Paulus in Korinth und antijudaistische Stereotype (Apg 18,12-17)

12 Als aber Gallio Prokonsul von Achaia war, traten die Juden einmütig gegen Paulus auf, brachten ihn vor den Richterstuhl 13 und sagten: Dieser verführt die Menschen zu einer Gottesverehrung, die gegen das Gesetz verstößt. 14 Als Paulus etwas erwidern wollte, sagte Gallio zu den Juden: Läge hier ein Vergehen oder Verbrechen vor, ihr Juden, so würde ich eure Klage ordnungsgemäß behandeln. 15 Streitet ihr jedoch über Lehre und Namen und euer Gesetz, dann seht selber zu! Darüber will ich nicht Richter sein. 16 Und er wies sie vom Richterstuhl weg. 17 Da ergriffen alle den Synagogenvorsteher Sosthenes und verprügelten ihn vor dem Richterstuhl. Gallio aber kümmerte sich nicht darum.

Paulus war noch „ein Jahr und sechs Monate“ in Korinth geblieben und hatte das Wort Gottes gelehrt (18,11). Was Paulus vermeintlich so lehrte, hatte sich offensichtlich herumgesprochen, so dass „die Juden“, gemeint sind die „führenden Juden“, gegen Paulus vorgingen. Als Zeitpunkt wird die Zeit, „als Gallio Prokonsul von Achaia war“ (V. 12) genannt. Gallio ist ein Bruder des bekannten Philosophen und Politikers Seneca. Er hatte in einer verlorenen Schrift1, die Augustinus zitiert2, über die Juden geschrieben:

„Inzwischen hat die Lebensart dieses verruchten Volkes so großen Einfluss gewonnen, dass sie in allen Ländern aufgenommen wird: Die Besiegten haben den Siegern Gesetze gegeben.“

Im Hass auf die Juden, den es in Teilen des römischen Reiches gab, zeichnet sich im Keim ein antijudaistisches Stereotyp ab, das in in der Neuzeit als Antisemitismus voll zur Geltung kam und in diversen Verschwörungsphantasien wirksam ist: die Angst vor einer vermeintlichen moralischen und intellektuellen Überlegenheit der Juden3. Sie scheint ihre Bestätigung darin zu finden, dass Juden in der gebildeten römischen Gesellschaft Erfolg hatten. Besonders suspekt erschien es, wenn Römer als Proselyten die Gemeinschaften der Juden suchten oder sogar Juden wurden.

In unserer Episode wird Paulus vor den Richterstuhl Gallios gebracht. Das mag in dem Kalkül geschehen sein, Gallio werde entsprechend der römischen Besorgnisse gegenüber Juden und ihrem Einfluss gegen Paulus einschreiten. Die Anklage bezieht sich dann auch auf einen Verstoß „gegen das Gesetz“ (V. 13). Die Formulierung lässt zunächst in der Schwebe, ob Paulus vorgeworfen wird, gegen das römische oder das jüdische Gesetz verstoßen zu haben. Die inhaltliche Bestimmung des Vorwurfs zielt jedoch darauf, dass Paulus – so wörtlich – die Menschen „am Gesetz vorbei“ in die Irre leite. Die Rede von Wort, Name und Gesetz lässt die Tora in den Blick kommen und mit ihr die Warnungen aus Dtn 13 und 18, nicht auf diejenigen zu hören, die als im Namen Gottes auftretende Träumer und Lügner das Volk in die Irre führen. Vor diesem Hintergrund wirft die Anklage Paulus vor, in einem anderen Namen als dem Namen Gottes zu reden und so das Volk ‚vorbei an der Tora‘ in die Irre zu führen.

Gallio weist diese Anklage zurück. Es liegt kein Verbrechen im Sinn des römischen Gesetzes vor. Und für Streitigkeiten über das jüdische Gesetz ist er nicht zuständig. Damit bewegt er sich auf der Linie der römischen Religionspolitik, nach der die jüdische Religion erlaubt ist und daher ihre Ausübung nicht verfolgt wird. Voraussetzung ist natürlich, dass es zu keinen Unruhen kommt, die den Frieden des Imperiums stören oder gar gefährden. Dann sind die römischen Behörden verpflichtet einzuschreiten. Solange aber nur über innere Angelegenheiten gestritten wird, ist Rom nicht zuständig.

Vielleicht will Lukas mit seiner Darstellung auch deutlich machen: Lasst uns den Streit untereinander austragen. Er geht die Römer nichts an. Dazu könnte die Formulierung passen: Der Prokonsul „wies sie vom Richterstuhl weg“ (V. 16). Das dieser Übersetzung zugrunde liegende griechische Verb, das auch mit „herausreißen“, „wegreißen“ übersetzt werden kann, könnte eine Anspielung auf Ez 34,12 sein. Hier hat es die Bedeutung, aus einer Gefahr „herausreißen“. Bei Ezechiel ist es Gott, der als Israels Hirte sein Volk vor den Hirten rettet, die als Führer des Volkes sich selbst weiden und dabei die wirtschaftlichen und sozialen Grundlagen für das Leben des Volkes zerstören. In der Apostelgeschichte reißt zwar der Prokonsul „die Juden“ von seinem Richterstuhl weg und rettet Paulus aus der Gefahr einer Anklage. Aber auch durch das Handeln Gallios kann die rettende Absicht Gottes wirksam werden.

Am Ende wird der Synagogenvorsteher „vor dem Richterstuhl“ (V. 17) verprügelt. Aber auch das kümmert Gallio nicht. Eine Prügelei reicht nicht für Unruhe und Aufstand. Daher muss ihn auch diese Schlägerei nicht kümmern.

Herbert Böttcher

1De superstitione.

2De civitate dei, VI,1.

3Vgl. Peter Schäfer, Kurze Geschichte des Antisemitismus, München 2020, 32 – 37.