Das dritte Kapital des Evangeliums nach Johannes schließt mit einem letzten Zeugnis des Täufers für Jesus. Jetzt rückt Jesu Wirken in den Mittelpunkt der Erzählung. Der Ort der Handlung verlagert sich zunächst von Judäa nach Galiläa. Der Weg dorthin führt durch Samarien. Auf diesem Weg begegnet Jesus einer samaritanischen Frau. Von dieser Begegnung erzählt der nächste Abschnitt unseres Evangeliums.
1 Jesus erfuhr, dass die Pharisäer gehört hatten, er gewinne und taufe mehr Jünger als Johannes – 2 allerdings taufte nicht Jesus selbst, sondern seine Jünger – ; 3 daraufhin verließ er Judäa und ging wieder nach Galiläa. 4 Er musste aber den Weg durch Samarien nehmen. 5 So kam er zu einer Stadt in Samarien, die Sychar hieß und nahe bei dem Grundstück lag, das Jakob seinem Sohn Josef vermacht hatte. 6 Dort befand sich der Jakobsbrunnen. Jesus war müde von der Reise und setzte sich daher an den Brunnen; es war um die sechste Stunde. 7 Da kam eine Frau aus Samarien, um Wasser zu schöpfen. Jesus sagte zu ihr: Gib mir zu trinken! 8 Seine Jünger waren nämlich in die Stadt gegangen, um etwas zum Essen zu kaufen. 9 Die Samariterin sagte zu ihm: Wie kannst du als Jude mich, eine Samariterin, um etwas zu trinken bitten? Die Juden verkehren nämlich nicht mit den Samaritern. 10 Jesus antwortete ihr: Wenn du wüsstest, worin die Gabe Gottes besteht und wer es ist, der zu dir sagt: Gib mir zu trinken!, dann hättest du ihn gebeten und er hätte dir lebendiges Wasser gegeben. 11 Sie sagte zu ihm: Herr, du hast kein Schöpfgefäß und der Brunnen ist tief; woher hast du also das lebendige Wasser? 12 Bist du etwa größer als unser Vater Jakob, der uns den Brunnen gegeben und selbst daraus getrunken hat, wie seine Söhne und seine Herden? 13 Jesus antwortete ihr: Wer von diesem Wasser trinkt, wird wieder Durst bekommen; 14 wer aber von dem Wasser trinkt, das ich ihm geben werde, wird niemals mehr Durst haben; vielmehr wird das Wasser, das ich ihm gebe, in ihm zu einer Quelle werden, deren Wasser ins ewige Leben fließt. 15 Da sagte die Frau zu ihm: Herr, gib mir dieses Wasser, damit ich keinen Durst mehr habe und nicht mehr hierherkommen muss, um Wasser zu schöpfen! 16 Er sagte zu ihr: Geh, ruf deinen Mann und komm wieder her! 17 Die Frau antwortete: Ich habe keinen Mann. Jesus sagte zu ihr: Du hast richtig gesagt: Ich habe keinen Mann. 18 Denn fünf Männer hast du gehabt und der, den du jetzt hast, ist nicht dein Mann. Damit hast du die Wahrheit gesagt. 19 Die Frau sagte zu ihm: Herr, ich sehe, dass du ein Prophet bist. 20 Unsere Väter haben auf diesem Berg Gott angebetet; ihr aber sagt, in Jerusalem sei die Stätte, wo man anbeten muss. [1] 21 Jesus sprach zu ihr: Glaube mir, Frau, die Stunde kommt, zu der ihr weder auf diesem Berg noch in Jerusalem den Vater anbeten werdet. 22 Ihr betet an, was ihr nicht kennt, wir beten an, was wir kennen; denn das Heil kommt von den Juden. 23 Aber die Stunde kommt und sie ist schon da, zu der die wahren Beter den Vater anbeten werden im Geist und in der Wahrheit; denn so will der Vater angebetet werden. 24 Gott ist Geist und alle, die ihn anbeten, müssen im Geist und in der Wahrheit anbeten. 25 Die Frau sagte zu ihm: Ich weiß, dass der Messias kommt, der Christus heißt. Wenn er kommt, wird er uns alles verkünden. 26 Da sagte Jesus zu ihr: Ich bin es, der mit dir spricht. 27 Inzwischen waren seine Jünger zurückgekommen. Sie wunderten sich, dass er mit einer Frau sprach, doch keiner sagte: Was suchst du? oder: Was redest du mit ihr? 28 Die Frau ließ ihren Wasserkrug stehen, kehrte zurück in die Stadt und sagte zu den Leuten: 29 Kommt her, seht, da ist ein Mensch, der mir alles gesagt hat, was ich getan habe: Ist er vielleicht der Christus? 30 Da gingen sie aus der Stadt heraus und kamen zu ihm.
