Zum 4. Advent: Vom „Wasser des Lebens“ (Offb 22,1) und vom „Baum des Lebens“ (Offb 22,2) in der neuen Stadt Jerusalem (Offb 21,2)

Offb 22,1-5

1 Und er zeigte mir einen Strom, das Wasser des Lebens, klar wie Kristall; er geht vom Thron Gottes und des Lammes aus. 2 Zwischen der Straße der Stadt und dem Strom, hüben und drüben, steht ein Baum des Lebens. Zwölfmal trägt er Früchte, jeden Monat gibt er seine Frucht; und die Blätter des Baumes dienen zur Heilung der Völker. 3 Es wird nichts mehr geben, was der Fluch Gottes trifft. Der Thron Gottes und des Lammes wird in der Stadt stehen und seine Knechte werden ihm dienen. 4 Sie werden sein Angesicht schauen und sein Name ist auf ihre Stirn geschrieben. 5 Es wird keine Nacht mehr geben und sie brauchen weder das Licht einer Lampe noch das Licht der Sonne. Denn der Herr, ihr Gott, wird über ihnen leuchten und sie werden herrschen in alle Ewigkeit.

Die Bilder vom „Wasser des Lebens“ und vom „Baum des Lebens“ stehen in der Offenbarung des Johannes am Ende seiner Vision eines ‚neuen Himmel und einer neuen Erde‘ (Offb 21,1 – 22,5). Sie findet Gestalt in der neuen Stadt Jerusalem. In dieses Bild ist das Ringen um Jerusalem aus der jüdischen Tradition aufgenommen. In Jerusalem stand der Thron von Israels Königen, die die Herrschaft über das von Gott befreite Volk beanspruchten, den Armen des Volkes das Land genommen, sie zu Sklaven der Landbesitzenden gemacht und so dieses Volk in Arme und Reiche gespalten hatten. Jerusalem steht zugleich für die Katastrophen, die Israel in seiner Geschichte erlitten hatte – von der Zerstörung durch die Babylonier bis zur Zerstörung durch Rom, der Zeit, in der die Offenbarung des Johannes entsteht. Inmitten dieser Katastrophen ist Jerusalem der Brennpunkt der Hoffnungen Israels geblieben. Darin verschafft sich die Sehnsucht Ausdruck, Gott und sein Volke mögen doch zusammen kommen und damit die Befreiung zum Ziel gelangen.

In seiner Vision von einem ‚neuen Himmel und einer neuen Erde‘ greift Johannes Traditionen aus dem Propheten Jesaja auf. Der dritte Jesaja reagiert auf enttäuschte Erwartungen. In den Jahren des versuchten Neubeginns nach der Rückkehr aus Babylon war es nicht zu ‚blühenden Landschaften‘ gekommen. Das Erbe der Königszeit mit seinen Spaltungen und die Dominanz fremder Mächte wie Persien wirkten sich als hartnäckiger als erwartet aus. Dagegen stellt der dritte Jesaja seine Vorstellungen von einem ‚neuen Himmel und einer neuen Erde‘ als einem neu errichteten Jerusalem, deren BewohnerInnen auf einem Stück Land leben, das sie selbst bebauen und deren Früchte sie ernten, in dem die Menschen nicht eines vorzeitigen Todes, sondern als Greise sterben (Jes 6516b-25). Es ist eine Stadt, die aus den Trümmern errichtet ist, in der der Name von Israels Gott erkannt wird und alle „wissen, dass ich es bin, der sagt: Ich bin da“ (Jes 52,6). In apokalyptischen Traditionen des Jesaja-Buches bricht sogar die Vorstellung von der Überwindung des Todes und dem Abwischen aller Tränen durch (Jes 26,8).

Das neue Jerusalem als Gegenbild zur Herrschaft Roms

In der Offenbarung des Johannes ist das neue Jerusalem „Gegenbild zur großen Stadt Babylon/Rom“. Johannes „kontrastiert den Glanz und die Macht des römischen Weltreiches mit dem Reich Gottes und Christi, um den LeserInnen Mut zu machen, der mörderischen Macht Roms zu widerstehen“1. Dieser Kontrast kommt vor allem darin zum Ausdruck, dass die Mitte des neuen Jerusalem „der Thron Gottes und des Lammes“ (Offb 22,1) ist. Hier ist der Kaiser vom Thron gestürzt, das Gericht über Rom vollzogen (Offb 17-19) und der gekreuzigte Messias als das von der Macht Roms erniedrigte und geschlachtete Lamm erhöht.

