Offb 18
1 Danach sah ich einen anderen Engel aus dem Himmel herabsteigen; er hatte große Macht und die Erde leuchtete auf von seiner Herrlichkeit. 2 Und er rief mit gewaltiger Stimme und sprach: Gefallen, gefallen ist Babylon, die Große! Zur Wohnung von Dämonen ist sie geworden, zur Behausung aller unreinen Geister und zum Schlupfwinkel aller unreinen und abscheulichen Vögel. 3 Denn vom Zornwein ihrer Unzucht haben alle Völker getrunken und die Könige der Erde haben mit ihr Unzucht getrieben. Durch die Fülle ihres Wohlstands sind die Kaufleute der Erde reich geworden. 4 Dann hörte ich eine andere Stimme vom Himmel her rufen: Verlass die Stadt, mein Volk, damit du nicht mitschuldig wirst an ihren Sünden und von ihren Plagen mitgetroffen wirst! 5 Denn ihre Sünden haben sich bis zum Himmel aufgetürmt und Gott hat ihre Schandtaten nicht vergessen. 6 Zahlt ihr mit gleicher Münze heim, gebt ihr doppelt zurück, was sie getan hat! Mischt ihr den Becher, den sie gemischt hat, doppelt so stark! 7 Im gleichen Maß, wie sie in Prunk und Luxus lebte, lasst sie Qual und Trauer erfahren! Sie dachte bei sich: Ich throne als Königin, ich bin keine Witwe und werde keine Trauer kennen. 8 Deshalb werden an einem einzigen Tag die Plagen über sie kommen, die für sie bestimmt sind: Tod, Trauer und Hunger. Und sie wird im Feuer verbrennen; denn stark ist der Herr, der Gott, der sie gerichtet hat.
9 Die Könige der Erde, die mit ihr gehurt und in Luxus gelebt haben, werden über sie weinen und klagen, wenn sie den Rauch der brennenden Stadt sehen. 10 Sie bleiben in der Ferne stehen aus Angst vor ihrer Qual und sagen: Wehe! Wehe, du große Stadt Babylon, du mächtige Stadt! In einer einzigen Stunde ist das Gericht über dich gekommen. 11 Auch die Kaufleute der Erde weinen und klagen um sie, weil niemand mehr ihre Ware kauft: 12 Gold und Silber, Edelsteine und Perlen, feines Leinen, Purpur, Seide und Scharlach, wohlriechende Hölzer aller Art und alle möglichen Geräte aus Elfenbein, kostbarem Edelholz, Bronze, Eisen und Marmor; 13 auch Zimt und Balsam, Räucherwerk, Salböl und Weihrauch, Wein und Öl, feinstes Mehl und Weizen, Rinder und Schafe, Pferde und Wagen und sogar Menschen mit Leib und Seele. 14 Auch die Früchte, nach denen dein Herz begehrte, sind dir genommen. Und alles, was prächtig und glänzend war, hast du verloren; nie mehr wird man es finden. 15 Die Kaufleute, die durch den Handel mit dieser Stadt reich geworden sind, werden aus Angst vor ihrer Qual in der Ferne stehen und sie werden weinen und klagen 16 und sie werden sagen: Wehe! Wehe, du große Stadt, bekleidet mit feinem Leinen, mit Purpur und Scharlach, geschmückt mit Gold, Edelsteinen und Perle! 17 In einer einzigen Stunde ist dieser ganze Reichtum dahin. Alle Kapitäne und Schiffsreisenden, die Matrosen und alle, die ihren Unterhalt auf See verdienen, machten schon in der Ferne Halt, 18 als sie den Rauch der brennenden Stadt sahen, und sie riefen: Wer konnte sich mit der großen Stadt messsen? 19 Und sie streuten sich Staub auf den Kopf, sie schrien, weinten und klagten; sie sagten: Wehe! Wehe, du große Stadt, die mit ihren Schätzen alle reich gemacht hat, die Schiffe auf dem Meer haben! In einer einzigen Stunde ist sie verwüstet worden. 20 Freu dich über ihren Untergang, du Himmel – und auch ihr, Heilige, Apostel und Propheten, freut euch! Denn den Urteilsspruch zu euren Gunsten hat Gott an ihr vollstreckt. 21 Dann hob ein gewaltiger Engel einen Stein auf, so groß wie ein Mühlstein; er warf ihn ins Meer und rief: So wird Babylon, die große Stadt, mit Wucht hinabgeworfen werden und man wird sie nicht mehr finden. 22 Die Musik von Harfenspielern und Sängern, von Flötenspielern und Trompetern hört man nicht mehr in dir. Einen kundigen Handwerker gibt es nicht mehr in dir. Das Geräusch des Mühlsteins hört man nicht mehr in dir. 23 Das Licht der Lampe scheint nicht mehr in dir. Die Stimme von Braut und Bräutigam hört man nicht mehr in dir. Deine Kaufleute waren die Großen der Erde, deine Zauberei verführte alle Völker. 24 Aber in ihr ist das Blut von Propheten und Heiligen gefunden worden und von allen, die auf der Erde hingeschlachtet worden sind.