„Jesus erfuhr, dass die Pharisäer gehört hatten, er gewinne und taufe mehr Jünger als Johannes“ (Vers 1)
Johannes erzählt nicht wie lange Jesus in Judäa gewirkt hat, aber er benennt den Grund, warum er zurück nach Galiläa geht. Die Pharisäer haben mitbekommen, dass Jesus mehr Schülerinnen und Schüler um sich sammelte als Johannes. Dieser hatte bereits die Aufmerksamkeit der „Juden von Jerusalem“ (1,19) auf sich gezogen. Sie hatten „Priester und Leviten“ geschickt, um nach ‚dem Rechten‘ zu sehen. Wenn Jesus nach dem Eindruck der Pharisäer noch mehr Jünger „gewinne und taufe“ gerät er immer mehr in die Schusslinie. Dies spiegelt natürlich nicht die historische Situation Jesu und des Täufers wider, sondern entspricht der Zeit des Evangelisten Johannes, in der die Pharisäer nach der Zerstörung des Tempels und der Vertreibung der Juden aus Jerusalem zur stärksten jüdischen Gruppe geworden waren.
„ … allerdings taufte nicht Jesus selbst, sondern seine Jünger“ (Vers 2)
Johannes korrigiert mit dieser Bemerkung die Aussage, die er selbst in 3,22 gemacht hatte, nämlich dass Jesus selbst getauft habe. Nun heißt es, nicht er, sondern seine Jünger hätten getauft. Was hinter dem Gegensatz steckt, ist schwer zu klären: War in manchen Gegenden und Kreisen das Taufen umstritten? War die Taufe des Johannes von der Taufe Jesu nur schwer zu unterscheiden, rückte die messianische Gemeinde zu nahe an den Täufer, der ja nach Johannes ‚nur‘ Zeuge des Messias ist?
„Er musste aber den Weg durch Samarien nehmen.“ (Vers 4)
Jesus zieht also auf dem schnellsten Weg von Judäa nach Galiläa und kommt daher zwangsläufig durch das Gebiet Samarien. Mit der Bemerkung „er musste“ könnte nach Klaus Wengst darauf angespielt sein, dass der „Weg durch Samarien“ kein ‚Zufall‘ sondern Teil der Sendung Jesu ist, ganz Israel zu sammeln. Samarien war ein der jüdischen Tradition abgesondertes Gebiet. Dies kommt auch darin zum Ausdruck, dass, nachdem das Königtum mit der Unterwerfung unter Babylon sein Ende gefunden hatte, die Bücher Josua, Richter, Samuel und Könige als von der Geschichte des ganzen Volkes Israel erzählen, um eine Besinnung auf die eigene Tradition zu ermöglichen. In den später entstehenden Büchern der Chronik geht es nur noch um Judäa, also um das ehemalige Südreich, während der Norden mehr und mehr aus dem Blick gerät. Die ‚Trennung‘ zwischen Nord und Süd, die darin zum Ausdruck kommt, hat historische Gründe. Klaus Wengst erklärt dies im Blick auf die Rolle Samariens so:
„Die besondere Entwicklung Samariens gegenüber Judäa hat einerseits ihre Wurzeln in der imperialen assyrischen Politik, die in den zu Provinzen gemachten eroberten Gebieten durch Deportationen Mischbevölkerungen schuf – so auch in Samarien als dem Kernland des ehemaligen Nordreiches Israels nach dessen Zerstörung im Jahr 722 v. Chr. Zu einer akuten Trennung kam es aber erst in der frühen nachexilischen Zeit, als führende Jerusalemer Kreise beim Bau des Tempels und der Mauer Jerusalems die Bewohner Samariens von der Mitarbeit ausschlossen und sich von ihnen abgrenzten. Das führte … (unter Rückgriff auf Dtn 11 und 27 und Jos 8) mit Erlaubnis eines Satrapen Alexanders des Großen schließlich zum Bau eines eigenen Heiligtums der Samariter auf dem Berg Garisim bei Sichem. Die Samariter haben wie die Juden die Tora, die fünf Bücher Mose, als heilige Schrift; die weitere Entwicklung des Judentums, in der auch ‚die Propheten‘ und ‚die Schriften‘ kanonische Autorität