Wasser des Lebens

Nun kann vom „Thron Gottes und des Lammes“ das „Wasser des Lebens“ (Offb 22,1) fließen. Die „Wasser des Lebens“ greifen die Vorstellung von dem Strom auf, der „in Eden“ entspringt und „der den Garten bewässert“ (Gen 2,10). Von dem Wasser sagt Gott in Offb 21,6: „Wer durstig ist, den werde ich umsonst aus der Quelle trinken lassen, aus der das Wasser des Lebens strömt.“ Diesen Satz wiederholt die Gemeinde des Johannes in ihrer Liturgie, wenn sie mit ihrer „Braut“, dem neuen Jerusalem, spricht: „Wer durstig ist, der komme! Wer will, der empfange unentgeltlich das Wasser des Lebens!“ (Offb 22,17). Entscheidend ist, dass das Leben, dessen Symbol das Wasser ist, „umsonst“ angeboten wird. Darin ist der Prophet Jesaja aufgegriffen, bei dem es heißt:

„Auf, alle Durstigen kommt zum Wasser. Die ihr kein Geld habt, kommt, kauft Getreide und esst, kommt und kauft ohne Geld und ohne Bezahlung Wein und Milch“ (Jes 55,1).

Das Leben im neuen Jerusalem ist nicht mehr über Geld vermittelt – auch nicht über alternatives Geld. Aus kapitalismuskritischer Perspektive können wir sagen: Das Leben ist nicht mehr der Vermehrung des Kapitals als abstraktem und tödlichem Selbstzweck unterworfen. Bereits in den antiken Gesellschaften kommt es mit dem über Münzen vermittelten Handel zur Verschärfung von Herrschaft und Ausgrenzung. Dagegen steht die Vorstellung des Jesaja vom ‚Kaufen‘ ohne ‚Geld‘. In der Offenbarung des Johannes heißt es: „Kaufen oder Verkaufen konnte nur, wer das Kennzeichen trug: den Namen des Tieres oder die Zahl seines Namens“ (Offb 13,17). Das Kennzeichen meint den römischen Denar. Mit dem Bild des Kaisers trägt er auch „den Namen des Tieres“, das in der Offenbarung des Johannes Symbol römischer Macht und Herrschaft ist (vgl. vor allem Offb 12,13 – 13,18). Nur wer über Denare verfügt und in ihrem Gebrauch seine Loyalität mit der römischen Macht zeigt, darf essen und leben.

Bei dem Propheten Ezechiel entspringen die Wasser des Lebens im Tempel (Ez 47,1-12). Im neuen Jerusalem aber gibt es keinen Tempel mehr, „denn der Herr, ihr Gott, der Herrscher über die ganze Schöpfung, ist ihr Tempel, er und das Lamm“ (Offb 21,22). Es bedarf auch keiner ‚religiösen‘ Vermittlung mehr. Nachdem die Macht Roms und mit ihr die im Geld symbolisierte verbundene wirtschaftliche Macht gebrochen sind, können Israels Gott der Befreiung, sein befreites Volk und die Völker endlich zueinander kommen. Jerusalem wird zur „Wohnung Gottes unter den Menschen“. Gott „wird in ihrer Mitte wohnen und sie werden sein Volk sein; und er, Gott, wird mit ihnen sein“ (Offb 21,3).

