Wo Kirche ihren Ort hat!

Predigt zu Mk 10,35-45 vom 29. Sonntag im Jahreskreis (2021)

Was hat Jesus gewollt? „Der Menschensohn ist nicht gekommen, sich bedienen zu lassen, sondern zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele“. Hier liegt das Geheimnis seines Lebens. Er ließ sich nicht bedienen und wollte erst recht nicht verdienen, er diente. Er forderte nicht, er gab. Er demütigte nicht, er richtete auf. Er wusch seinen Jüngern nicht den Kopf, sondern die Füße.

In seiner Nachfolge gibt es keine andere Autorität als die des Dienstes. Darin liegt etwas unterscheidend Christliches: „Wer sein Leben retten will, wird es verlieren. Wer aber sein Leben um meinetwillen verliert, der wird es retten.“ Dort steht die Kirche in der Nachfolge ihres Herrn, wo sie sich nicht um sich selbst und ihre eigenen Probleme dreht, sondern wo sie sich übersteigt auf die anderen hin, wo sie sich derer annimmt, die ihr nicht den Hof machen, wo sie nicht nur ihre eigenen Interessen vertritt, sondern vor allem die Interessen derer, die durch niemanden vertreten sind. Institutionen sind zumeist darauf aus, sich selbst zu erhalten und zu behaupten. Die Kirche auch? Dann würde sie sich selbst, ihrem Ursprung untreu. Von ihm her müsste sichtbar werden, dass sie von anderer Art ist und aus anderen Quellen lebt.

Viele sind heute von der Frage beherrscht: was bringt mir das? Schließlich gerät auch der Glaube unter diesen Maßstab: was bringt mir der Gottesdienst? Er bringt nichts, darum kann er gestrichen werden. Was bringt mir die Kirche? Die bringt nicht viel, also: Austritt. Die Kirche hat ihre Deutungshoheit über das Leben und ihre Bedeutung für den Alltag der Menschen inzwischen fast komplett verloren und das trotz unglaublicher Investitionen in Logistik, Immobilien und Personal. Von modernen Kirchenentwicklern wird die Kirchenkrise im Verlust Ihrer Bedeutung für den Lebensvollzug von Menschen, also in einer Kundenkrise verortet, die in einer Absatzkrise der kirchlichen Produkte sichtbar wird. Also soll die Kirche lernen, wie heute das knappe Gut Aufmerksamkeit zu gewinnen ist und zwar durch Aktivitäten im Kirchen- und Glaubensmarketing. Sie muss attraktiv, KundInnen anziehen, wenn sie überleben will.

Dies scheint eine angemessene Reaktion auf die durch Individualisierung und Pluralisierung geprägte gesellschaftliche Situation. Diese Prozesse gingen einher mit der Auflösung der volkskirchlichen Basis, wie sie durch die Abnahme der Beteiligung am kirchlichen Leben deutlich wird. Kirchliche Milieus lösen sich auf. Anstelle der Orientierung an Traditionen tritt die Zentrierung auf das eigene Selbst. Der Einzelne, der sich nicht mehr von Traditionen leiten lässt, erst recht nicht von Institutionen, sucht auf einem Markt der Möglichkeiten nach Orientierung und Entlastung. Wahrheitsfragen verschwinden hinter Befindlichkeitsfragen. Nicht was wahr ist zählt, sondern was sich ‚gut anfühlt‘. Ob die Inhalte, die mit Gott oder Religion in Verbindung gebracht werden wahr sind, ist egal. Hauptsache sie machen mich glücklich, trösten mich… Karl Marx hatte noch von der Wahrheitsfrage her gedacht und Religion unter den Verdacht gestellt, sie sei ‚Opium des Volkes‘. Auch das ist egal, wenn sie mir ‚gefühlt‘ etwas bringt.

Es ist es kein Zufall, dass sich hinter der Kirchenkrise eine Gotteskrise verbirgt. Denn die Rede von Gott, wie sie sich in der jüdisch-christlichen Tradition artikuliert, ist mit Inhalten verbunden, von denen behauptet wird, sie seien wahr und zielten auf Befreiung. Mit ihnen verbindet sich etwas, das scheinbar nicht in unsere Zeit passt: Empfindsamkeit für die menschliche Leidensgeschichte, die Solidarität mit den Opfern von Unrecht und Gewalt, die Fragen nach Gerechtigkeit, nach Rettung für die Toten, vor allem für die Opfer von Strukturen des Unrechts und der Gewalt.