Johannes bekommt in dieser Szene das Gericht über Rom, das sich hinter Babylon verbirgt, gezeigt. In diesem Szenario ist Gott der Richter, Rom die Angeklagte und die Ankläger alle, die von Rom „auf der Erde hingeschlachtet worden sind“ (18,24)1. Zwei Engel verkünden den Vollzug des Gerichts (VV. 1-8). Daraufhin stimmen Gruppen, die von der Macht Roms gelebt haben, ein Klagelied an (VV. 9-20). In einer Zeichenhandlung wird das Gericht vollzogen (VV. 21-24).
Der Engel, den Johannes „vom Himmel herbsteigen“ sah… (V. 1ff)
Er verkündet das Gericht. Seine Botschaft ist: „Gefallen, gefallen ist Babylon, die Große!“ Es ist ein prophetisches Sprechen, das schon als geschehen darstellt, was sich in der Zukunft ereignen wird2. Beschrieben wird eine verwüstete Stadt, in der sich nur noch unreines und abscheuliches Getier aufhält. Das ist nicht einfach Grusel in Bildern, sondern erinnert an das, was römische Heere an Zerstörung angerichtet haben: „Niedermetzelung der waffenfähigen Männer, Verkauf der übrigen Einwohner in die Sklaverei, Brandlegung und Schleifung sind geradezu Stereotypen in der Beschreibung eroberter Städte.“3 Nun fällt auf Babylon/Rom zurück, was es anderen angetan hat. Darin kommt zugleich zum Ausdruck, dass das Leid der Opfer nicht einfach vergessen sein darf. Gleichsam mit dem Rücken zu ihnen kann nicht einfach zur ‚Normalität‘ übergegangen werden. Das Leid der Opfer schreit nach Unterbrechung und Umkehr.
In V. 3 wird das Gericht damit begründet, dass Babylon/Rom alle Völker mit dem seiner Unzucht getränkt bzw. „betrunken gemacht hat“ wie es in 14,5 heißt. Von Babylon/Rom geht eine magische Anziehungskraft aus. Seine Zauberei „verführte alle Völker“ (18,24). Beides greift ineinander: die magische Verführungskraft, die betrunken macht, und diejenigen, die „vom Zornwein ihrer Unzucht … getrunken haben“. Genannt werden vor allem die Könige der Erde, „die mit ihr Unzucht getrieben haben“ und „die Kaufleute der Erde“, die „durch die Fülle ihres Wohlstands … reich geworden sind“ (V. 3). Wo die Einheitsübersetzung verharmlosend von der „Fülle ihres Wohlstands“ spricht, steht im griechischen Text das Wort dynamis, das eher mit Macht zu übersetzen wäre. So tut es Lichtenberger, wenn es bei ihm heißt, die Könige der Erde seien „reich geworden durch die Macht ihres Luxus“4.