gewannen, teilten sie nicht. Von der Makkabäerzeit an ‚tritt an die Stelle eines gemeinsamen Traditionsfundus gegenseitige Polemik‘. Die Feindseligkeiten erreichten ihren Höhepunkt, als Johannes Hyrkanos 129/128 v. Chr. den Tempel auf dem Berg Garisim zerstört. Wahrscheinlich 109 v. Chr. fügte er der Stadt Sichem dasselbe Schicksal zu. Auf der anderen Seite erzählt Josephus, dass – wahrscheinlich im Jahre 9 n. Chr. – Samariter im ganzen Tempelbereich in Jerusalem menschliche Knochen verstreuten, nachdem zu Beginn des Pessachfestes gewohnheitsgemäß kurz nach Mitternacht die Tempeltore geöffnet worden waren. Die Voraussetzungen für ein sehr gespanntes Verhältnis zwischen Juden und Samaritern auch im 1. Jh. n. Chr. und danach waren also gegeben. Dennoch darf man nicht von durchgehender Feindschaft ausgehen.“ Dennoch „ist es von den genannten Voraussetzungen her nicht verwunderlich, dass es immer wieder zu verbalen und auch handgreiflichen Auseinandersetzungen kam.“[1]
„So kam er zu einer Stadt in Samarien, die Sychar hieß und nahe bei dem Grundstück lag, das Jakob seinem Sohn Josef vermacht hatte. Dort befand sich der Jakobsbrunnen. Jesus war müde von der Reise und setzte sich daher an den Brunnen“ (Verse 5 und 6)
Dieser Ort ist für das folgende Geschehen von Bedeutung. Der Name Sychar ruft die Gegend von Sichem in Erinnerung. Sie war ein Geschenk Jakobs an Josef (Gen 48,2). „Darauf rief Jakob seine Söhne“, die Repräsentanten der 12 Stämme Israels zusammen, um sie vor seinem Tod zu segnen (Gen 49,1-27). Nach jüdischen Traditionen war hier auch die Jakobsquelle[2]. Für unseren Zusammenhang ist von Bedeutung, dass der Brunnen nicht vom Regen, sondern vom Grundwasser gespeist wird, also in ihm „lebendiges Wasser“ zu finden ist. An diesem Brunnen sind Jakob und Joseph und mit ihnen der Segen für ganz Israel mit „lebendigem Wasser“ verbunden. Verwurzelt in dieser Tradition begegnet Jesus der samaritanischen Frau. Aus dieser Begegnung wird ein neuer Anfang des Lebens für die Frau und das Verhältnis Samariens zu Israel als Ganzem. Für Israel kann eine neue Zeit beginnen, wenn es von dem „lebendigen Wasser“ trinkt, für das der Messias steht.
… es war um die sechste Stunde. Da kam eine Frau aus Samarien, um Wasser zu schöpfen. (Verse 6 und 7a)
Es ist also Mittagszeit. „So naheliegend es ist, dass ein Wanderer sich in der Mittagszeit an einem Brunnen niederlässt und ausruht, so ungewöhnlich ist das Wasserschöpfen um diese Tageszeit durch eine einzelne Frau.“[3] Wasserschöpfen und das Wasser zu dem Ort schleppen, an dem es gebraucht wurde, ist eine harte Tätigkeit, die in der Regel von armen Frauen verrichtet wurde. Solche Tätigkeiten, die ‚auf die Knochen‘ gingen wurden vor Sonnenaufgang verrichtet, nicht in der Mittagshitze.[4]
Jesus sagte zu ihr: Gib mir zu trinken! (Vers 7b)
Jesu Begegnung mit der samaritanischen Frau beginnt mit der Bitte: „Gib mir zu trinken!“ Das entspricht zum einen der Situation eines von der Reise müden und durstigen Menschen. Zugleich eröffnet es das sich daran anschließende Gespräch. Jesus hat Durst von der Reise und bittet die Person, die als erstes kommt, ihm zu trinken zu geben, da er selbst kein Schöpfgefäß dabei hat. Die Frau aus Samarien ist jedoch auf der Hut. Sie erkennt Jesus als Juden und weiß um die Situation. Während die JüngerInnen aus der Szene verschwinden, weil sie „in die Stadt gegangen“ waren, „um etwas zu essen zu kaufen“, kommen nun die Probleme im Verhältnis von Juden und Samaritanern zur Sprache. Das Problem:
Die Juden verkehren nämlich nicht mit den Samaritern. (Vers 9b)
Diese Erläuterung fügt Johannes noch für die Leserschaft hinzu. Jesus interessiert sich jedoch mehr für die Lebenssituation der Frau. Er will, dass die Menschen schon in ihrem Leben die Erfahrung des „ewigen Lebens“ machen und so Befreiung erfahren können. Daher sagt er:
Wenn du wüsstest, worin die Gabe Gottes besteht und wer es ist, der zu dir sagt: Gib mir zu trinken!, dann hättest du ihn gebeten und er hätte dir lebendiges Wasser gegeben. (Vers 10)
Zwischen dem Wissen um die „Gabe Gottes“ und Jesus, der zu der Frau sagt: „Gib mir zu trinken!“ besteht ein enger inhaltlicher Zusammenhang. Die Gabe Gottes ist „lebendiges Wasser“. Es hat in den Traditionen Israels eine zentrale Bedeutung. Sie zieht sich vom Paradies bis zum neuen Jerusalem. Das Paradies hat Gott als bewässerten Garten angelegt (Gen 2,10ff). Die Bewässerung ist die Voraussetzung seiner Fruchtbarkeit. Wenn Israel aus dem babylonischen Exil zurück geht und sich statt am Glanz königlicher Macht, wieder neu an Gottes Gerechtigkeit für die Armen als Grundlage des Zusammenlebens orientiert, gleicht es „einem bewässerten Garten, einer Quelle, deren Wasser nicht trügt“ (Jes 58,11). Israel macht wieder die Erfahrung, die es schon beim Exodus gemacht hatte. Seine „Stärke und sein Lied ist Gott, der HERR. Er wurde“ ihm „zum Heil“ (Jes 12,3). Dann gilt: „Ihr werdet Wasser freudig schöpfen aus den Quellen des Heils … Jauchzt und jubelt ihr Bewohner Zions; denn groß ist in eurer Mitte der Heilige Israels“ (Jes 12,4.6). Nach dem Propheten Jeremia ist das babylonische Exil die Konsequenz davon, dass Israel den Ruhm seines Gottes der Befreiung „gegen unnütze“, Macht und Herrschaft repräsentierende „Götter vertauscht“ (Jer 2,12) hatte. Damit hat es Gott „verlassen, den Quell des lebendigen Wassers“ (Jer 2,13).
Nach der Zerstörung Jerusalems liegt Israel wieder am Boden. Es ist zersplittert in unterschiedliche Gruppen. In dieser Situation gibt der Messias Jesus, in dem all das gegenwärtig ist, wofür Israels Gott steht, seinem Volk „lebendiges Wasser“ zu trinken, dessen Quelle sein Gott ist, der ihm im Messias Jesus begegnet. Wenn es aus dieser Quelle trinkt, kann es als Gottes Volk wieder neu gesammelt und aufgerichtet werden. Dann hat es Zugang zu einer Quelle, aus der eine neue Weltzeit, die Weltzeit der Befreiung fließt. Es ist die Quelle einer neuen neuen Schöpfung, einen neuen Himmels und einer neuen Erde (0ffb 21). Aus ihr strömt das „Wasser des Lebens“ (Offb 22,1). Von ihm lebt die neue Stadt Jerusalem.
Von diesem Wasser gibt Jesus seinem Volk zu trinken. Am letzten Tag des Laubhüttenfestes fordert Jesus die zum Fest Versammelten auf: „Wer Durst hat, der komme zu mir und es trinke, wer an mich glaubt! Aus seinem Inneren werden Ströme von lebendigem Wasser fließen“ (Joh 7,37). Mit der Schrift dürfte auf den Propheten Ezechiel angespielt sein. Er verbindet die Reinigung „von all euren Götzen“ damit, dass Gottes Geist das Innerste des Volkes bestimmt, so dass es wieder den Wegen der Befreiung folgen kann (Ez 36.25ff).
Bei Jesu Reden vom „lebendigen Wasser“ geht es nicht um die Unterscheidung zwischen realem Wasser und ‚eigentlichem‘ geistigen Wasser. Das „lebendige Wasser“ soll das gesamte Leben durchdringen, es aus einer Zeit der Unterdrückung in eine Zeit der Befreiung, aus einer Zeit des Todes in eine Zeit des Lebens verwandeln.
