Koblenz, 25.5.2022.
Je mehr die Welt zugrunde geht, desto moralinsauerer wird sie. Dabei werden aus einem ‚Prinzipienhimmel‘ moralische Urteile für die irdische Welt abgeleitet – so auch die nach der Regulierung der Finanzmärkte –, ohne eine adäquate Untersuchung der gesellschaftlichen Verhältnisse geleistet zu haben. So ließe sich die Quintessenz der heute veröffentlichten Analyse des vatikanischen Textes zur Finanzialisierung des Kapitalismus von Dominic Kloos, Geschäftsführer und Referent des Ökumenischen Netzes Rhein-Mosel-Saar, zusammenfassen.
Der Text mit dem Titel „Oeconomicae et pecuniariae quaestiones“ wurde von der Kongregation für die Glaubenslehre und dem Dikasterium für den Dienst zugunsten der ganzheitlichen Entwicklung des Menschen 2018 veröffentlicht und von Papst Franziskus autorisiert. Er thematisiert eines der wichtigsten ökonomischen Phänomene: die sog. Finanzialisierung des Kapitalismus. Dass diese gigantische Ausweitung der Finanzmärkte eine Reaktion auf die schwindende (Mehr-)Wert-Masse im Zuge des Ersatzes von mehrwertschaffender Arbeit ist, die „Himmelfahrt des Geldes“ (Robert Kurz) also höchst irdisch-fetischistische Ursachen hat, kann die in himmlischen Sphären ewiger Prinzipien schwebende christliche Sozialethik nicht verstehen. Um solches ‚Kannitverstahn‘ zu überwinden, müsste sie in die irdischen Tiefen der Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse hinabsteigen, statt in einer ‚ewigen Wiederkehr‘ des Gleichen ‚ewige Prinzipien‘ auf irdische Verhältnisse anzuwenden.
So zeigen sich die Grenzen des Kapitalismus und die Grenzen der christlichen Sozialethik gleichermaßen. Der Kapitalismus stößt mit dem schwinden der Arbeit an seine inneren Grenzen. Er wird immer unfähiger Wert und Mehrwert zu generieren. Zugleich zeichnen sich auch die Grenzen ab, die durch Blasen, also durch „Geld ohne Wert“ (Robert Kurz) auf den Finanzmärkten kompensiert werden sollen. Dabei stößt auch der aus den ‚Prinzipien‘ der Soziallehre abgeleitete ethische Ruf nach Regulierung auf die Grenzen seiner Realisierbarkeit.
Was nun, Kapitalismus und Soziallehre? Die Herausforderung wäre, diese Grenzen zu begreifen. Bleibt es aber beim ‚Kannitverstahn‘, bleibt es auch bei der ewigen Moralisierung. Sie ist geradezu charakteristisch für die gegenwärtige Krisenlage. Moralisiert – und das umso heftiger – wird das, was sich vermeintlich praktisch bewältigen lässt: vom Fehlverhalten einzelner PolitikerInnen bis hin zu Waffenlieferungen in die Ukraine. Moral wird zum Ersatz für kritisches Nachdenken über Verhältnisse, mit denen die Dynamik der Selbstzerstörung einhergeht – von der Klimakrise bis hin zum Atomkrieg. Statt im Denken und Handeln mit den kapitalistischen Verhältnissen zu brechen, ist es leichter, sich mit Schuldzuweisungen, moralischen Verurteilungen und moralischen Forderungen an das Handeln von Akteuren zu klammern – seien es die ‚Geldeliten‘ bei den Finanzmärkten oder die Oligarchen in dem gefährlich eskalierenden Krieg Russlands gegen die Ukraine. So aber kann es keine rettende Unterbrechung geben, oder – jüdisch christlich gesprochen – keine Umkehr aus dem Weg in Katastrophen.