Das mit „Luxus“ übersetzte griechische Wort (stränos) beinhaltet auch „Lust“ und „Kraft“. Vor diesem Hintergrund ist „Luxus“ als eine treibende Macht zu verstehen, die darauf drängt vom „Zornwein ihrer Unzucht“, d.h. des Götzendienstes, zu trinken und sich ihrer verzaubernden Anziehungskraft zu unterwerfen als Preis dafür, die Früchte des Unrechts und der Gewalt einfahren zu können. Es ist der Preis, den die Vasallenkönige Roms für die Erhaltung ihrer Herrschaft und die Kaufleute für ihre Geschäfte zu zahlen haben. Dem entspricht die kostbare Ausstattung der Frau, die auf dem „scharlachroten Tier“ sitzt und ihr „goldener Becher in der Hand, der mit dem abscheulichen Schmutz ihrer Hurerei gefüllt war“ (17,3f). Wer die Zeche dafür zu zahlen hat, wird in der Romrede des Aelius Aristides recht deutlich: „Herbeigeschafft wird aus jedem Land und aus jedem Meer, was immer die Jahreszeiten wachsen lassen und alle Länder und Flüsse und Seen sowie die Künste der Griechen und Barbaren hervorbringen. Wenn jemand das alles sehen will, so muss er entweder den ganzen Erdkreis bereisen, um es auf solche Weise anzuschauen, oder in diese Stadt kommen. Was nämlich bei den einzelnen Völkern wächst und hergestellt wird, ist notwendigerweise hier stets vorhanden, und zwar im Überfluss.“5
„Dann hörte ich eine andere Stimme vom Himmel rufen …: Verlass die Stadt…!“ (V. 4)
Ein zweiter Engel formuliert eine Reihe von Aufforderungen. Die wichtigste steht am Anfang: „Verlass die Stadt, mein Volk…“ (V. 4). Die Anrede „mein Volk“ macht deutlich, dass in dieser Aufforderung Gott selbst zu Wort kommt. Aufgenommen ist die Aufforderung Jeremias, angesichts des Gerichts über Babel (Jer 51) die Stadt zu verlassen, um „sein Leben vor dem glühenden Zorn des HERRN“ zu retten (Jer 51,45). Gottes Volk soll mit der Stadt, mit Rom, brechen. Sonst macht es sich „mitschuldig … an ihren Sünden“, wird zum Komplizen Roms und wird in den Untergang mit hinein gerissen (V. 4b). Es wäre verwickelt in die ‚Strukturen der Sünde‘, deren Kern der Götzendienst ist, die Fetischisierung von Reichtum und Herrschaft. Deren „Schandtaten“ hat Gott nicht vergessen. Näher am griechischen Text wäre es, von Taten des Unrechts zu sprechen. Das Unrecht, das den Opfern angetan wird, das Blut derer, die „hingeschlachtet worden sind“ (V. 24), schreit nach Gott und seiner Gerechtigkeit. Das Blut der Opfer hat „Gott … nicht vergessen“ (V. 5). Dieser Zusammenhang ist bereits in Offb 6,4 deutlich geworden. Nachdem das Lamm das zweite Siegel geöffnet hatte, erscheint auf einem feuerroten Pferd ein Reiter. Er ist „ermächtigt, der Erde den Frieden zu nehmen, damit die Menschen sich gegenseitig abschlachten. Und es wurde ihm ein großes Schwert gegeben.“ Mit diesem scheinbaren Blick in die Zukunft beschreibt Johannes seine Gegenwart: das Abschlachten in den von Rom geführten Kriegen, den Terror gegen alle, die nicht loyal gegenüber dem Imperium sind. Das wird auch als pax romana deklariert, ist aber das Gegenteil von Friede: Unrecht, Frevel, Greuel. Der Reiter auf dem feuerroten Pferd, dessen Farbe dem Drachen aus Offb 13 entspricht, bringt nicht Friede, sondern nimmt ihn.
Es folgt die Aufforderung, es der Stadt heimzuzahlen und das gleich doppelt: „Gebt ihr doppelt zurück, was sie getan hat!“ Und: „Mischt ihr den Becher, den sie gemischt hat, doppelt so stark!“ (V. 6). Hier sind nicht mehr diejenigen gemeint, die die Stadt verlassen sollen. Es dürfte eher ein in in apokalyptischen Texten immer wieder auftauchender Strafengel angesprochen sein. Er soll die Vergeltung vollziehen. Entsprechend dem Zusammengang von Tun und Ergehen sollen sie das Unrecht, die „Schandtaten“ (V. 5) – wie es wörtlich heißt – zurück geben, und zwar doppelt. Das, was Rom den Unterworfenen angetan hat, soll auf es selbst doppelt zurückfallen.