Sie sagte zu ihm: Herr, du hast kein Schöpfgefäß und der Brunnen ist tief; woher hast du also das lebendige Wasser? Bist du etwa größer als unser Vater Jakob, der uns den Brunnen gegeben und selbst daraus getrunken hat, wie seine Söhne und seine Herden? (Verse 11 und 12)
Die Frau führt das Gespräch voller Verständnis weiter. Sie will wissen, woher Jesus „das lebendige Wasser“ hat. Aus dem Brunnen kann er es offensichtlich nicht schöpfen wollen, denn er hat „kein Schöpfgefäß und der Brunnen ist tief“. Ahnungsvoll fragt sie weiter: „Bist du etwa größer als unser Vater Jakob…?“
Jesus antwortete ihr: Wer von diesem Wasser trinkt, wird wieder Durst bekommen; wer aber von dem Wasser trinkt, das ich ihm geben werde, wird niemals mehr Durst haben; vielmehr wird das Wasser, das ich ihm gebe, in ihm zu einer Quelle werden, deren Wasser ins ewige Leben fließt. (Verse 13 und 14)
Der antwortende Jesus verbindet zwei Aspekte mit dem Trinken von dem Wasser, das er gibt. Zum einen: Wer davon trinkt „wird niemals mehr Durst haben“. Es geht also nicht um ein Wasser, das nur eine vorübergehende Entlastung verschafft und dann geht es mit der ‚Normalität‘ der knechtenden Verhältnisse weiter. Dieses Wasser zielt auf deren Überwindung. Zum anderen: Dieses Wasser wird „zu einer Quelle werden, deren Wasser ins ewige Leben fließt“. ‚Ewiges Leben‘ ist für Johannes nicht einfach Leben jenseits des Todes, sondern ein Leben, das jetzt schon vorwegnimmt, was jenseits der Grenzen des Todes endgültigen Bestand haben wird. Deshalb verändert das „lebendige Wasser“, das „ins ewige Leben fließt“, jetzt schon das Leben und die Verhältnisse, denen es unterworfen ist.
Im Blick auf das Leben der Frau gesagt: „Lebendiges Wasser“ soll dazu führen, dass sie nicht immer wieder neu unter der Last ihrer Sklavinnentätigkeit zum Brunnen kommen muss, um Wasser für die ‚Herrschaften‘ herbei zu schleppen. Mit der Sklaverei und der mit ihr verbundenen Schinderei soll es ein Ende haben. Entsprechend bittet die Frau:
„Herr, gib mir dieses Wasser, damit ich keinen Durst mehr habe und nicht mehr hierherkommen muss, um Wasser zu schöpfen!“ (Vers 15)
Keinen Durst mehr haben heißt für sie: Ende mit der ganzen Plage der Sklaverei, die sie dazu zwingt, zur Mittagshitze für Wasser zu sorgen. Damit wird ‚ewiges Leben‘ schon vor dem Tod Wirklichkeit. Und so kann die Frau ihren Krug zurück lassen.
Er sagte zu ihr: Geh, ruf deinen Mann und komm wieder her! Die Frau antwortete: Ich habe keinen Mann. Jesus sagte zu ihr: Du hast richtig gesagt: Ich habe keinen Mann. Denn fünf Männer hast du gehabt und der, den du jetzt hast, ist nicht dein Mann. Damit hast du die Wahrheit gesagt. (Verse 16 bis 18)
Mit dem Zurücklassen des Krugs ist der Prozess der Befreiung noch nicht zu Ende. Er geht weiter mit Jesu Aufforderung: „Ruf deinen Mann…“ Es geht nicht darum, das moralische Versagen der Frau darzustellen, damit sie auch das ‚hinter sich lassen‘ kann. Das Thema bleibt weiter die Versklavung unter Fremdherrschaft, jetzt in Gestalt männlicher Fremdherrschaft. Es geht um die sog. Leviratsehe, eine Vorschrift, die Frauen dazu zwang, immer wieder neue Ehe einzugehen, um Männern einen Sohn zu gebären in Fällen, in denen die Frau vor der Geburt eines Sohnes gestorben war. Damit sollte die Erbfolge gesichert werden[5] und zugleich das ‚Weiterleben‘ des Mannes in seinen männlichen Nachkommen. Dass solche ‚Kettenehen‘ von Frauen eingegangen wurden, dürfte auch an dem wirtschaftlichen und sozialen Druck gelegen haben, dem sie ausgesetzt waren, wenn sie ‚ohne Mann‘ überleben wollten. „Diese Lage erzwingt auch … ein nichteheliches Arbeits- und Sexualverhältnis mit einem Mann, der der Frau nicht einmal mehr die gewisse Absicherung durch einen Ehevertrag gibt“[6].
