Jes 35
1 Jubeln werden die Wüste und das trockene Land, jauchzen wird die Steppe / und blühen wie die Lilie. 2 Sie wird prächtig blühen / und sie wird jauchzen, ja jauchzen und frohlocken. Die Herrlichkeit des Libanon wurde ihr gegeben, / die Pracht des Karmel und der Ebene Scharon. Sie werden die Herrlichkeit des HERRN sehen, / die Pracht unseres Gottes. 3 Stärkt die schlaffen Hände / und festigt die wankenden Knie! 4 Sagt den Verzagten: / Seid stark, fürchtet euch nicht! Seht, euer Gott! / Die Rache kommt, die Vergeltung Gottes! / Er selbst kommt und wird euch retten. 5 Dann werden die Augen der Blinden aufgetan / und die Ohren der Tauben werden geöffnet. 6 Dann springt der Lahme wie ein Hirsch / und die Zunge des Stummen frohlockt, denn in der Wüste sind Wasser hervorgebrochen / und Flüsse in der Steppe. 7 Der glühende Sand wird zum Teich / und das durstige Land zu sprudelnden Wassern. Auf der Aue, wo sich Schakale lagern, / wird das Gras zu Schilfrohr und Papyrus. 8 Dort wird es eine Straße, den Weg geben; / man nennt ihn den Heiligen Weg. Kein Unreiner wird auf ihm einherziehen; / er gehört dem, der auf dem Weg geht, / und die Toren werden nicht abirren. 9 Es wird dort keinen Löwen geben, / kein Raubtier zieht auf ihm hinauf, kein einziges ist dort zu finden, / sondern Erlöste werden ihn gehen. 10 Die vom HERRN Befreiten kehren zurück / und kommen zum Zion mit Frohlocken. Ewige Freude ist auf ihren Häuptern, / Jubel und Freude stellen sich ein, / Kummer und Seufzen entfliehen.
Unser Text (Jes 35) ist eine kleine Apokalypse. Solchen Texten geht es darum, die Verheißungen der Befreiung angesichts von Bedrohungen und Katastrophen zum Ausdruck zu bringen. Die Verwendung unseres Textes in der Liturgie, vor allem seine Aufnahme in dem Adventslied „Kündet allen in der Not…“ (Gl 221) lassen von Katastrophen nichts ahnen. Einen Hinweis bietet im biblischen Text der Vers 4. Hier sind Ermutigung („Sagt den Verzagten…“) und Verheißung der Rettung („Er selbst … wird euch retten.“) eingebettet in den Satz: „Die Rache kommt, die Vergeltung Gottes.“ Mit diesem Satz ist die Verbindung zu Kapitel 34 hergestellt. Unmittelbar bezieht er sich auf 34,8: „Denn ein Tag der Vergeltung ist es für den Herrn…“ Mit dem Tag der Vergeltung ist das Gericht über Edom gemeint.
Das Gericht über Edom
Edom dürfte hier ähnlich wie Babel in biblischen Texten nach dem Exil Bild für eine bedrohliche Weltmacht sein. In der Bibel finden sich reale Zusammenhänge, die ein solches Bild entstehen lassen konnten. Die Edomiter scheinen Schwächen des Südreiches zur Ausdehnung ihres Gebiets genutzt zu haben. Spuren davon könnten sich in 1 Makk 5,65 und Ez 35,10 finden. Außerdem könnten sie an der Eroberung und Plünderung Jerusalems beteiligt gewesen sein. Der Prophet Obadja erinnert Edom an den Tag, „als du dabei standest, am Tag als Fremde sein (Jerusaems, H.B.) Heer abführten und Ausländer seine Tore betraten und und das Los über Jerusalem warfen, da wurdest du wie eine von ihnen“ (Ob 11). Joel verweist auf eine „Gewalttat an den Kindern Judas, in deren Land sie unschuldiges Blut vergossen“ (Joel 4,19).