Da mag manch aufgeklärten Christenmenschen der ‚alttestamentliche Gott der Rache‘, der durch das christliche Gebot versöhnender Liebe überwunden ist, in den Sinn kommen. Eine allgemeine Rede von Versöhnung geht in ihrer Allgemeinheit über das besondere Leiden der Opfer und das Unrecht, das sie erfahren haben, aber hinweg. Sie redet aus einer ‚höheren Position‘. Klaus Wengst fragt: „Sind Privilegierte vielleicht auch für eine ‚höhere‘ Ethik privilegiert, die den Opfern von ihrer Situation her verstellt ist?“6 Gegenüber solch ‚höherer Ethik‘ besteht die Offenbarung darauf, das Unrecht zurückzugeben. Damit erinnert sie daran, dass die gegenüber den Opfern verübten Untaten in der Geschichte nicht gleichgültig sind und deshalb nicht vergessen werden und in Allversöhnungsphantasien verschwinden dürfen. Leid und Verzweiflung der Opfer sind nicht zu beschwichtigen oder vom hohen Ross einer abstrakten Versöhnung zu ‚befrieden‘. Vielmehr kommt es darauf an, die Schreie nach Rettung angesichts des Terrors zu hören, der sich hier Ausdruck verschafft. Zur Rettung der Opfer gehört wesentlich, dass diejenigen, die dafür verantwortlich sind, zur Rechenschaft gezogen werden.
Die immanente Logik von Tun und Ergehen kommt in Vers 7 zum Ausdruck, wenn es heißt: „In gleichem Maß, wie sie in Prunk und Luxus lebte, lässt sie Qual und Trauer erfahren.“ Dies ist die Antwort auf Roms Arroganz der Macht, auf eine Königin, die auf dem Thron sitzt und von sich dachte: „Ich bin keine Witwe und werde keine Trauer kennen“ (V. 7). Mit den Witwen und Waisen sind in der Bibel Armut und Ausgrenzung, die Trauer, verlassen und isoliert zu sein, verbunden. „An einem einzigen Tag“ werden aber über die Stadt, die sich darüber erhaben wähnt, „Tod, Trauer und Hunger“ kommen (V. 10). „Die Erfahrungen, die ein großer Teil der Menschen in den Provinzen schon lange macht, werden die Metropole erreichen. Darüber hinaus wird hier die Zerstörung durch Feuer angekündigt. Auch das ist etwas, was im Krieg die Besiegten immer wieder erfahren haben.“7 Nun fällt auf Rom zurück, was es vor allem in den Provinzen angerichtet hat.
Von realer Vergeltung ist die Gemeinde des Johannes weit entfernt. Es ist strikt Gott, der „stark ist“ und „der“ die Stadt „gerichtet hat“ (V. 8). Die Gemeinde hält an der Hoffnung fest, dass Gott gegen das herrschende Unrecht Gerechtigkeit, gegen den Tod Leben schafft. Das geht nicht ohne dass die Macht Roms beendet wird. Die Gemeinde des Johannes soll nicht – wie viele ihrer Zeitgenossen – zu den Waffen greifen, nicht zu den Mitteln Roms und dabei noch einmal verlieren. Sie orientiert sich am Widerstand, für den der gekreuzigte und auferweckte Messias steht. „Heute würden wir von einem gewaltfreien Kampf sprechen, von kulturellem, ethischem und geistigem Widerstand (der allerdings nicht weniger geschichtswirksam ist).“8 Darin ist der Bruch mit Rom, das ‚Verlassen der Stadt‘, lebendig. Der Kontrast zu Johannes wird schon wenige Jahre später deutlich. Die entstehende Kirche verlässt nicht die Stadt, sondern sucht ihre Nähe, richtet sich in ihr ein. Das kommt dann auch in völlig anderen Beurteilungen Roms zum Ausdruck. Bischof Melito von Sardes schreibt 175 an Kaisers Mark Aurel: „Unsere Philosophie erwachte dereinst kräftig im Schoße von Barbaren, reifte unter der ruhmreichen Regierung deines Vorgängers Augustus unter deinen Völkern zur Blüte und brachte vor allem deiner Regierung Glück und Segen. Von da ab erhob sich die römische Macht zu Größe und Glanz… Dass unsere Lehre zugleich mit dem Reich, das glücklich begonnen hatte, zu dessen Wohl erblühte, ergibt sich am deutlichsten daraus, dass ihm von den Zeiten des Augustus nichts Schlimmes widerfahren ist, dass es im Gegenteil – wie es aller Wunsch ist – lauter Glanz und Ruhm geerntet hat.“9
Klagen über den Untergang Babylons: „Wehe, wehe, du große Stadt Babylon…“ (18,9-20)
Über den Untergang Roms klagen diejenigen, die sich von der ‚Macht ihres Luxus‘ (V. 3) verführen und antreiben ließen: die Könige (V. 9f), die Kaufleute (VV. 11-17) und die Schiffer (VV. 17-19).
