genommen, das tödlich sein kann“3.
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Der Titel „Sohn Abrahams“ verbindet Jesus mit dem Vater Israels, der als Träger der Verheißung von Land und Nachkommen Vater der Völker ist. Durch ihn „sollen alle Sippen der Erde Segen erlangen“ (Gen 12,1ff.). Dieser von Israels Gott ausgehende Segen für alle Völker steht im Gegensatz zu dem Segen des römischen Gottes Jupiter. Er gilt nicht allen, sondern dem Kaiser und vermittelt über den Kaiser dem Heil des römischen Reiches.
Das von Jesus verkörperte befreiende Königtum für Israel und seine Verbindung mit den Völkern beinhaltet einen unmissverständlichen Bruch mit der römischen Herrschaft und deren Unrechts- und Gewaltverhältnissen. Es beinhaltet aber auch einen Bruch mit militärischen Mitteln des Widerstands, mit Waffen und Geld für die Finanzierung von Kriegen. Insofern steht es in der Tradition der die Herrschaft der Könige begrenzenden Gebote der Tora4. Zudem speist sich der Bruch des Matthäus mit den Mitteln der Gewalt aus den katastrophischen Erfahrungen mit dem Krieg der Römer gegen die jüdischen Aufstände, denen die messianische Bewegung ausgesetzt war. Diesen Bruch formuliert Matthäus in der Bergpredigt, wenn Jesus, die ‚Sanftmütigen‘ selig preist. Gemeint sind diejenigen, die an der Seite der Erniedrigten stehen und keine militärische Gewalt anwenden. Sie werden das Land der Verheißung erben, während diejenigen, die zu militärischer Gewalt Zuflucht genommen hatten, dazu beigetragen haben, es zu verspielen. Der Zusammenhang von Sanftmut und Solidarität mit den Erniedrigten taucht auch da auf, wo Jesus alle einlädt zu ihm zu kommen, „gütig und von Herzen demütig“ (Mt 11,29) ist. Leider verdeckt die Neue Einheitsübersetzung mit diesen Formulierungen, dass im griechischen Original genau jenes Wort steht, das ‚sanftmütig‘ im Gegensatz zu gewalttätig meint, das aber mit ‚gütig‘ wiedergegeben wird. Und da wo mit „von Herzen demütig“ übersetzt wird, geht es um eine freiwillige Erniedrigung, um an der Seite der Erniedrigten zu stehen. Der Brauch mit Gewalt wird besonders deutlich, wenn Jesus als König auf einem Esel statt auf einem Herrschaft und Krieg symbolisierenden Pferdes in Jerusalem einzieht (21,1-11). Dabei verweist Matthäus ausdrücklich auf ein Zitat aus dem Propheten Sacharja, das den in Jerusalem einziehenden König als „sanftmütig“ (21,5) charakterisiert. Dann ist es nur konsequent, wenn Jesus zu dem bei Jesu Verhaftung zum Schwert greifenden Petrus sagt: „Steck dein Schwert in die Scheide; denn alle die zum Schwert greifen, werden durch das Schwert umkommen“ (26,52).
Diejenigen, die angesichts des Krieges in der Ukraine sich mit Forderungen nach Waffenlieferungen überbieten, bewegen sich im Bann der herrschenden Normalität wonach Widerstand gegen Russland identisch ist mit der Lieferung von Waffen, auch dann wenn dadurch die Ukraine zu einem Schauplatz der Zerstörung und zu einem stellvertretenden Opfer zur Verteidigung der westlich-freiheitlichen Normalität wird. Ein unterbrechender Bruch mit der herrschenden Normalität könnte gleich Mehrfaches deutlich machen: Die Weigerung, in das Horn der Bellizisten zu stoßen, ist nicht identisch damit, sich mit herrschenden Machtverhältnissen abzufinden und auf Widerstand zu verzichten. Zudem fällt auf, wie konform und devot sich besonders regierende grüne moralisierende Bellizisten gegenüber ‚Herrschaften‘ verhalten, wenn es nicht gerade darum geht, die zusammenbrechende kapitalistische Herrschaft menschenrechtlich verbrämt militärisch zu verteidigen. Kritiker:innen von Waffenlieferungen an die Ukraine, wird gerne vorgeworfen, einer abstrakten pazifistischen Gesinnung zu folgen. Ignoriert wird zum einen, dass es gute Gründe gibt, sich der Normalität des Krieges und des Kriegsgeschreis zu verweigern. Abstrakter (Pseudo-)Moralismus steckt hingegen in der Legitimation des Krieges und der ihn unterstützenden Waffenlieferungen samt Rhetorik von westlicher Freiheit und Menschenrechten. Welch repressive und tödliche Rolle westliche Freiheit spielt wird dabei ebenso abstrakt ignoriert wie die selektive Berufung auf Menschenrechte und Völkerrecht. Das ist nicht einmal mehr unfrommer Selbstbetrug, sondern objektiv infam.