In dem Gericht über Edom wie es Jes 34 schildert wird die ganze Menschheit gerichtet und die kosmische Ordnung aufgelöst. „Das ganze Heer des Himmels verfault …, sein ganzes Herr welkt dahin“, heißt es 34,4. Moderne LeserInnen mögen den Eindruck gewinnen, das Gericht werde als rachgieriges Schlachtfest geschildert. Despektierlich spricht Otto Kaiser von „Poesie Unterdrückter“. Sie treibe „oft schöne Blüten der Sehnsucht, aber eben solche, deren Farben und Leuchten allein von der Glut rachsüchtiger Leidenschaft stammt“1. Er kann sich offensichtlich kaum Vorstellungen davon machen kann, welche Erfahrungen des Leidens und der Erniedrigung in solchen Texten stecken. Genau darauf aber käme es an, diese Erfahrungen zu buchstabieren, les- und hörbar zu machen, wie sich in den apokalyptischen Texten der Schrei nach Rettung aus Herrschaft zum Ausdruck bringt. Vor allem haben aufgeklärte moderne Menschen keinen Grund, sich über solche Texte und den sog. jüdischen Gott der Rache zu erheben. Immerhin gehören doch zur Geschichte der aufgeklärten, kapitalistischen Moderne bisher noch nie dagewesene Katastrophen, die sich kein biblischer Autor hätte ausmalen können. Wenn in biblischen Texten von der Vergeltung Gottes die Rede ist, gilt es zudem ein zweifaches zu berücksichtigen. Zum einen: Es geht um Gerechtigkeit für die Opfer und dies in einem sprachlichen Zusammenhang, in dem deren Leiden nicht zum Verschwinden gebracht werden sollen. Zum zweiten: Die Vergeltung bleibt Gott vorbehalten und ist nicht von Menschen zu exekutieren. Solchen menschlichen Versuchungen stellt sich Paulus mit dem Verweis auf die Schrift entgegen: „Mein ist die Vergeltung, ich werde vergelten, spricht der Herr“ (Röm 12,19)2.
Von Hoffnung und neuem Anfang, von einer neuen Schöpfung, von einem neuen Himmel und einer neuen Erde lässt sich nicht mit dem Rücken zu den realen Katastrophen träumen und reden, die sich in der realen Geschichte ereignen und das Leben von Menschen zerstören und vernichten. Solche Leid- und Katastrophenerfahrungen stehen hinter den Schreckensbildern, die sich in apokalyptischen biblischen Texten finden. Wollte man sie ‚entmythologisieren‘, also zu einem mit dem modernen Weltbild nicht mehr vereinbaren Mythos erklären und eliminieren, würde man jene Katastrophen- und Leiderfahrungen zum Verschwinden bringen, die sich in ihnen Ausdruck verschaffen und den Gott der Gerechtigkeit und der Befreiung zu einem ‚lieben Gott‘ depotenzieren, der wie ein braver Hund ‚nichts tut‘.
Zum Zusammenhang unseres Textes bei Jesaja
Wie es also charakteristisch für die apokalyptischen Traditionen der Bibel ist, buchstabieren sie ihre Hoffnung auf Rettung und Befreiung im Angesicht der Katastrophen, die Israel und die ersten ChristInnen unter der Gewalt verschiedener Herrschaftssysteme zu erleiden haben. Dieser Zusammenhang von Gericht und Ankündigung der Rettung durchzieht auch das Buch Jesaja wie es die Schlussredaktion Jahre nach der Rückkehr aus dem babylonischen Exil gestaltet hat. Auf Weherufe über die einzelnen Völker (Jes 13 – 23) folgt die sog. Jesaja-Apokalypse (Jes 24 – 27). In ihr kommt zum Ausdruck, wie Israels Gott die Macht der Mächtigen zerbricht und den Schwachen und Armen Gerechtigkeit verschafft (vgl. vor allem Jes 26,5f). So kann Jesaja – nach der ersten Einheitsübersetzung von 1980 – Gott mit den Worten preisen: „Dein Gericht ist ein Licht für die Welt, die Bewohner der Erde lernen deine Gerechtigkeit kennen“ (Jes 26,9). Einen ähnlichen Zusammenhang finden wir auch in unseren Kapiteln 34 und 35. Auf des Gericht über Edom, das als pars pro toto für die im Unrecht versunkene Welt steht, folgt die Verheißung der Befreiung für Israel. Sie ist aber nicht mehr unmittelbar auf die Befreiung aus Babylon bezogen, sondern dürfte spätere Zusammenhänge aufgreifen, die unter dem Namen Edom angesprochen werden. D.h. das unter Ägypten und Babylon erlittene Leid wird nicht vergessen, sondern in unterschiedlichen, nicht mehr genau erkennbaren Situationen erinnert und darin die Hoffnung auf Rettung nicht aufgegeben, sondern neu buchstabiert. Darin sind Bilder und Formulierungen aus der gesamten Tradition des Jesaja aufgegriffen.