Als erste klagen die Könige, die mit der Stadt „gehurt und in Luxus gelebt haben“ (V. 9). Aufgenommen ist die Aussage aus 17,2 und mit dem Hinweis auf das Leben in Luxus erweitert. Sie stehen nun von Ferne und klagen. In der Formulierung der Klagen greift Johannes auf Texte aus dem Ersten Testament zurück, vor allem auf Ezechiel 27, ein Klagelied über Tyrus. Die Könige stehen „in der Ferne“ (V. 9) und trauen sich nicht an die brennende Stadt heran.
Die Kaufleute klagen, „weil niemand mehr ihre Ware kauft“ (V. 11). Bis ins Einzelne wird aufgezählt, was alles nach Rom geschafft wurde: Edelmetalle wie Gold und Silber, aus denen Münzen und Schmuck hergestellt wurde, Edelsteine und Perlen, die ebenfalls als Schmuck dienten, edle Stoffe für vornehme Kleidung, Zitrushölzer, aus denen Luxusmöbel hergestellt wurden, Marmor zur Ausstattung von Häusern und Wohnungen, Duftstoffe, „Wein und Öl, feinstes Mehl und Weizen“ (V. 13), Tiere, die für die berüchtigten ‚Spiele‘ gebraucht wurden – und schließlich „sogar Menschen mit Leib und Seele“ (V. 13). Gemeint sind Sklaven, die als Zwangsarbeiter gebraucht wurden, oder als „Männer und Frauen …, die für den Zirkus und die Bordelle bestimmt waren“10. Sklaven waren eine wesentliche Grundlage sowohl für den Luxus als auch für die Unterhaltung, die auch den Massen ‚zu gute‘ kam.
Die Kehrseite der ‚Macht des Luxus‘ wird in denen sichtbar, die darunter zu leiden hatten. Es sind „die kleinen Leute, die riesigen Scharen der Untertanen der Könige im weiten Land; die Arbeiter und Bauern…; die Bewohner der Elendsviertel am Rande der Großstadt; die vielen Lakaien und Sklaven; die Unzähligen, die für den Glanz der Metropolen ihr Leben opfern mussten, in den Steinbrüchen, in den Ziegelbrennereien, auf See, beim Schaukampf in der Arena.“11 Sie sind auch diejenigen, die unter den Schwankungen der Preise für Nahrungsmittel zu leiden haben. Was die Gewinne, die Kaufleute mit den in der Aufzählung genannten „Wein und Öl, feinstes Mehl und Weizen“ (V. 13) einfahren könnten, für sie bedeuten, wird in Offb 6,5 deutlich. Hier wird ein schwarzes Pferd geschildert, auf dem ein Reiter sitzt, der einen Waagebalken in der Hand hält. Eine deutende Stimme sagt: „Ein Maß Weizen für einen Denar und drei Maß Gerste für einen Denar. Aber dem Öl und dem Wein füge keinen Schaden zu!“ (6,6). Ein Denar ist der Tagesverdienst eines männlichen Tagelöhners in der Landwirtschaft (vgl. Mt 20,1-16). Ein Maß gilt als eine Tagesration. Wurden die Nahrungsmittel infolge von Missernten oder Kriegen knapp, steigen die Preise über das hinaus, was Tagelöhner für sich und ihre Kinder zahlen können. Dabei versuchen Großgrundbesitzer und Händler durch höhere Preise von der Not zu profitieren. Als ‚Vorsorge‘, um aus der Not profitieren zu können, legen Reiche – wie z.B. der reiche Kornbauer im Lukasevangelium (Lk 12,13-21) – Vorratslager an. Die Knappheit an Nahrungsmitteln im ersten Jahrhundert ist auch Ausdruck der Ausweitung von Latifundien, die zulasten der für ihren Bedarf produzierenden Kleinbauern gingen, ebenso wie der gewinnbringende Anbau von Wein und Öl, der im Überfluss angebaut und exportiert wird. Den damit verbundenen Gewinnen soll „kein Schaden“ (6,6) zugefügt werden.