Es geht nicht einfach um mich selbst als Einzelnen. Bei Jesus dreht sich nichts um die Achse des eigenen Selbst und die Frage: was bringt mir etwas? Er machte den anderen zum Maßstab seines Handelns. Er war nicht auf seine Position bedacht, es ging ihm um die Befreiung und Rettung derer, die unter unwahren Verhältnissen der Unterdrückung zu leben hatten und darin um mich, um uns, um die Rettung aller.

Diese Bemerkungen können keineswegs erschöpfend darlegen, was Jesus gewollt hat. Sie möchten zeigen, woran die Erneuerung der Kirche auszurichten ist. So sehr sie sich in unserer Zeit und Welt zu bewähren hat – ihre Maßstäbe kann sie sich nicht von dort geben und vorschreiben lassen. Darin liegt die Bedeutung des letzten Konzils, dass es den Blick auf den Ursprung freigegeben hat. Das Neue, um das es in der Erneuerung geht, ist das Evangelium als frohe Botschaft für die Armen und Gefangenen. Das Evangelium ist das Kriterium für die Kirche, nicht umgekehrt.

Betriebswirtschaftlich ist die Rede von Service und Dienstleistungen und Kundenorientierung. Mobilität und Flexibilität zeichnen den erfolgreichen Manager aus, der schnell erklären kann, wo sein Platz in der Wertschöpfung der Firma ist. Dienen im Sinne des Evangeliums meint Wertschöpfung in einem ganz anderen Sinn.

Die alleinerziehende Mutter einer behinderten Tochter, die sagt: „Ich bin überzeugt, dass auch behindertes Leben ein gutes Leben ist“. Sie hat den Sinn ihres Lebens entdeckt in der Beziehung zu anderen, die auch in Krankheit und Verlusten trägt. Die Krise der Kirche wird nicht durch ein verbessertes Angebot an Dienstleistungen überwunden, an Veranstaltungen und großen Events. Die Frage nach der Zukunft der Kirche entscheidet sich inhaltlich, nämlich daran, ob wir uns auf den Weg Jesu machen, auf den Weg zu Menschen, die am Boden liegen, unterdrückt und überflüssig gemacht werden und um Hilfe schreien. Sie entscheidet sich daran, ob wir mit Jesus, den Gott als den wahren Gott erkennen, von dem die Bibel erzählt, er höre die Schreie der Versklavten.

Jesus kann man nicht an und für sich finden und verstehen, isoliert von denen, für die er in die Welt kam. Die Nagelprobe des ChristInnen, der Kirche sind die, die keinen Menschen haben, die nichts bringen, von denen nichts zu erwarten ist, an denen Dienstleistungsbetriebe gar nicht interessiert sind, eben weil sie nichts bringen. Wir sind nicht ChristInnen, damit der Service klappt. Wir sind ChristInnen, damit wir dort sind, wo Jesus ist, damit wir der Spur seiner Worte und seiner Platzanweisung folgen. Jesus nachfolgen heißt: loslassen, klein werden, dienen, teilen, verlieren. Das geht gegen den Trend, in dem auch Dienstleistungen der Gewinnmaximierung dienen und Risiken kalkuliert werden müssen, in dem Ressourcen bis zum letzten ausgebeutet werden, damit die Maschine läuft und immer mehr Möglichkeiten produziert für die, die mithalten können.

Es geht nicht um Effektivierung kirchlicher Programme, sondern darum, dass ChristInnen und die Kirche die tägliche Verzweiflung und die Ängste der VerliererInnen und Fremden wahrnehmen, dass sie auf den Boden der Realitäten kommen, aus denen Menschen zum Himmel schreien. Das ist der Ort, wo Jesus ist. Das ist der Ort, wo der Gott Jesu sich zeigt. Das ist auch der Ort der Kirche.

Paul Freialdenhoven