Zum Text im einzelnen
„Jubeln werden die Wüste und das trockene Land…“ (35,1f)
So beginnt unser Text und eröffnet zugleich die Perspektive der Verwandlung der Wüste in einen blühenden, weil wasserreichen Garten. Er ist das Gegenbild zu den Wüsten, die Israel in seiner Geschichte erleben musste. Der Weg der Befreiung führte durch die Wüste. Als „wüst und wirr“ und ohne das Licht des Himmels beschreibt Jeremia die Situation in Israel nach den Zerstörungen durch die Babylonier (Jer 4,23). Jetzt aber – so Jesaja – ist es damit vorbei. „Denn der Herr hat Zion getröstet, getröstet all ihre Ruinen. Er macht ihre Wüste wie Eden und ihre Öde wie den Garten des Herrn“ (Jes 51,3). „Die Herrlichkeit des HERRN“, „die Pracht unseres Gottes“ wird sichtbar in der Wiederbelebung in der Schöpfung. Sie ist zugleich Grundlage und Bild für die Wiederbelebung Israels. Wenn es heißt „Sie werden die Herrlichkeit des HERRN sehen“, dürften spätere Generationen als die aus dem Exil Heimgekehrten im Blick stehen, solche, die angesichts fortdauernder Erfahrungen von Unrecht und Leid, den Mut zu verlieren drohten. Sie sollen noch einmal auf die Erfahrungen derer sehen, die aus Babylon heimgekehrt sind. Hier hatte sich „die Herrlichkeit des HERRN“ doch sichtbar für „alles Fleisch“ (Jes 40,5) offenbart.
„Stärkt die schlaffen Hände…“ (35,3f)
Im Vertrauen auf Israels Gott, dessen Versprechen auch da gilt, wo die Hände schlaff werden und die Knie zu wanken beginnen, sollen die Verzagten aufgerichtet werden. Wie das Leben in die Vegetation zurückkehrt so wollen auch die Mutlosen im Volk neu belebt werden, sollen ihre schlaffen Hände und wankenden Knie gestärkt und gefestigt werden. Darauf zielen die Verben stärken, festigen, sagen, auftun, öffnen, springen, jubeln… Diese Belebung der Verzagten und Mutlosen erinnert daran, wie die im babylonischen Exil zerschlagenen Gebeine des Volkes durch Gottes Geist wieder lebendig werden (Ex 37). Gottes Gericht über diejenigen, die Israel zu Boden gedrückt und zerschlagen haben, wird Israel aufrichten. Darauf zu vertrauen kann Israel gerade angesichts der Katastrophen seiner Geschichte lernen. In diesen Situationen hat es den Schrei nach Gott nicht aufgegeben – gerade dann, wenn es ihn schmerzlich vermisst hat. Und so hat Israel sich nicht angepasst, ist widerborstig geblieben und hat darin die Hoffnung auf seinen Gott aufrecht gehalten.
„Dann werden die Augen der Blinden aufgetan…“ (35,4f)
Auch in einer neuen Situation der Verzagtheit und Mutlosigkeit soll für Israel gelten, was der zweite Jesaja als Aufgabe des Gottesknechtes beschrieben hatte: „Ich schaffe und mache dich … zum Licht der Nationen, um blinde Augen zu öffnen, Gefangene aus dem Kerker zu holen (Jes 43,6f). Das ist die Aufgabe des Gottesknechts für sein Volk Israel und wird zur Aufgabe Israels für die Völker. Genau daran knüpfen im Zweiten Testament die messianischen Verheißungen an. Als der im Gefängnis sitzende Täufer Johannes Boten zu Jesus geschickt hatte, um zu fragen, ob er der Messias sei, erhielten diese zur Antwort: „Geht und berichtet dem Johannes, was ihr hört und seht: Blinde sehen wieder und Lahme gehen; Aussätzige werden rein und Taube hören; Tote stehen auf und Armen wird das Evangelium verkündet“ (Mt 11,5).