Zur dritten Gruppe der Klagenden gehören die Kapitäne, Schiffsreisenden und Matrosen, „alle, die ihren Unterhalt auf See verdienen“ (V. 17). Über Ostia, den Hafen Roms, war der Seehandel auf Rom hin ausgerichtet. Er sei – so schreibt Aristides – „der gemeinsame Handelsplatz aller Menschen und der gemeinsame Markt für die Erzeugnisse der Erde“12. Gerade die Frachtgüter aus dem Osten kamen auf dem Seeweg nach Rom. Mit dem Untergang Roms verlieren auch die Seeleute ihren „Unterhalt“ (V. 17), die Grundlagen ihrer Existenz. Sie klagen über den Verlust der großen Macht Roms, „die mit ihren Schätzen alle reich gemacht hat, die Schiffe auf dem Meer haben“ (V.19). Nach Klaus Wengst zeigt sich hier wieder ‚die Dynamik des Luxus‘ von der in Offb 18,3 die Rede war: „Darauf, auf den Bedarf der Metropole, wird die Produktion abgestellt, daran orientiert sich der Handel, das strukturiert die Handelswege, dafür wird der Frachtraum gebraucht.“13
Das Entsetzen darüber, dass eine solch mächtige Stadt untergehen kann, kommt bereits in ihrer ersten Reaktion „auf den Rauch der brennenden Stadt“ zum Ausdruck, als „sie riefen: Wer konnte sich mit der großen Stadt messen?“ (V. 18) Die Einheitsübersetzung lässt leider den Bezug zu Offb 13,4 nicht mehr so deutlich erkennen wie der griechische Text. An beiden Stellen wäre – wie es die Einheitsübersetzung bei 13,4 auch tut – wörtlicher zu übersetzten mit: „Wer ist … gleich?“ Also: „Wer ist dem Tier gleich und wer kann den Kampf mit ihm aufnehmen? (Offb 13,4) und „Wer ist der großen Stadt gleich?“ (Offb 18,18). Mit dem Untergang der „großen Stadt“ wird denen, die anbetend vor dem Tier in die Knie gehen, dessen Hohlheit und Leere vor Augen geführt. Der Götze wird als substanzlos erkennbar.
„Freue dich über ihren Untergang…“ (V. 20)
Im Gegensatz zu den Klagen der Könige, der Kaufleute und der Schiffer steht die Aufforderung zum Jubel im Himmel, in den die Gemeinde, die als „ihr Heilige, Apostel und Propheten“ angesprochen wird, einstimmen soll. Es ist der Jubel über den Untergang Roms, den Gott „zu euren Gunsten“, zu Gunsten derer, die unter Rom zu leiden hatten, „vollstreckt“. Der Untergang wird in einer Vision vorweggenommen, während Rom faktisch weiter existiert. Im Jubel über den in der Vision vorweggenommen Untergang „spricht sich die Hoffnung aus, dass die Gewalttätigen, die Sieger der Geschichte, nicht für immer über ihre Opfer triumphieren“14. Sie gibt Kraft standzuhalten und zu widerstehen. Zugleich macht sie den Blick frei für eine andere Stadt: das neue Jerusalem als Gegenbild zu Babylon/Rom.