Ton Veerkamp verweist auf einen möglichen Zusammenhang mit der Geschichte Israels. Wenn man davon ausgeht, dass sich die Frau als Tochter Jakobs versteht, dann kommt die Dimension Samariens wieder ins Spiel. Dann kann man auch fragen, welche Herrscher Samarien gehabt hat. „‘Männer’“, so Ton Veerkamp, „sind in Joh 4 nicht irgendwelche individuellen Gatten, sondern ba´alim, Herrscher, Könige, vor denen das Volk von Schomron sich verneigen mußte, die Könige Assurs und Babels, die Könige Persiens und der Griechen aus dem Süden (Ägypten) und dem Norden (Syrien), die Könige Jehudas, ihre Ordnungen, ihre Götter. Die Frau sagt: ‚Ich habe keinen Mann‘, und das heißt: ‚Ich erkenne die faktische Herrschaft, der wir uns zu beugen haben, nicht an. Ich vergesse nicht mein Volk und nicht das Haus meines Vaters!“[7]
Unter diesen Königen war die Tora nur eingeschränkt lebbar. „Das Ganze ist jetzt auf die Herrschaft von dem, der ‚kein Mann‘ ist, hinausgelaufen, die Herrschaft Roms; da ist gar keine Tora mehr möglich, weder für die Jehudim, noch für die Schomronim, wie wir hören werden.“[8] Da viele Namen in den Evangelien über die Personen hinausweisen, ist eine solche Lesart sicher nicht vorschnell abzutun.
Die Frau sagte zu ihm: Herr, ich sehe, dass du ein Prophet bist. (Vers 19)
Jesus erweist sich für die Frau darin als Prophet, dass er sensibel ist für ihre Leiden, es im Zusammenhang erlittenen Unrechts deutet und ihr mit einer befreienden Perspektive begegnet.
Unsere Väter haben auf diesem Berg Gott angebetet; ihr aber sagt, in Jerusalem sei die Stätte, wo man anbeten muss. (Vers 20)
Die Frau spricht Jesus auf das an, was sie verbindet: „Unsere Väter“ und der Gott der Väter. Mit ihnen steht in jüdischen Traditionen auch der Berg Gerazim in Verbindung. Nach dem Deuteronomium spricht Mose dort den Segen über das Volk, das in das ‚gelobte Land‘ einzieht (Dtn 11,29; 27,12). In dieser Perspektive kommt die Frau auf das zu sprechen, was Samaritaner und Juden trennt: der Tempel in Jerusalem, an dem Gott angebetet werden soll. Dass sie Jesus als Prophet ansprechen kann, entspricht der gemeinsamen Tradition, das Bestehen auf Jerusalem als Ort der Anbetung trennt Juden und Samaritaner.
Jesus sprach zu ihr: Glaube mir, Frau, die Stunde kommt, zu der ihr weder auf diesem Berg noch in Jerusalem den Vater anbeten werdet. (Vers 21)
Mit der Formulierung „ihr werdet…“ spricht Jesus die Frau als Repräsentantin ihres samaritanischen Volkes an. Die kritische Haltung gegenüber dem Tempel war ja bereits in der Szene von Jesu Tempelreinigung thematisiert worden (Joh 2,13ff). Von daher lässt sich auf der Ebene der Erzählung fragen, ob denn der „zu einer Markthalle“ (2,16) gemachte Tempel ein adäquater Ort der Anbetung von Israels Gott sein kann. Zudem ist in der Zeit, in der Johannes erzählt, der Tempel bereits zerstört. Weder der Gerazim noch Jerusalem ist ein konkreter historischer Ort, an dem Israels Gott angebetet werden kann. Vor diesem Hintergrund entwickelt Jesus seine messianische Alternative, die Judäern und Samaritanern einen Ort in der Geschichte eröffnet.
Ihr betet an, was ihr nicht kennt, wir beten an, was wir kennen; denn das Heil kommt von den Juden. (Vers 22)
Ihr habt kein Bewusstsein von dem, was ihr tut. So ließe sich der erste Teil des Satzes zusammenfassen. Im zweiten Teil, in dem es heißt: „Das Heil kommt von den Juden“ positioniert sich Jesus nicht als Judäer gegen die Samaritaner, sondern beruft sich auf die ihnen gemeinsame Perspektive der jüdischen Befreiungsgeschichte. Das Heil kommt aus den ihnen gemeinsamen Traditionen der Befreiung und des darauf gründenden Bundes gegenseitiger Treue. Gott wird da sein auf den Wegen der Befreiung und das Volk soll seinem Gott und seinem Weg der Befreiung treu bleiben. Auf den Wegen von Exodus und Bund haben die Juden ihren Gott kennen gelernt. Sie wissen um ihn, weil es eben nicht um einen unbekannten, einen ‚anonymen‘ Gott geht, sondern um Gott, der Israel erwählt hat und einen Bund mit ihm geschlossen und sich ihm so in einer gemeinsamen Geschichte bekannt gemacht hat. Gott und sein Volk gehören unlösbar zusammen. Rettung gibt es von Gott her, der sich in Partnerschaft an dieses Volk gebunden hat. In dieser Weise gibt es auch durch Jesu Wirken ‚Rettung von den Juden her’, da „der in ihm präsente Gott kein anderer ist als der Gott Israels“[9].