„… denn in der Wüste sind Wasser hervorgegangen…“ (35,6bf)
Der Blick wird wieder auf die Wüste gelenkt. Sie ist voller Wasser. In ihr sprudeln Quellen, fließen Bäche und bilden sich Teiche. Damit hat sie ihren Schrecken für diejenigen verloren, die durch sie hindurch müssen. Selbst die Angst vor wilden Tieren ist kein Grund mehr, den Weg durch die Wüste zu meiden (V. 9). Im Gegensatz zu Edom, das „eine Aue für Schakale“ (Jes 34,13) sein wird, ein Ort, an dem „Wüstentiere … auf Hyänen“ (Jes 34,14) treffen, ist die Wüste in einen Ort des Lebens verwandelt, eine ‚neue Schöpfung‘ geworden.
„Dort wird es eine Straße, den Weg geben…“ (35,8ff)
Auf diese Straße kommt es unserem Apokalyptiker an. Sie erinnert an jenen Weg, den Gott seinem Volk aus Babylon durch die Wüste nach Jerusalem gebahnt hat (Jes 43,19). Er hat es getan wie er auf der Flucht aus Ägypten „einen Weg durchs Meer bahnt, einen Pfad durch gewaltige Wasser…“ (Jes 43,16). Der Exodus aus Ägypten und der Exodus aus Babylon sind so miteinander verbunden, dass die Erinnerung daran Israel immer wieder neu aus Verzagtheiten und Mutlosigkeit aufrichten und auf den Weg der Befreiung führen soll. Diesen Weg nennt man „den Heiligen Weg“ (35,8). Heilig ist, wer zum heiligen Gott der Befreiung gehört und sich „nicht anderen Göttern“ zuwendet, wer nicht sein will „wie Götter“ (Gen 3,5) und den Versuchungen durch die Fetische von Herrschaft widersteht3. Deshalb wird „kein Unreiner“ auf dem Weg der Befreiung „einherziehen“ (35,8).
„Die vom HERRN Befreiten kehren zurück und kommen zum Zion mit Frohlocken… (35,10)
Das Ziel des Weges ist Jerusalem, der Zion, an dem Gott mitten unter seinem befreiten Volk gegenwärtig ist. In Jes 62,10ff ist das Ziel des Weges als Einzug durch die Tore Jerusalems – beginnend mit den Vers „Zieht ein, zieht ein durch die Tore, bahnt dem Volk einen Weg“ – noch einmal in anschaulichen Bildern beschrieben. Nach Jes 25,7 wird die Hülle des Mantels der Trauer ebenso wie die „die Decke, die alle Nationen bedeckt“ (Jes 25,7) verschlungen, und mit ihnen auch der Tod und „GOTT, der Herr, wird die Tränen von jedem Gesicht abwischen“ (Jes 25,8). An diese Apokalypse des Jesaja knüpft die Apokalypse des Johannes an. Sie speist sich aus den Traditionen des Jesaja, die als Kraft zu widerständiger Hoffnung gegen die Gewaltverhältnisse lebendig geblieben sind. Johannes wendet sie im Bild des neuen Jerusalems als einem „neuen Himmel und einer neuen Erde“ (Offb 21,1) gegen die römische Gewaltherrschaft. Von diesem Jerusalem heißt es bei Johannes, der die Apokalyptik des Jesaja weiterführt:
„Seht die Wohnung Gottes unter den Menschen! Er wird in ihrer Mitte wohnen und sie werden sein Volk sein; und er, Gott, wird bei ihnen sein. Er wird alle Tränen von ihren Augen abwischen: Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal. Denn was früher war, ist vergangen. Er, der auf dem Throne saß, sprach. Seht, ich mache alles neu“ (Offb 21,3-5a).
Herbert Böttcher
1Otto Kaiser, Der Prophet Jesaja. Kapitel 13 – 39. ATD 18, Göttingen 1983, 281.
2Zur Frage nach dem sog ‚Gott der Rache‘ vgl. im Blick auf die Feindpsalmen Erich Zenger, Ein Gott der Rache? Feindpsalmen verstehen, Freiburg Basel Wien 1994.
3Vgl. die Auslegung zu Gen 2 und 3 zum Ersten Adventssonntag.