„Dann hob ein gewaltiger Engel einen Stein…“ (VV. 21ff)
In einer Zeichenhandlung wird das Gericht durch einen Engel vollzogen. Das Ende Roms wird in Bildern, die auf die Propheten Jesaja und Ezechiel zurück greifen, ausgemalt. Die Musik hat ausgespielt und die Feste sind beendet. Es gibt keine Bautätigkeiten mehr durch Handwerker. Getreidemühlen haben den Betrieb eingestellt (V. 22). Die Lichter gehen aus und vorbei ist es mit der Ehe als Grundlage der patriarchalen römischen Gesellschaft. Und vor allem diejenigen, die als Vasallenkönige, Kaufleute und Schiffer aufgrund der ‚Dynamik des Luxus‘ zu den „Großen der Erde“ gehörten, haben ausgespielt. Vorbei ist es mit der blendenden Zauberkraft, die von Rom ausging und die Völker „verführte“. Mit seinem leeren Schein kann Rom niemanden mehr in seinen Bann ziehen.
„… in ihr ist das Blut … gefunden worden…“ (V. 24)
Am Schluss des Kapitels wird noch einmal der Grund für Anklage und Urteil formuliert. Es ist das Blut gefunden worden „von Propheten und Heiligen … und allen, die auf der Erde hingeschlachtet worden sind“. Darin wird die Perspektive unterstrichen, aus der die Offenbarung die Herrschaft Roms sieht: die Perspektive der Opfer, die es innerhalb und außerhalb der Gemeinde gibt. Die Offenbarung des Johannes ist eine Stimme, die den Opfern der römischen Herrschaft Gehör verschaffen will, die Hoffnung auf das Ende Roms und die Rettung der Opfer und darin die Widerstandskraft der Gemeinde stärkten will.
Eine Anmerkung zum Schluss
Es war nicht möglich, Offb 18 zu lesen und zu bearbeiten, ohne dass die Opfer des von Russland geführten Krieges gegen die Ukraine, das Agieren der Nato und die Folgen in Gestalt weiterer Hunger- und Klimakatastrophen präsent waren. Angesichts der aktuellen Situation bekommt die Frage nach dem Zusammenhang von Tun und Ergehen noch einmal eine bedrängende Aktualität. Die globale Herrschaft der kapitalistischen Warenproduktion, zu der auch ihre etatistische Variante im Osten gehörte, und der mit ihr verbundene irrationale, wahnsinnige Selbstzweck der Vermehrung von Kapital um seiner selbst willen treibt den Globus in den Ruin. Was an den Peripherien an Destabilisierung in den Weltordnungskriegen (als Reaktion auf Zusammenbrüche, die sich in Hunger, Umweltzerstörung und Flucht auswirken) bereits Jahrzehnte prozessiert, greift auf die zerfallenden bzw. destabilisierten Zentren über und schlägt in gefährlichen Zuspitzungen irrationalen Handelns zurück. Es findet seinen Ausdruck in einem großrussischen oder sonst irgendeinem Größtenwahn, ebenso wie im Wahn auf der Seite des Guten zu stehen. Dieser Wahn blendet und macht blind für Auswege aus zunehmend gefährlicheren Eskalationen.
Die Vernichtungsdynamik eines Wahnsystems, dem vor allem Menschen an der Peripherie zum Opfer fallen, schlägt zurück auf die Zentren, in denen sich die Menschen trotz aller Probleme vor globaler Zerstörung sicher wähnten und unreflektiert dem wahnsinnigen Tier der kapitalistischen Zerstörungsmaschinerie huldigten und opferten und deren greifbare Opfer im Mittelmeer ertrinken und an den Grenzen im Nato-Stacheldraht verbluten ließen. Lieber nicht hinschauen, nicht helfen und schon gar nicht begreifen, sondern immer weiter so. Schlimm sind die TheoretikerInnen, die das analysieren, nicht aber die analysierte Wirklichkeit.