Wenn Jesus von „wir kennen“ spricht, dann spricht er sowohl aus der Perspektive der Juden und des Erbes der Befreiung, das sie verbindet, als auch aus der Perspektive der messianischen Gemeinde. In ihr ist mit ihrem Bekenntnis zu dem jüdischen Messias Jesus das Heil lebendig, das „von den Juden kommt‘; da der in ihm präsente Gott kein anderer ist als der Gott Israels.“[10]
Die messianische Gemeinde bezieht also den Satz: „Das Heil kommt von den Juden.“ zugleich auf einen bestimmten Juden: den jüdischen Messias aus Nazaret. Zur Zeit des Johannes ist dieser mit den Juden und Jesus verbundene Begriff ‚Heil‘/Rettung/Befreiung ein politisch höchst brisanter Begriff; denn der Kaiser in Rom beansprucht für das Imperium der Heilsbringer/Retter/Befreier zu sein. Dieser Anspruch verbindet sich mit der Anbetung, der Proskynese, wörtlich damit, vor dem Kaiser zu Boden zu fallen, sich gleichsam vor ihm ‚zum Hund‘ (kynos) zu machen.
Aber die Stunde kommt und sie ist schon da, zu der die wahren Beter den Vater anbeten werden im Geist und in der Wahrheit; denn so will der Vater angebetet werden. Gott ist Geist und alle, die ihn anbeten, müssen im Geist und in der Wahrheit anbeten. (Verse 23 und 24)
‚Die Stunde‘ ist bei Johannes die Stunde der Kreuzigung des Messias und zugleich seiner Verherrlichung durch Gott. In der ‚Stunde‘ seiner Hinrichtung am Kreuz der Römer, „übergab er den Geist“ (Joh 19,20) dem Vater. Sein Weg der Solidarität mit den Opfern römischer Herrschaft und der Treue zu Israels Gott im Widerspruch gegenüber Rom war an sein Zeil gekommen. In diesem Leben ist der Geist, die ‚Inspiration‘ von Israels Gott der Befreiung und der Treue zu denen, die diesen Weg gehen, lebendig. In diesem Geist kann die Macht Roms gebrochen werden. Genau dies hat Israels Gott in der Auferweckung seines von Rom hingerichteten Messias deutlich gemacht. Darin öffnet sich ein Weg der Befreiung für Judäer wie für Samaritaner. Dies wiederum findet seinen Ausdruck darin, dass der Auferstandene, seine JüngerInnen anhaucht und sie den Geist empfangen lässt, der sein Leben bis hinein in seinen Tod am Kreuz der Römer geprägt hat.
In dieser Perspektive ist die im Namen Jesu versammelte messianische Gemeinde „Ort der Anbetung Gottes“[11]. In ihr ist der Geist lebendig, den Jesus in seinen Abschiedsreden verheißen hat, der Geist, von dem er gesagt hatte: Er „wird euch alles lehren und an alles erinnern, was ich euch gesagt habe“ (Joh 14,25). Diesen „Geist der Wahrheit“ kann „die Welt“, die römische Weltordnung, „nicht empfangen“ (14,15). Er ist mit der Herrschaft Roms nicht in Einklang zu bringen, sondern „Beistand“ (Joh 14,26) für diejenigen, die ihr widerstehen.
Der neue Ort der Anbetung ist damit zugleich ein neuer sozialer Ort, ein Raum, in dem die erfahrene Befreiung gelebt werden kann. So steht die samaritanische Frau für all diejenigen, die als JüngerInnen in den Gemeinden einen befreienden Raum des Glaubens und Lebens gefunden haben. Hier erfahren sie, dass Jesus „lebendiges Wasser“ ( V10) gibt. Der Raum der Gemeinde ist als Raum derer, die dem Messias Jesus folgen der Raum, in dem mitten in einer Welt des Todes „ewiges Leben“ erfahren werden kann.