Der Messias als „Sohn Abrahams“ (Mt 1,1) und der Weg zu den Völkern (Mt 28,16ff.)
Wenn Matthäus den Messias Jesus gleich zu Beginn seines Evangeliums „Sohn Abrahams“ nennt, verwurzelt er ihn auch in der Geschichte der Völker. Abraham ist als Vertreter der Menschheitsgeschichte die Verheißung von Land und Nachkommenschaft gegeben worden (Gen 12,1ff.).
Mit der Verwurzelung von Israels Befreiungsgeschichte in Abraham, der als Stammvater Israels zugleich zum Segen für die Völker werden soll, steht der Messias aus Israel im Horizont der Menschheitsgeschichte bzw. ist darin verortet. Die Verheißung der Befreiung macht nicht vor den Grenzen des eigenen Volkes halt. Sie kann nicht gegenüber den anderen, vor allem nicht gegenüber denen, die frierend in der Kälte stehen, abgeschottet und gesichert werden. Die Verheißung der Befreiung ist universal – nicht im Sinne der Universalität der Aufklärung. Ihre Universalität gilt denen, die in der kapitalistischen Gesellschaft einen Platz haben, also ihre Gleichheit im gleichen Tausch verwirklichen können. Die mit Israels Gott und seinem Messias verbundene Universalität hängt an denen, die im kapitalistischen Tausch nicht gleich werden können, sondern so überflüssig sind, dass sie nicht einmal ihre Arbeitskraft tauschen können. Sie hängt an den Opfern der herrschenden Verhältnisse. Weil in diesem Sinn die Verheißung von Israels Gott allen gilt, führt der Weg von Israels Gott und seinem Messias zu den Völkern (Mt 28, 16ff.).
Dieser Weg ist wegen seines Bruchs mit den herrschenden Verhältnissen ausgesprochen konfliktreich. Genau deshalb braucht es die Erinnerung an die Wurzeln dieses Weges ebenso wie menschliche Nähe und Solidarität. Darin hat auch die ‚Wärme‘ ihren Platz – aber eben im Zusammenhang mit dem nötigen Bruch mit den Verhältnissen, nicht als Ersatz dafür oder als Mittel, es sich in den herrschenden Verhältnissen gemütlich zu machen oder es wenigstens aushalten zu können.
Herbert Böttcher
1Ein Teil des folgenden Textes bezieht sich auf die Einleitung zum Evangelium nach Matthäus (Kapitel 1), passt also vor allem zum Evangelium des Vierten Adventssonntags im Lesejahr C. Da wir – der Reifenfolge der Texte in der katholischen Liturgie folgend – mit Mt 24,29-44 beginnen, kann es hilfreich sein, etwas Einführendes schon vorweg zu nehmen.
2Luise Schottroff, Der Anfang des Neuen Testaments. Matthäus 1 – 4 neu entdeckt. Ein Kommentar mit Beiträgen zum Gespräch, Stuttgart 2019, 33.
3Ebd., 34.
4Vgl. Ansgar Moenikes. Der sozial-egalitäre Impuls der Bibel Jesu und das Liebesgebot als Quintessenz der Tora, Würzburg 2007, 76 – 94.