Rettung kann es nur durch eine Umkehr geben, die für alle notwendig wird – wie uns die Evangelien vom Morden des Herodes und dem Einsturz des Turmes von Schiloach (Lk 13,1-9) sowie vom verlorenen Sohn (Lk 15,1-3.11-32) eingeschärft haben, die in der katholischen Liturgie an den dritten und vierten Fastensonntag (27.3. und 3.4. 22) gelesen wurden (vgl. dazu die Predigten von Paul Freialdenhoven auf der Hompage des Netzes). Umkehr ist für alle notwendig, weil alle in die Macht der Sünde verstrickt sind. Heute sind wir so in die Herrschaft der kapitalistischen Warenproduktion verstrickt, dass kaum ein ‚Anpack‘ für Umkehr aus dieser Herrschaft sichtbar wird. Ist ein Punkt überschritten, von dem an es kein Zurück mehr gibt und nur noch das ausgegossen werden kann, was sich an Unrecht und Gewalt ‚akkumuliert‘ hat? Dann käme alle Erkenntnis zu spät…
Von der Offenbarung wäre vielleicht zu lernen, dass, solange das ‚letzte Wort‘ noch nicht gesprochen ist, es Sinn macht, an der Umkehr und der dazu notwendigen Erkenntnis der Verhältnisse festzuhalten. Nicht weniger Not-wendig ist es, gegen die Barbarei eine Menschlichkeit zu pflegen, die nicht nur den ‚willkommenen‘ Geflüchteten gilt, sowie auch miteinander sorgsam umzugehen. Dass Marlies‘ Haus für Geflüchtete aus der Ukraine zur Verfügung steht, ist in diesen Zusammenhängen eine ‚frohe Botschaft‘, die aufrichtet. Und in all dem ermutigt uns die Offenbarung des Johannes, die in die Abgründe der Katastrophen gesehen hat, der Hoffnung zu trauen, dass Israels Gott und sein Messias, das von Rom geschlachtete Lamm, das ‚letzte Wort‘ haben.
Herbert Böttcher
1 Vgl. Pablo Richard, Apokalypse. Das Buch von Hoffnung und Widerstand. Ein Kommentar, Luzern 1996, 199.
2 Im griechischen Text steht die Zeitform des Aorist, die es im Deutschen nicht gibt, aber mit dem Perfekt wiedergegeben werden kann. Sie steht auch im Magnificat der Maria (Lk 1,46ff), da auf das, was noch kommen wird, ausgegriffen wird. In der Einheitsübersetzung wird hier jedoch das Präsens benutzt, wenn es z.B. heißt: „Er vollbringt mit seinem Arm macht volle Taten …, er stürzt die Mächtigen vom Thron… (1,51ff). Aber auch das ist ein prophetischer Aorist, der deutlich macht, dass das, was für die Zukunft verheißen ist, jetzt schon beginnt Wirklichkeit zu werden.
3 Klaus Wengst, „Wie lange noch?“ Schreien nach Recht und Gerechtigkeit – eine Deutung der Apokalypse des Johannes, Stuttgart 2010, 190. Wengst zitiert in diesem Zusammenhang Flavius Josephus (De Bello Judaico III 132 – 134 in der Übersetzung von Otto Michel und Otto Bauernfeind, Darmstadt 2013). Josephus schildert die Eroberung Galliens durch die Truppen Vespasians: „Vespasian rückte gegen die Stadt Gabara heran und nahm sie im ersten Ansturm, da sie von allen kampffähigen Männern verlassen war. Nach seinem Sieg ließ er die erwachsenen Männer niedermachen, und die Römer schonten dabei weder alt noch jung … darauf ließ er nicht allein die Stadt, sondern auch alle umliegenden Dörfer und Landstädtchen anzünden, die meisten fand er verlassen vor, in den anderen ließ er die Bevölkerung in die Sklaverei verkaufen.“
4 Hermann Lichtenberger, Die Apokalypse. Theologischer Kommentar zum Neuen Testament hgg. von Ekkehard W. Stegemann, Luise Schottroff, Angelika Strotmann, Klaus Wengst, Stuttgart 2014, 230.
5 Aelius Aristides, Die Romrede, herausgegeben und übersetzt von Richard Klein, Darmstadt 1983, 11.
6 Wengst (Anm. 3), 192.
7 Ebd., 193.
8 Richard (Anm. 1), 202.
9 Zitiert nach Wengst (Anm. 3), 179.
10 Richard (Anm. 1), 203.
11 Kuno Füssel, Im Zeichen des Monstrums. Zur Staatskritik der Johannes-Apokalypse, Freiburg 1986, 68.
12 Aristides (Anm. 5).
13 Wengst (Anm.3), 174.
14 Ebd.