Die Frau sagte zu ihm: Ich weiß, dass der Messias kommt, der Christus heißt. Wenn er kommt, wird er uns alles verkünden. Da sagte Jesus zu ihr: Ich bin es, der mit dir spricht. (Verse 25 und 26)
Die Frau weiß Bescheid: Damit das alles geschehen kann, muss der Messias kommen. Dann kann der Konflikt zwischen Juden und Samaritern beendet und Israel als Ganzes in der gemeinsamen Erinnerung an „das Heil“, das „von den Juden kommt, aufgerichtet werden. Auf diese Endzeiterwartung der Frau, antwortet Jesus zum ersten Mal mit den Worten „ego eimi“, „ich bin es“, „ich werde da sein“. Johannes gebraucht diese Wendung 24 Mal in seinem Evangelium und erinnert damit an die Offenbarung des Namens Gottes in Ex 3,14. Der Name Gottes ist mit dem Versprechen verbunden, er werde da sein auf Israels Wegen der Befreiung. Was die Frau für die Endzeit erwartet, ist in Jesus schon da, in dieser Stunde. Wer diese Worte annimmt, für den fängt wirklich ein neues Leben an. Das neue beginnt da, wo die Blockaden im Kopf überwunden werden, wo nicht mehr Juden und Samaritaner zählen, sondern lebendiges Wasser fließt für alle, die im Messias aus Israel den Retter der Welt erkennen.
Inzwischen waren seine Jünger zurückgekommen. Sie wunderten sich, dass er mit einer Frau sprach, doch keiner sagte: Was suchst du? oder: Was redest du mit ihr? (Vers 27)
Luise Schottroff hat darauf aufmerksam gemacht, dass eine Interpretation die Jesus im Kontrast zu den Rabbinen sieht, die angeblich nicht mit Frauen reden, zu den alten Topoi „christlichen Antijudaismus“ gehöre[12]. Wenn sich die JüngerInnen wundern, dass Jesus mit dieser Frau redet, wundern sich die JüngerInnen nicht darüber, „daß Jesus mit einer Frau redet“[13], sondern darüber, dass er angesichts seiner Erschöpfung überhaupt noch in der Lage ist zu reden. Auch in der Erschöpfung sucht er eine Begegnung, in der diese Frau die Erfahrung der Befreiung machen kann.
Die Frau ließ ihren Wasserkrug stehen, kehrte zurück in die Stadt und sagte zu den Leuten: Kommt her, seht, da ist ein Mensch, der mir alles gesagt hat, was ich getan habe: Ist er vielleicht der Christus? Da gingen sie aus der Stadt heraus und kamen zu ihm. (Vere 28 bis 30)
Bevor die JüngerInnen zurück gekehrt sind, ist alles gesagt und geschehen. Die Frau hat von dem ‚lebendigen Wasser‘ zu trinken bekommen. Nun kann sie den Wasserkrug stehen lassen. Sie kann sich von ihrer Vergangenheit trennen: von der Plage des Wasserschöpfens sowie aus ihrer Verkettung an die Zwangsehen. Sie geht zurück in die Stadt und erzählt den Leuten von ihrer Erfahrung der Befreiung. Sie beginnt selbst zu einer ‚Quelle lebendigen Wassers‘ zu werden, aus der andere trinken können. Am Ende findet sie in der messianischen Gemeinde einen neuen realen Ort, an dem sie aufgehoben ist und leben kann.
Zusammengestellt von Alexander Just
[1] Wengst, Klaus, Das Johannesevangelium. 1. Teilband: Kapitel 1-10, Stuttgart 2000 (Theologischer Kommentar zum Neuen Testament Bd. 4), 153f. [Wengst, Johannesevangelium]
[2] Vgl. Ebd., 155.
[3] Wengst, Johannesevangelium 155.
[4] Vgl. Luise Schottroff, Die Samaritanerin am Brunnen (Joh 4), in: Auf Israel hören. Sozialgeschichtliche Bibelauslegungen mit Beiträgen von Frank Crüsemann, Jürgen Ebach, Philipp Potter, Luise Schottroff, Dorothee Sölle, Martin Stöhr, Marie-Theres Wacker, Luzern 1992, 115 – 132, hier: 122. [Schottroff, Die Samaritanerin]
[5] Vgl. Schottroff, Die Samaritanerin 119-122.
[6] Ebd. 121.
[7] Veerkamp, Abschied 80.
[8] Veerkamp, Abschied 80.
[9] Wengst, Johannesevangelium 165.
[10] Wengst, Johannesevangelium 165.
[11] Wengst, Johannesevangelium 166.
[12] Schottroff, Die Samaritanerin 123f.
[13] Ebd. 124.