Bäume des Lebens

Das Bild des Paradieses war in Gen 2,4ff als bewässerter Garten dargestellt worden. Aus der Vorstellungswelt des Paradieses stammt auch der „Baum des Lebens“, der „zwischen der Straße der Stadt und dem Strom, hüben und drüben, steht“ (Offb 22,2). Gedacht ist an eine Allee, deren Bäume jeden Monat Früchte tragen und deren Blätter zur „Heilung der Völker“ (Offb 22,2) dienen. Der Garten des Paradieses war verschlossen und der Zugang zum „Baum des Lebens“ versperrt (Gen 3,22ff), nachdem die Menschen vom Baum der Erkenntnis gegessen hatten und sein wollten „wie Götter“ (Gen 3,4). Mit dem Sein-Wollen „wie Götter“ ist der Weg zu Fetischverhältnissen gebahnt, in denen sich Menschen von ihnen geschaffenen Götzen von Reichtum und Macht unterwerfen. Wenn aber nicht mehr ‚Götzen‘ bzw. fetischisierte Strukturen die Welt regieren, sondern Gott selbst und das Lamm die Mitte einer neuen Welt bilden, dann öffnet sich der verschlossene Garten zum Paradies und mit ihm der Zugang zu dem Baum bzw. zu den Bäumen des Lebens. Menschen sind nicht mehr der Herrschaft des Todes unterworfen, sondern über ein von Fetischen befreites Leben miteinander verbunden, das ‚umsonst‘, ‚ohne Geld‘ leben lässt.

Die Bewohner der Stadt sind nicht mehr Knechte Roms, sondern ‚Knechte‘ Gottes und des Lammes, d.h. sie stehen im Dienst Gottes und seiner neuen Welt. Deshalb tragen sie auch nicht mehr das ‚Kennzeichen des Tieres‘ (vgl. Offb 13,17). Nun ist Gottes Name „auf ihre Stirn geschrieben“ (Offb 22,4). Er kennzeichnet, prägt, formt nun ihr Leben. So werden die ‚Knechte‘ „herrschen in alle Ewigkeit“ (Offb 22,5). Wenn Gott inmitten seines Volkes ‚herrscht‘, das Leben also durch die ‚Form‘ seiner Befreiung geprägt ist, dann ist Gottes Herrschaft mit allen Befreiten geteilt. Außerhalb der neuen Stadt müssen jedoch diejenigen bleiben, die weiter leben wollen „wie Götter“ und von den Fetischverhältnissen nicht lassen wollen (Offb (21,8), denn „nichts Unreines wird (in die Stadt) hineinkommen, keiner der Gräuel verübt und lügt“ (Offb 21,27), also Gott und Götzen, Befreiung und Unterdrückung, Leben und Tod vertauscht. Nur so wird in dieser Stadt „der Tod … nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal“ (Offb 21,4). „Die transzendente Welt ist jetzt eine Welt ohne Tod. … Nur aus der Perspektive der Befreiung begreifen wir die Utopie einer transzendenten Welt ohne Tod.“2 Nur wenn die Grenzen der Verhältnisse von Unterdrückung und Gewalt überschritten, ‚transzendiert‘ werden können, ist ein Überschreiten, eine ‚Transzendierung‘ der Grenzen des Todes denkbar und vorstellbar.

Das ‚letzte Wort‘: Amen. Komm Herr Jesus! (Offb 22,20)

Mit diesem Ruf als apokalyptischem Schrei aus dem Erleiden von Herrschaft und Gewalt nach dem Kommen Jesu endet das Buch der Offenbarung und mit ihm die Bibel. Dieser Ruf prägt die besondere Zeit des Advent. Aber wenn wir auf die Katastrophen und das mit ihnen verbundene Leiden in unserer Gegenwart und Geschichte sehen, ist das ganze Jahr über Advent. So müsste der Schrei nach dem Advent Gottes und seines Messias das gesamte (Kirchen-)Jahr prägen. Er wäre Ausdruck dafür, dass wir Gott uns seinen Messias vermissen und gerade deshalb nicht aufhören, nach ihm zu rufen. Solange passen wir uns den Verhältnissen nicht an, sondern halten Stand, verwurzelt in der widerständigen Hoffnung, dass er kommen wird und mit ihm ein ‚neuer Himmel und eine neue Erde‘, die neue Stadt Jerusalem, einer „Braut“ (Offb 21,2), mit der wir doch alle ‚verheiratet‘ sein möchten…

Herbert Böttcher

1Elisabeth Schüssler Fiorenza, Das Buch der Offenbarung. Vision einer gerechten Welt, Stuttgart Berlin Köln 1994, 135.

2Pablo Richard, Apokalypse. Das Buch von Hoffnung und Widerstand. Ein Kommentar, Luzern 1996, 248.